Mut und Haltung statt Wut und Spaltung – Thomas Gutknecht

Mut und Haltung statt Wut und Spaltung

von Thomas Gutknecht

„Politik wird entweder von Ängsten oder von Werten getrieben. Wohin die Politik der Ängste führt, haben wir nun gesehen“, sagt die Philosophin Susan Neiman. Gefordert ist der Widerstand der Vernunft, anstatt noch immer die postmoderne Destruktion der Vernunft zu betreiben. Wer meint, dass hinter jeder Behauptung stets ein verborgener Machtanspruch stehe, hinter jedem Ideal ein Interesse, wer jedem Wahrheitsanspruch nur mit Misstrauen begegnet, dem wird es schwerfallen, eine Lüge noch als solche zu erkennen.

Wer nicht mehr Wahrheit sucht, sich ihrem Anspruch verweigert, hat keinerlei Möglichkeit, Narrative kritisch zu prüfen. Dann bekommt die größte Zustimmung, wer am eindringlichsten Emotionen bespielt, Ängste schürt und Versprechungen in den Raum stellt. Eine Lüge, fünfmal wiederholt, wird als Tatsache geglaubt. So lässt sich leicht Angst verbreiten. Sie führt zum Verzicht auf differenziertes Urteilen. Ein wahrer Teufelskreis. Vernunft ist letztlich die einzige Instanz der sinnvollen Selbstbeschränkung – mithin die Mutter des Ethischen.

Thomas Gutknecht
Thomas Gutknecht leitet die philosophische Praxis Logos-Institut mit Schwerpunkten in der „philosophischen Seelsorge“, Einzelberatung, Erwachsenenbildung und Begleitung von Führungskräften. Er ist Vorstand des Philosophie-Vereins „Logosclub“ und war von 2003 bis 2016 Präsident der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis.
Es verwundert insofern nicht, dass viele eine Angst vor der Sinnlosigkeit umtreibt. Sinn ruht im Gemeinsamkeit stiftenden Band der Vernunft. Im Gegensatz dazu ist das Kennzeichen unserer Zeit die Vereinzelung. Unverbindlichkeit ist ein neues Phänomen. Unverbindlichkeit nicht nur gegenüber dem Anspruch der Wahrheit, auch gegenüber der leisen Forderung der sittlichen Werte – und so letztlich gegenüber dem anderen Menschen. Bloße Sympathie und Gefühle tragen nicht weit genug. So tritt neben die zunehmende geistige, um nicht zu sagen spirituelle Desorientierung die Wahrnehmung nicht nur einer metaphysischen Heimatlosigkeit, sondern ganz konkret einer Verlorenheit inmitten aller anderen. Weil Mechanismen der Systeme die Lebenswelt überformen – etwa die reine Logik einer Ökonomie, die nicht mehr integrierter Teil der Ethik und der Sorge um das gute Leben aller ist – werden neue Ängste hervorgerufen.

Der edle Zorn
Angst ist eine mächtige Emotion. Nicht nur die existenzielle Angst der Einzelnen, gerade auch die kollektive. Es gilt, die ihr eigene „ratio“ zu vernehmen und zu verstehen. Das betrifft auch andere Gemütsbewegungen, die die Menschen voneinander trennen können, etwa Hass, Neid, Ruhmsucht. Sie haben bestimmte Ursachen, durch die wir ihre Natur begreifen können. Anders verhält es sich jedoch mit sozialen Emotionen, die auf gesellschaftliche Umstände bezogen sind, wie etwa der Zorn. Zorn ist ein moralrelevantes Gefühl, nämlich die emotionale Antwort auf Unrecht. Im Unterschied zur Angst, die vereinzelt (ja bereits aus der Unverbundenheit resultiert), wohnt dem Zorn das Soziale inne. Er motiviert dazu, das Gemeinschaftliche in Ordnung zu bringen.
Dies bezeichnet Peter Sloterdijk als die thymotische Energie des Zorns, der neben dem Eros zu einer ausbalancierten Seelenverfassung gehört. Thymos steht für die Selbstmacht, besteht auf der Anerkennung des Selbst und seiner Würde. Wer einmal zu sich selbst gefunden hat, zu sich selbst stehen kann, kann auch andere in ihrem Selbst anerkennen. Wenn wechselseitige Anerkennung Platz greift, führt das auch zur Verbundenheit, und notwendig zu einer gesunden. Der Eros ist zwar wie der Thymos eine menschliche Grundmotivation, allerdings eine, die aus Mangel gespeist wird. Dies führt den bedürftigen und gefährdeten Menschen von selbst zum Du, aber nicht zwangsläufig zu gesunder Verbundenheit.
In der Tradition des kulturellen Westens ist das Zusammenspiel von Thymos und Eros aus den Fugen geraten. Der edle Zorn mutierte, einmal fälschlich als gemeinschaftsfeindlich denunziert, zum Ressentiment. In unserer Zivilisation wurde nur der Eros gepflegt, der Thymos hingegen beargwöhnt. Folgenschwer ließ man die thymotischen Energien nicht wachsen und verstand den guten Egoismus nicht wertzuschätzen. Gerechtigkeit bedeutet in dieser Perspektive zuerst Gleichheit oder „Jedem-das-Seine“, nicht aber Anerkennung und Respekt. Doch nur die in ihrem Selbstsein gewürdigten und anerkannten Personen sind leidensfähig und können anderen gönnen, was sie selbst entbehren. Zorn, der nicht sichtbar werden darf, „verdreckt“.

Zorn ist der natürlichste Begleiter des Gerechtigkeitssinns.

Zorn ist der natürlichste Begleiter des Gerechtigkeitssinns. Von Haus aus ist das Gerechtigkeitsstreben edel, Zorn die Energie dieser Hochgemutheit. Wo diese Hochgemutheit fehlt, sind wir eher beleidigt als zornig. Das hindert am produktiven Umgang mit Verletzung aller Art und führt stattdessen zu vergiftenden Ressentiments. Im Beleidigtsein ist die Spaltung und Absetzung vom Du schon vorgezeichnet. Wenn wir uns nicht mit dem Gedanken abfinden, dass die Weltgeschichte das Weltgericht sein soll: wohin dann mit dem himmelschreienden Unrecht? Die Tradition hatte für alles Unabgegoltene „Zornbanken“, etwa die Kirchen. Eine wichtige Funktion im System von Leid und Ungerechtigkeit hatte einst Gott als Archivar von erlittenem Unrecht. Ihm konnte man den Schmerz anheimstellen und sogar auf Rendite hoffen. Die letzte Zornbank erlitt ihren Zusammenbruch mit dem Ende des Kommunismus, der letzten Agentur des universalen Leidensausgleichs.
Zorn ist ein gehobener energetischer Zustand, der thymotische Pol der Existenz, ein Regungsherd, der eine große Familie versammelt: Stolz, Ambition, Geltungsdrang, Ehrverlangen, aber auch den Mut oder den Gerechtigkeitssinn, Edelmut, ja eben Hochgemutheit. Wenn das Subjekt Missachtung erlebt, ist die Selbstachtung bedroht. Schwäche und Ohnmacht führen aber zur Innenweltverschmutzung, zu einer schlechten Ökobilanz. Endlager für den gerechten Zorn zu finden, der nicht zum Austrag kommen konnte und zu schwelen beginnt, ist vielleicht schwerer, als den Atommüll zu entsorgen.
Aber: Hat nicht der Zorn als politische Energie im 20. Jahrhundert Verheerendes angerichtet? Ist nicht die thymotische Energie brandgefährlich? Sollten Emotionen nicht ganz aus dem Politischen verbannt bleiben? Die Antwort: Das geht nicht. Politik machen Menschen für Menschen. Wenn inzwischen die Angst zur zentralen sozialen Kraft geworden ist (Heinz Bude), ist ihr mit Argumenten nicht mehr beizukommen. Stimmungen lassen sich nur mit Gegenstimmungen überwinden.
So müssen wir unser Gemeinschaftsleben grundlegend erneuern. Erneuerung des Vertrauens in die Vernunft, eine neue Leidenschaft für Werte! Solidarität. Respekt und wechselseitig zugesagte Anerkennung. Kultur der Gabe. Wer sich nicht dem naheliegenden Geschichtspessimismus anschließen will, braucht Hoffnung – nicht Optimismus. Hoffnung zielt darauf, Tatsachen zu ändern, ist unser Sinn für die Möglichkeiten des Guten.

Wer sich nicht dem naheliegenden Geschichtspessimismus anschließen will, braucht Hoffnung – nicht Optimismus. 

Analphabeten der Angst
Auch Angst ist eine starke Emotion – doch sie ist noch mehr, jenseits von Eros und Thymos. Angst gehört zum Leben der Menschen. Sich recht ängstigen zu lernen, ist eine reife Leistung. Doch leider verhält es sich auch in Sachen Angst nicht anders als bei anderen wertvollen und großen Dingen: Sie zu bespielen und im eigenen Interesse zu instrumentalisieren, bleibt immer möglich – und daher bleibt das Geschäft mit ihr nicht aus. Die derart missbrauchte Angst untergräbt die Selbstwirksamkeit, beeinträchtigt die Selbstbestimmung, verführt zu fatalen Reaktionen. Deshalb die Aufgabe, ihr menschlich zu begegnen. Doch wir sind Analphabeten der Angst geworden. Erst das Verständnis der Angst verhilft dazu, die Grenzen unserer Möglichkeiten wahrzunehmen und sinnvoll mit diesen Grenzen umzugehen. Sie sind mit dem Lebendigsein gesetzt, und das heißt: Die letzte dieser Grenzen markiert der Tod. In einer Kultur jedoch der Angst wird der Tod und in der Folge jedwede Begrenzung als etwas Beschämendes erlebt. Tabus verhindern eine Sterbe- und Trauerkultur. Doch nur wenn das Lernziel heißt, sich recht ängstigen zu lernen, blüht das Leben auf. Die Angst im Leben ist „gesund“. Durch die Annahme der Angst ins Selbstsein mit hinein verliert man erst die Angst vor dem Leben.
Die Verwirrung einer Zeit, von der landauf landab gesagt wird, sie sei aus den Fugen geraten, besteht nicht zuletzt darin, dass das Wissen davon verlorengegangen ist, worauf unser echtes Sorgen gerichtet sein sollte. Und daher auch die Verwirrung über das Wesen der Angst. Wir brauchen die Angst, allerdings eine Angst, die uns nicht so sehr Kopfzerbrechen, sondern Beine macht. Was tun? Die Angst bejahen und ihr, sie anerkennend, begegnen, aber auch sie durchstehen und überwinden, ohne sich von ihr dumm machen zu lassen oder ins Unmenschliche auszuweichen. Wir gehören nicht der Angst. Angst am Grunde des Daseins ist ein unumgängliches Faktum. Wir brauchen also die Angst, eine „liebende Angst“, die sich um die Welt ängstigt, „nicht nur vor dem, was uns in ihr zustoßen könnte“ – „eine belebende Angst, die uns statt in die Stubenecken hinein in die Straße hinaus treiben soll“ (Günther Anders).

Das Gute wagen
Nur die Solidarität der Verletzlichen, der Erschütterten mit ihrer leidempfindlichen Vernunft, kann eine neue Ethik begründen. Diese Solidarität als Mitgefühl ist neben dem Universalismus der Vernunft das Gebot der Stunde, die „rettende“ Emotion. Sie lässt das Thymotische gelten, aber in der Balance mit der Liebe. Der große Leidende, Friedrich Hölderlin, beginnt seine Hymne Patmos:
„Voll Güt ist; keiner aber fasset / Allein Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“
Die Verse sind eindeutig zu lesen als Aufruf zur Solidarität: keiner aber fasset allein! Heilung vollzieht sich in der Verwirklichung des dialogischen Prinzips. Die Rettung kommt aus der Liebe – göttlich genannt oder mit Gott (als Chiffre) gleichgesetzt. Ernst Bloch fasst diese dialogische Gesinnung in die wunderbar dichten Worte: „Wie nun? Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Das Projekt Solidarität als Hoffnungszeichen ist eine Aufgabe aller Menschen guten Willens. Hölderlins Patmos-Hymne schließt mit den Worten: „Denn alles ist gut.“ Dem Gesang wird die Aufgabe zugeschrieben, alles Bestehende im Logos zu deuten, der Versuchung der Sprachlosigkeit zum Trotz. Miteinander reden, im Gespräch bleiben, die Verbindung halten!
Kann man sich in modernen Zeiten irgendwo häuslich einrichten? Heimat ist, wo Sinn waltet. Selbst Adorno besteht darauf, sich nicht den Sinn für das Richtige nehmen zu lassen: „Auch wenn ein im Ganzen richtiges Leben unmöglich ist, so ist es für ein unverblendetes Dasein äußerst wichtig, sich den Sinn für das Richtige nicht abkaufen zu lassen. (…) Nur vom Unmöglichen her können wir unsere Möglichkeiten verstehen.“ Eine Kultur des Mit- und Füreinanders lebt von der wirklichen Kommunikation und wird bedroht vom (rhetorischen) Missbrauch der Sprache. Es bedarf einer Rehabilitierung des Ringens um Wahrheit, der Etablierung wahrheitssuchender Verständigungsprozesse, einer öffentlichen Streitkultur, des liebenden Kampfes. Wenn Ressentiment verachtet, was wertvoll ist, dann ist es umgekehrt notwendig, aus Respekt vor dem Wertvollen dessen Herabwürdigung – und das macht den Unterschied – auf zivilisierte Weise zu verachten. „Wesentliche, das Sein treffende Wahrheit entspringt nur in der Kommunikation, an die sie gebunden ist. Daher kann wahre Philosophie nur in Gemeinschaft zum Dasein kommen.“ (Karl Jaspers) Wo einer immer nur zustimmt, kommt kein echtes Gespräch zustande. Doch jede Widerrede soll Ausdruck einer grundsätzlichen Zuwendung sein. Liebender Kampf „ist nicht der Kampf zweier Existenzen gegeneinander, sondern ein gemeinsamer Kampf gegen sich selbst und den anderen, aber allein Kampf um Wahrheit“ (Karl Jaspers).

Zu den uneingestandenen Problemen der westlichen „Wertegemeinschaft“ rechne ich das Misstrauen gegen die eigene Liebe zu sittlichen Werten. 

Zu den uneingestandenen Problemen der westlichen „Wertegemeinschaft“ rechne ich das Misstrauen gegen die eigene Liebe zu sittlichen Werten. Was Werteerziehung im Besonderen angeht, möchte ich an Friedrich Schiller erinnern. Die ästhetischen Werte – einmal erschlossen – sind so anziehend und sprechen so sehr für sich, dass sie dazu animieren, das Netz zu weiteren Wertewelten zu knüpfen, vor allem zu ethischen. Es sollte nicht so sehr eine Frage der Ehre als der Freude sein, zu sich und anderen gut zu sein.
Bildung und Erziehung haben nicht primär mit dem Nutzen zu tun. Sie sind allerdings auch kein Luxus, auf den man verzichten könnte. Wir dürfen die Erziehung nicht den Marktkräften opfern. Es gibt Dinge, die weit über den bloßen Nutzen hinausgehen. Die Werte, die das Wirtschaften aus sich generiert, vor allem alle Werte der materiellen Güter, stehen dahinter zurück. Wirtschaften setzt im übrigen kraft einer unüberwindlichen Eigenlogik auf Konkurrenz und Rivalität. Erst eingehegt durch ein überlegenes Subsystem des Moralischen wird Wohlfahrt geschaffen.
Sinn aber ist etwas, das im Gemeinsamen entsteht, in Kommunikation. Daher ist Teilhabe aller an den Gütern und der materiellen Wertschöpfung so wichtig. Misstrauen und Angst treiben den Spaltkeil tiefer. Werte sind mehr als Güter, sie verweisen auf das Gute. Sie werden leibhaftig erfahrbar in praktizierten Tugenden, in gemeinsamen positiven Erlebnissen. Werte, die uns zwischenmenschliche Verbindungen ermöglichen, die uns andere in ihrem Anderssein erfahren lassen und uns so die Angst nehmen. Solche Werte auszubuchstabieren, ist in diesem Rahmen nicht möglich. Wenigstens ein paar wenige hilfreiche Haltungen möchte ich zusammenfassend noch nennen:

  • Dankbarkeit
  • Vernünftiges Vertrauen und Gemeinsinn
  • Versöhnlichkeit und Friedensliebe
  • Bescheidenheit und Demut
  • Freundlichkeit und Gelassenheit
  • Geduld und Toleranz
  • Solidarität und Barmherzigkeit
  • Humor und Sanftmut
  • Leidenschaft für alles Erfüllende
  • Freude am Denken und anderer sinnvoller Anstrengung.

 


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