Foto: Joao Tzanno | unsplash
Macht, Geschichte, Demut – Die Misere der Ökonomik
Text: Lukas Kiemele
Angus Deatons in der März-Ausgabe des angesehen Wirtschaftsmagazins Finance & Development erschienener Artikel „Rethinking my Economics“ liest sich wie ein Bekenntnis. Der Inhaber des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften 2015 stellt darin liebgewonnene Überzeugungen des ökonomischen Mainstreams in Frage. Möglicherweise beginnt er aus diesem Grund mit der vorsichtigen Ankündigung, es könne eine gute Sache sein, die eigenen Ansichten zu hinterfragen, wenn sich die Umstände ändern. Trotz der Schwere dieses Umdenkens handelt es sich nicht um einen weiteren Nobelitis-Fall – die Erscheinung, dass Nobelpreisträger*innen meist spät in ihrem Leben plötzlich merkwürdige, unwissenschaftliche Ideen vertreten –, wenngleich so manche neoliberale Ökonomin das meinen könnte.
Machtblindheit
Der emeritierte Princeton-Ökonom nimmt sein Fach nicht in Schutz. Er urteilt, dass es sich trotz seiner Erfolge heute in einem Durcheinander befinde. Ökonom*innen haben die Finanzkrise nicht vorhergesagt, sie haben mit ihrem Glauben an die Wirksamkeit der Märkte vielleicht sogar zu ihr beigetragen, urteilt Deaton. Dies gelte insbesondere von den Finanzmärkten, deren Struktur und Auswirkungen Ökonom*innen entgegen ihrer Selbsteinschätzung nur unzureichend verstanden hätten. Auch bei den jüngsten Ereignissen bestehe die Hauptübereinstimmung der Expert*innen vor allem darin, dass die anderen falsch liegen.
Wie viele seiner Kolleg*innen, schreibt Deaton, befinde er sich nun in einem unangenehmen Prozess des Sinneswandels, der die seit Jahrzehnten kaum hinterfragten Handlungsweisen und einige der Kernüberzeugungen der Ökonomik betriffe – Überzeugungen, die die Themen der Macht, der Ethik, der Effizienz, der Methoden seines Faches betreffen und auf den Prüfstein gelegt werden müssten.
An erster Stelle betont Deaton die Bedeutung der Macht in der Analyse des modernen Kapitalismus. Die Betonung der Vorzüge freier, wettbewerbsorientierter Märkte durch den wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream lenke von dieser Analyse ab. Die Festlegung von Preisen und Löhnen, oder Entscheidungen über den technischen Wandel von Gesellschaften, sind keine neutralen, sich automatisch einpendelnden Prozesse. Ihnen liegen hegemoniale Kämpfe, die interessengeleitete Beeinflussung der Politik durch Unternehmen und Lobbyverbände sowie die Aushandlung juristischer Spielregeln zugrunde. Darum sei es ohne eine Analyse der Macht für die Ökonomie schwer, so Deaton, das Phänomen der Ungleichheit oder ähnliche Erscheinungen im modernen Kapitalismus überhaupt zu verstehen.
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Geschichtsvergessenheit
An zweiter Stelle konstatiert Deaton der modernen Ökonomik Geschichtsvergessenheit. Anders als es für klassische Ökonomen, wie Adam Smith, Karl Marx bis hin zu Milton Friedman der Fall war, seien Ethik, Philosophie und die Frage nach dem guten Leben heute längst aus dem Fragehorizont seines Faches aussortiert worden. Aus der Ökonomik ist ein technokratisches Projekt geworden, das sich seiner eigenen Ziele und Möglichkeiten nicht bewusst ist. Alles, was sie anzubieten hat, wenn man hier auf eine Antwort besteht, so Deaton, sei die Formel eines einkommensbezogenen Utilitarismus. Wohlergehen und Lebensqualität werde selbstverständlich mit Geld und Konsum gleichgesetzt. Besonders deutlich wird dies am Wechselspiel der klassischen psychologischen Glücksforschung mit den kalkulatorischen Annahmen der Ökonomie. Glück wird unter die Abwägung des positiven und negativen Affekts einer Person zusammengefasst. Auch die Anfänge der Glücksforschung prägte die Ökonomie – im Vordergrund stand lange Zeit allein die Frage, wie das Haushaltseinkommen mit dem Glücksempfinden zusammenhängt.
Mit der Geschichtsvergessenheit geht an dritter Stelle der Realitätsverlust der Ökonomie einher. Der oberste Maßstab der Ökonomie laute Effizienz. Es bestehe Konsens darüber, dass Ökonom*innen sich zwar um Effizienz, nicht aber um Fragen gerechterer Verteilung zu kümmern haben. Mit bemerkenswerter Klarheit formuliert Deaton eine zwar wenig überraschende, aber von Ökonom*innen gerne ausgesparte Wahrheit: Dass ökonomische „Empfehlungen, wenn Effizienz mit Umverteilung von unten nach oben einhergeht – was häufig, aber nicht zwangsläufig der Fall ist –, kaum mehr als eine Lizenz zum Plündern sind“. (Übersetzung L. K.)
Entscheidenden Anteil am Realitätsverlust der Ökonomik hätten ihre Methoden. Die Ökonomie sei einer empirischen Engstirnigkeit für lokale, mikroökonomische Effekte verfallen, die den Blick für das große Ganze längst verloren hat. Deaton geht in seinem Urteil so weit, dass Historiker*innen durch ihr Verständnis von multidirektionaler Kausalität und geschichtlicher Kontingenz oft besser als Wirtschaftswissenschaftler*innen in der Lage seien, wichtige ökonomische Mechanismen zu identifizieren, die plausibel und interessant sind und über die es sich lohne nachzudenken.
Demut
Dies alles kulminiert in einem abschließenden Punkt: Demut. Deaton gesteht ein, dass Ökonom*innen oftmals allzu sehr von der Richtigkeit und Alternativlosigkeit ihrer Position überzeugt seien. Er geht mit gutem Beispiel voran und macht seinen Sinneswandel publik. Heute sei er skeptisch, etwa gegenüber den glorifizierten Vorteilen des Freihandels für die amerikanischen Arbeitnehmer*innen und gegenüber der Behauptung, die Globalisierung sei für den enormen Rückgang der weltweiten Armut verantwortlich. Auch die Rolle der Gewerkschaften, die er wie viele Ökonom*innen lange Zeit als Ärgernis empfand, sehe er angesichts der Macht von Megakonzernen und Konzernlobbyismus in einem anderen Licht. Jetzt sehe er ein, dass die Zerschlagung der Gewerkschaften auch zur Zerstörung des Gemeinwesens und zum wachsenden Populismus beiträgt.
Ein Bekenntnis in Zeiten der Misere der Ökonomie? Deaton schließt zuletzt mit moderaten Tönen: Wirtschaftswissenschaftler*innen könnten davon profitieren, wenn sie sich stärker mit Philosophie, Geschichte und Soziologie auseinandersetzen – ein Gedanke, der den Begründer*innen der modernen Ökonomik immer selbstverständlich war. ■
Lukas Kiemele ist Autor und Produzent des Podcasts „Philosophie im 21. Jahrhundert„. Zuletzt erschienen: Ich, die Welt und der Sinn von allem. Ein Kompass in wirren Zeiten (Patmos, 2022).
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