Illustratioon: DMBO – Studio für Gestaltung

 

WAS ZÄHLT?

Editorial zu Ausgabe 2/2024

Was zählt? Das Wir. Klar, oder? Denn wir werden nicht nur im Bauch der Mutter groß, sondern auch im Bauch der Gesellschaft. Familie, Krabbelgruppe, Kindergarten, Schule, Ausbildung, Vereine – ein Ich ist nicht einmal denkbar ohne das Wir. Im Wir finden wir Orientierung, suchen Anerkennung, positionieren uns in der sozialen Ordnung.

Gleichwohl geht es heute darum, sich von der gesellschaftlichen Normalität, vom dominanten Wir, zu distanzieren. Es geht darum zu begreifen, dass das, was heute unter Individualität und unter Freiheit verstanden wird, zur kollektiven Unterordnung unter den Status quo – also das, was gesellschaftlich zählt – geführt hat. Und der ist total verrückt. So ist es beispielsweise vollkommen normal, im Beruf dem allgemeinen Wachstumsdogma Folge zu leisten; es ist normal, an alten Rollenbildern festzuhalten; es ist normal, nicht auf übertriebenen materiellen Wohlstand zu verzichten; es ist normal, sich in den naiven Glauben zu flüchten, die Technik wird uns retten – oder zu glauben, es gäbe ein Zurück in die scheinbar heile Welt der 1980er-Jahre; es ist normal, sich dem Eigentumsgott zu unterwerfen, dessen Anhängerschaft den Rückzug ins Private predigt; es ist normal, dem Zwang Folge zu leisten, das Leben unbedingt genießen zu müssen, was zur Folge hat, dass jeglicher Genuss auf der Strecke bleibt. Und es wird gerade normal, laut „Freiheit“ zu rufen und eigentlich nur hören zu wollen, was man tun soll.

Was wirklich zählt, ist also, die Fähigkeit zu erwerben und den Mut aufzubringen, die Normalität zu hinterfragen und sich gegebenenfalls von ihr zu verabschieden. Also: Befreit euch. Von dem, was gerade zählt – und zählt selbst nach. Damit wir eine Zukunft haben.

Ihr Frank Augustin
Chefredakteur, faugustin@agora42.de