Mehr soziale Experimente wagen? | Robert Ziegelmann

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Mehr soziale Experimente wagen?

Text: Robert Ziegelmann

In der noch jungen Bundesrepublik forderte die Union „Keine Experimente!“ Angesichts der drohenden Klimakatastrophe und gesellschaftlicher Verwerfungen scheint nunmehr auch das konservative Lager die Notwendigkeit von Veränderung einzusehen. Was aber sind soziale Experimente und wie können wir sie angehen?

„Keine Experimente!“ Auf dem berühmten Plakat von 1957 schaut Bundeskanzler Konrad Adenauer streng und skeptisch. Ein Auge grimmig verengt, das andere von der hochgezogenen Braue geöffnet, blickt er auf die Überlegungen der damaligen SPD, durch einen Austritt aus der NATO den Weg für eine rasche Wiedervereinigung Deutschlands zu bereiten. Die Mimik sagt alles: Solche Pläne verdienen nicht einmal ernstliche Entrüstung, kaum ein müdes Lächeln.

1957 führte diese Strategie zum besten je bei einer Bundestagswahl erreichten Ergebnis; mit 50,2 Prozent erhielten die Unionsparteien die absolute Mehrheit. In Erinnerung daran wärmte kürzlich die CDU in Sachsen-Anhalt den Adenauer-Slogan für die Landtagswahlen auf und plakatierte: „Jetzt ist nicht die Zeit für politische Experimente.“ Kaum denkbar, dass die Union es auf Bundesebene mit derselben offensiven Realitätsverleugnung versuchen wird. Denn dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, hat sich selbst bei den berufsmäßigen Bewahrer*innen herumgesprochen. „Keine Experimente“ – angesichts der nicht nur ökologisch drohenden Abgründe darf die Adenauer-Maxime heute kaum als konservative Strategie gelten.

Im freien Raum der Geschichte

Soziale Experimente erscheinen also unerlässlich. Die nachhaltigeren Lebensformen, von denen auch Konservative sehr wohl wissen, dass sie an der Zeit sind, werden wir nicht im Lehn- oder Zeichenstuhl erfinden. Utopische Spekulationen und philosophische Abwägungen können hier einen Beitrag leisten; die Praxis ersetzen können sie nicht. Schwierigkeiten und Hindernisse lassen sich nicht vollständig im Denken antizipieren. Sie zeigen sich erst im praktischen Vollzug und auch nur im gemeinsamen politischen Handeln lässt sich aus ihnen lernen.

Diese Betonung der Praxis gehört zu den Grundsätzen der kritischen Theorie, die seit den 1930er-Jahren am Frankfurter Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Max Horkheimer entwickelt wurde. In Absprache mit Horkheimer stellte Walter Benjamin 1938 das aus Nazi-Deutschland exilierte Institut in der konservativen Zeitschrift Maß und Wert vor. Im Bemühen, das bürgerliche Publikum nicht durch marxistische Terminologie abzuschrecken, fand Benjamin treffende Formulierungen. Kritische Theorie charakterisierte er als eine Wissenschaft, die „nicht nur das im abgeschiedenen Raume des Laboratoriums sondern auch das im freien der Geschichte bewerkstelligte Experiment in ihren Horizont einbezieht“.

Diese Formulierung kann irritieren. Die Unterschiede zwischen dem ‚abgeschiedenen Raume des Laboratoriums‘ und dem ‚freien Raume der Geschichte‘ lassen einen zögern, in Letzterem Experimente anstellen zu wollen. Im Labor können Faktoren isoliert und das Risiko des Scheiterns auf intellektuelle Enttäuschung beschränkt werden. In der realen Geschichte geht beides nicht. Hier handelt es sich nie um ein harmloses Spiel von Versuch und Irrtum, sondern um die Existenz von Menschen, die nicht beliebig viele, sondern nur einen einzigen Versuch haben, ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen. Das Leben von Menschen darf in diesem Sinne nicht zum Glied einer Versuchsreihe degradiert werden.

Jedoch kann Benjamins Leben selbst als Experiment begriffen werden. An keinen Ort, keine Institution, keine Konvention ließ er sich dauerhaft binden. Auch deshalb sind nicht nur seine Schriften, sondern alle Dokumente seines Lebens so unerschöpflich faszinierend und lehrreich. Aus der Perspektive eines solchen existenziellen Experimentalismus mag das bei den meisten Menschen vorherrschende Bedürfnis nach stabilen Lebensverhältnissen engstirnig erscheinen. Dieses Bedürfnis zu belächeln und zu missachten, hat mit progressiver Politik aber nichts zu tun. Tatsächlich plädierte Benjamin auch nicht dafür, soziale Experimente zu initiieren, Versuche am lebenden Menschen gewissermaßen. Mit dem Experiment im freien Raum der Geschichte meinte er vielmehr ein Experiment, das immer schon begonnen hat.

Soziale Experimente sind nicht etwas, das wir machen oder unterlassen könnten. Wir haben nur die Wahl, die Experimente, in denen wir leben, als solche zu behandeln oder die Augen zu verschließen vor dem experimentellen Charakter all unserer Lebensformen.

Wo es knirscht und wehtut

Was ändert sich, wenn wir gemäß Benjamins Forderung das im freien Raum der Geschichte bewerkstelligte Experiment in unseren Horizont einbeziehen, also die bestehenden sozialen Praktiken als Experimente betrachten? Denken wir dafür einmal an den Chemieunterricht zurück. Beliebt war das Fach, weil man Sachen anzünden, explodieren und in bunten Flammen aufgehen lassen durfte. Die darauf folgende Ernüchterung hatte einen Namen: Versuchsprotokoll. Kritische Gesellschaftstheorie spielt gewissermaßen die Rolle der Chemielehrerin. Sie ermahnt uns dazu, die sozialen Experimente nicht nur als buntes Treiben zu betrachten, sondern ein Protokoll anzufertigen. Ebenso ratlos wie damals in der Schule stehen wir dann vor der Frage: Was versuchen wir mit dem jeweiligen Experiment eigentlich herauszufinden? Was ist die Leitfrage, was die Hypothese?

Weil die Experimente im freien Raum der Geschichte immer schon begonnen haben, können wir uns die Fragen und Hypothesen nicht einfach ausdenken. Anders als es im abgeschiedenen Raum des Laboratoriums der Fall sein mag, gilt es die einem sozialen Experiment zugrunde liegenden Hypothesen eher zu finden als zu erfinden. Am sichersten gelingt das, indem wir bei den Problemen und Krisen ansetzen. Soziale Praktiken, an denen wir alltäglich partizipieren, erscheinen uns oft so selbstverständlich, dass gar nicht mehr klar ist, wozu genau sie eigentlich gut sein sollen. Das finden wir aber heraus, wenn es schlecht läuft. Wenn uns etwas als Problem oder Krise erscheint, dann deshalb, weil etwas, das wir mit der entsprechenden Praktik erreichen wollten, eben nicht erreicht wird. In der Kritischen Theorie bezeichnet man diese Methode als ‚negativistisch‘: Was wir tun und wollen, finden wir heraus, indem wir darauf achten, wo es knirscht und wehtut.

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Auslaufende Experimente

Ein Beispiel dafür ist das Problem der Arbeitslosigkeit in modernen kapitalistischen Gesellschaften. Nichts zu tun – das könnte ja auch Anlass zu Freude und Muße sein. So wird es aber weder in den gesellschaftlichen Diskussionen behandelt noch von den Betroffenen empfunden. An den Leidens- und Exklusionserfahrungen, die mit Arbeitslosigkeit einhergehen, zeigt sich: Wir befinden uns in einem Experiment, ob und wie sich sozialer Zusammenhalt und Teilhabe dadurch organisieren lassen, dass Menschen ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen. Die leitende Hypothese lautet nicht bloß, dass dies eine besonders effektive Weise sei, um das Leben der Gesellschaft zu reproduzieren. Ginge es nur um Effizienz, dann könnte die Gesellschaft es achselzuckend zur Kenntnis nehmen, wenn Digitalisierung und Automatisierung den Beitrag von großen Teilen der Bevölkerung überflüssig zu machen drohen. An den psychischen und sozialen Folgen von Arbeitslosigkeit zeigt sich aber, dass die Hypothese wesentlich mehr beinhaltet. Der Arbeitsmarkt ist nicht nur ein Experiment in ökonomischer Effizienz, sondern auch eines in Sachen sozialer Integration und Anerkennung.

Im Anschluss an diese von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Hannah Arendt inspirierte Diagnose weist die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi auf einen entscheidenden Zusammenhang hin. Ein besseres Verständnis unserer bisherigen Experimente gibt uns entscheidende Hinweise dafür, wie ein neuer Versuchsaufbau aussehen muss. Genauer lässt es sich wiederum mit dem von Jaeggi erläuterten methodischen Negativismus sagen: Viele Experimente können wir von vornherein ausschließen. Ein staatlich organisierter Arbeitsdienst etwa wäre keine Lösung, weil das Problem ja nicht im Mangel an irgendwelchen Aktivitäten besteht, sondern im Mangel an sinnvollen und anerkannten individuellen Beiträgen zur Gesellschaft. Auch ein Grundeinkommen, das vielen als lohnendes Experiment erscheint, muss sich dieser Anforderung stellen. Die Menschen finanziell irgendwie am Leben zu erhalten, ist nicht genug. Es braucht vielmehr einen gleichwertigen Ersatz für das, was die Lohnarbeit geleistet (oder zumindest versprochen) hat: eine wirkliche Einbindung in das gesellschaftliche Leben, die sich nicht darin erschöpft, dass man auch mal ins Theater gehen kann.

Ganz offensichtlich ist der Zusammenhang von Krise und Hypothese im Fall der Klimakatastrophe. Die grundsätzliche Leitfrage all unserer gesellschaftlichen Experimente lautet: Wie können wir auf dieser Erde überleben? Das Experiment des fossilen Kapitalismus ist daran gescheitert, dass es zwar für einige Zeit und für einige Teile der Weltbevölkerung nennenswerte Verbesserungen erzielt hat, dabei aber das Überleben aller Menschen – und beileibe nicht nur der Menschen – akut gefährdet.

Großversuch: Das nachhaltige „gute Leben“

Wären wir im Chemieunterricht, dann müsste man sagen: Der Abschnitt ‚Beobachtungen‘ im Versuchsprotokoll ist längst ausgefüllt; die Auswertung liegt auf der Hand, insbesondere was die verwendeten Materialien angeht. Offensichtlich sollten wir das Experiment in Zukunft ohne Kohle und Öl durchführen. Der Weg zu einem sinnvolleren Versuchsaufbau führt über eine solide Fehleranalyse. So wenig es im Fall der Lohnarbeit um schiere Effizienz und bloße Existenz geht, so wenig geht es auch bei der Frage nach nachhaltigen Lebensformen um das nackte Überleben. Auch hier gibt es viele historisch gewachsene Anforderungen, die jedes zukünftige Experiment bewahren sollte. Weder ein Zurück zur Natur noch technokratische Ansätze dürfen deshalb als echte Lösungen gelten.

„Keine Experimente!“, das wäre das Ende menschlichen Lebens. In Form der Klimakatastrophe steht dieses Ende heute am Horizont. Es ist das Resultat einer konservativen Politik, die vom Bewahren nichts versteht. Ein Funken Wahrheit des Adenauer-Slogans liegt aber darin, dass es historisch gewachsene Anforderungen an unsere sozialen Praktiken gibt, die es zu bewahren gilt. Weil wir immer schon in Experimente verstrickt sind, kann dieses Bewahren nur experimentierend gelingen.

Dieser Beitrag ist in agora42 3/2021 DAS GUTE LEBEN in der Rubrik HORIZONT erschienen. In dieser Rubrik geht es darum, wie sich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken lässt und wie konkrete Veränderungen herbeigeführt werden können.
Robert Ziegelmann
Robert Ziegelmann ist Doktorand in Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Zu seinen aktuellen Interessen zählen parteiische Gesellschaftstheorie, utopische Geschichtsphilosophie und das gesellschaftliche Naturverhältnis. Für seine Antwort auf die Frage „Was sollen wir tun, wenn Argumente scheitern?“ erhielt er 2017 den Essaypreis des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover.
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