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Den Möglichkeitssinn stärken
Text: Lars Hochmann | Gastbeitrag
Die Pandemie lehrt uns Sehnsucht. Das Virus legt offen, was es heißt, uns nach einer sicheren und souveränen Versorgung mit alledem zu sehnen, was zu einem gelingenden Leben gehört: Sicherheit, Begegnung und Austausch etwa; Theater, Clubs und Festivals; Flurgespräche, Restaurants und (Im)Mobilität. Zurück zum Alten, heißt es dieser Tage wiederholt. „Wie wollen wir leben?“, sollte es statt dessen heißen.
Voran in die Vergangenheit?
Selbst wenn die Wiederherstellung der Vergangenheit möglich wäre: Wollen wir als eine Gesellschaft, die sich die Regeln des Zusammenlebens selbst gibt, wirklich zurück? Wenn ich an den vielzitierten Satz meiner Großelterngeneration denke, „Meinen Kindern wird es eines Tages besser gehen als mir“, frage ich mich: Welche Eltern konnten diesen Satz mit ähnlicher Emphase „vor Corona“ im Herbst des Jahres 2019 noch formulieren? Schon damals hatten Resignation und Gefahrenabwehr vielerorts die Sehnsucht nach Hedonismus und Fortschritt getrübt – auch, weil der Fortschritt der Vergangenheit sich zunehmend als Teil des Problems zu erkennen gibt: Konsumismus, Ausbeutung und Naturzerstörung überschatten mehr und mehr die Errungenschaften der westlichen Fortschrittsidee.
Es ist unstrittig, dass es sich „vor Corona“ sozial und kulturell üppiger lebte als „während Corona“ – zumindest für jene Menschen, die es sich leisten konnten. Alle anderen wussten auch schon vor der Pandemie, was nicht nur physical, sondern auch social und cultural distancing mit Menschen anstellt: es vereinzelt, stresst, quält. Die Zeit „vor Corona“ kannte zahlreiche solcher Krisen. Viele von ihnen macht die Pandemie bloß sichtbarer. Einige dieser Krisen haben die Pandemie verursacht. Und keine von ihnen lässt sich aussitzen. Es irrt, wer glaubt, wir könnten bald wieder weitermachen wie zuvor.
Der Ruf nach Normalität ist trügerisch, weil es keinen Normalzustand der Gesellschaft gibt. Das soziale Leben ist geprägt durch Ambivalenzen und Ambiguitäten, vor denen man allenfalls die Augen verschließen kann. Die Pluralität von Gesellschaft und die Diversität ihrer Mitglieder sind indessen Ausgangsbedingungen für jedes Denken, das sich freiheitlich demokratischen Werten verpflichtet fühlt, das also, mit Hannah Arendt formuliert, niemandem das Recht abspricht, „to be at home in the world“.
Das gilt, wie kürzlich auch das Bundesverfassungsgericht urteilte, nicht nur für gegenwärtige, sondern auch für zukünftige Generationen. Wenn auch sie ein Recht haben, in dieser Welt zuhause zu sein, folgt daraus, dass der Erhalt eines potenziell krisenhaften Status quo genauso rechtfertigungsbedürftig ist wie seine Veränderung.
Seltsame Normalität
Normalität ist wahrnehmungsbezogen – sie ist eine Vorstellung, die abhängig von Standpunkten und von Blickrichtungen ist. So wird verständlich, dass eine Sache oder ein Sachverhalt nicht normal ist, sondern so erscheint. Dieser Anschein verdeckt häufig den Wandel, dem alles Historische unterworfen ist. Der Eindruck der Normalität entsteht nicht in den Dingen, sondern zwischen ihnen. Das Normale ist inter-esse (lat. „dazwischen sein“), es ist eine bestimmte, eben nicht „normale“ Konstellation. Dieses Interesse ist kontingent, also gestaltbar.
Das Theater der Normalität kreist darum, wie Gesellschaften sich aus diesen Blickrichtungen thematisieren und dies auf Begriffe bringen. In Demokratien fallen diese Inszenierungen des Normalen und Selbstverständlichen höchst unterschiedlich aus und geschehen selten pompös. Sie finden unscheinbar und alltäglich statt, wenn allabendlich in den Nachrichten über die Börse, aber nicht über das Klima berichtet wird, wenn Kinder auf Spielzeug-Autos umherrollen oder wenn in Wirtschaftsteilen von Zeitungen und Magazinen wie selbstverständlich kein Wort von den Widersprüchen des Lebens, von Hausarbeit und der Klimakrise zu lesen ist.
Gewiss: Wer hat schon Massentierhaltung ausgerufen, Naturzerstörung proklamiert oder städtischen Lebensraum als Parkraum ersehnt? Mit unseren „normalen“ Lebensweisen normalisieren wir diese Praktiken und Prozesse jedoch. Wir müssen das Normale als ein normal Gewordenes begreifen, um es wieder seltsam finden zu lernen.
Was eine Gesellschaft sich als faktischen oder fiktionalen Alltag vorstellen kann, entfließt dem Horizont des Denk- und Gestaltungsmöglichen. Wer wissen will, wo eine andere Person politisch steht, kann danach fragen, was sie sich nicht vorstellen kann: mit dem Nachtzug in den Urlaub fahren, eine Woche mit 20 Stunden Erwerbsarbeit, eine solidarische und kooperative Ökonomie, Schulen ohne Frontalunterricht oder das Verteidigungsministerium in ein Friedensministerium umzuwidmen.
Normalität ist jedoch weitaus fluider als sie auf den ersten Blick erscheint. Denn die Referenzpunkte dessen, was für normal erachtet wird, verschieben sich schleichend. Dieser Vorgang wird in der Sozialpsychologie als „Shifting Baselines“ bezeichnet. Der Begriff geht auf Studien über schwindende Fischbestände zurück, deren Rückgang nicht wahrgenommen wurde, weil es jeder Generation von Fischer*innen als normal galt, erst viele, dann einige, schließlich wenige Fische einer Spezies im Netz zu haben. Was hier für Fischbestände gilt, gilt auch für gesellschaftliche Entwicklungen allgemein. Die schleichende Veränderung unserer Lebensbedingungen verdeckt, wie eingeschlagene Pfade mitunter in problematische Verhältnisse geführt, die Schattenseiten einstmaliger Errungenschaften überhandgenommen und sich normalisiert haben.
Science for future
Wissenschaft spielt im Theater der Normalität mit. Sie erforscht, erklärt, versteht, analysiert nicht folgenlos aus dem Nirgendwo. Sie wirkt ein auf die Welt – ob sie es will oder nicht. Durch die Bereitstellung von Begriffen trägt Wissenschaft dazu bei, das eine als normal, das andere als Wahnsinn zu behandeln. Dieser Beitrag ist ihre politische Dimension. Damit meine ich nicht, dass im Vorfeld gewusst wird, was am Ende herauskommen soll – das wäre nichts weniger als die Abschaffung von Wissenschaft. Nein: Wissenschaft ist unbestechlich und trotzdem politisch, weil es in einer politischen Welt keine neutrale, das heißt apolitische Position geben kann. Das gilt für die Wissenschaft genauso wie für die UEFA – Licht an ist nur anders politisch als Licht aus.
Wenn wir die multiplen Krisen, allen voran die Klimakrise, bezwingen wollen, müssen wir als Gesellschaft unseren Raum des Denkmöglichen erweitern. Dies erfordert einen Übergang von Wissenschaften, die vermeintlich bloß beschreiben, wie die Welt ist, hin zu „Möglichkeitswissenschaften“, die Verwirklichungschancen für ein gelingendes Leben eröffnen und zur Gestaltung befähigen. Solche Wissenschaften stellen, mit Robert Musil formuliert, ihrem Wirklichkeitssinn den Möglichkeitssinn an die Seite: Sie sagen, was ist, aber stets auch, was sein könnte.
Wie Lesen, Schreiben, Pizzabacken, so kann gelernt werden, sich nach einer anderen Gesellschaft zu sehnen und vom Möglichen her über sie und ihre Bedingungen nachzudenken. Möglichkeitswissenschaften befähigen dazu in Lehre, Forschung und gesellschaftlichem Dialog. Sie bilden die Vorstellungskraft und produzieren gemeinsam mit der Gesellschaft begründetes Wissen darüber, wie eine Versorgung diesseits von 1,5-Grad-Celsius mit Nahrung, Energie und Mobilität, wie Wohlfahrt ohne Klimakrise und Raubbau, wie nachhaltiger Ressourceneinsatz, kurz: wie ein gelingendes Zusammenleben im Urbanen wie im Ländlichen, im Norden wie im Süden, heute wie morgen möglich gemacht werden kann. Sie informieren das Denken, befreien es aus den herrschenden Kategorien und sprengen die Knebel vermeintlicher Denkgewohnheiten. Sie sind Fantasiefutter, lehren das Träumen, bilden das Handeln, sie zeigen und begründen, welche anderen Pfade gesellschaftlicher Entwicklung möglich sind.
Wie wollen wir leben?
Dass es keine „normale“ Gesellschaft und auch keine „normale“ Wirtschaft gibt, ist nicht nur für unseren Planeten, sondern auch für unsere Demokratie eine gute Nachricht. Nachdem vermeintliche Sachzwänge des Ökonomischen jahrzehntelang über immer mehr Bereiche des Lebens bestimmten, stellt sich nun wieder die Frage: Wie wollen wir leben?
Wer diese Frage beantworten will, muss Zukunft als einen gestaltbaren Raum entdecken. Zukunft ist das, was wir uns heute – im Wissen um das Gegebene – vorstellen können. Im Unvermögen, eine andere Wirtschaft auch nur zu imaginieren, beziehungsweise panisch „Sozialismus“ zu kreischen, als wäre damit alles gesagt, dokumentiert sich, dass unser Horizont des Denkmöglichen rasch an Grenzen stößt. Das häufig bloß ideologische Schattenboxen zwischen „Marktwirtschaft“ und „Planwirtschaft“, zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ verzögert nur diese Problemlösung. Schluss mit der Schubladenzieherei: Aufgeklärte Gesellschaften klammern sich nicht unbesehen an vorgefundene und überlieferte Kategorien, sondern erzählen ihre Geschichte selbst. Einigen wir uns auf „Demokratie“ – und die hebt in zwei Fragen an: Wie wollen wir leben? Und wie können wir das möglich machen?
Dieser Wandel wird Ankündigung bleiben, wenn er nur Individuen in die Pflicht nimmt oder den großen politischen Wurf abwartet. Der Wandel muss beides berücksichtigen, die Individualität und die Gesellschaftlichkeit der Menschen. Das heißt, er muss an den ökonomischen Institutionen der Versorgung ansetzen und Eigentum, Arbeit, Geld, Erfolg, Führung, Organisation etc. umgestalten.
Wissenschaft trägt als Praxis des Deutens und Bedeutens dazu bei. Aber sie hat kein Mandat, vorzuschreiben, wie gelebt werden soll. Das gilt für konservative wie für progressive, für orthodoxe wie für heterodoxe, für plurale und alle weiteren Stimmen. Wissenschaft kann jedoch Möglichkeiten aufzeigen, begründen und rechtfertigen. Und sie kann die Bedingungen analysieren und verbessern helfen, unter denen diese anderen Entwicklungen von Wirtschaft und Gesellschaft zu haben sind.
Im Wahljahr 2021 bedeutet das auch eine Wende in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Wie wir unseren Planeten optimal zerstören, wissen wir bereits. Jetzt ist die Zeit der Wissenschaften „for future“.
Lars Hochmann ist inter- und transdisziplinär arbeitender Wirtschaftswissenschaftler. Er lehrt und forscht als Professor für Transformation und Unternehmung an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung zu einer zukunftsfähigen Theorie der Unternehmung, nachhaltigen Unternehmensstrategien sowie Politiken der Wahrheit in den Wirtschaftswissenschaften.
Vom Autor empfohlen:
Hannah Arendt: Understanding and Politics. In: Partisan Review 20,4 (1953), S. 377–392.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Rowohlt, 1957)
Cornelius Castoriadis: The imaginary institution of society (Polity, 1987)
Daniel Pauly: Anecdotes and the Shifting Baseline Syndrome of Fisheries. In: Trends in Ecology and Evolution 10, 10 (1995), S. 430.
Chantal Mouffe: Agonistik. Die Welt politisch denken (Suhrkamp, 2014)
Ivan Boldyrev und Ekaterina Svetlova (Hg.): Enacting Dismal Science. New Perspectives on the Performativity of Economics (Palgrave Macmillan, 2016)
Reinhard Pfriem: Ökonomik als Möglichkeitswissenschaft. In: Ökologisches Wirtschaften 32, 2 (2017), S. 16–18.
Lars Hochmann (Hg.): Geschichten des Gelingens. Inmitten von Krisen Wandel gestalten (metropolis, 2021)
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