„Stop and Think!“
Plädoyer für eine Gemeinsinn-Ökonomie
von Silja Graupe und Stephan Panther
„Streik!“ Junge Menschen in der ganzen Welt rufen die Menschheit im September 2019 zum Klimastreik auf. Es gelte, „sich zusammenzuschließen, Farbe zu bekennen und sich für unser Klima aus der Komfortzone herauszuwagen“. Damit sind sie nicht allein. Weltweit haben sich ihnen Aktivistinnen und Aktivisten angeschlossen, um eine „Zeitenwende“ einzuläuten. „Der Schlüssel scheint darin zu liegen, unsere gewohnten Abläufe zu unterbrechen – es sind diese Routinen, die uns ermatten, der Umstand, dass wir jeden Morgen aufstehen und ziemlich genau dasselbe tun wie am Tag zuvor, sogar noch im Angesicht einer anhebenden Krise.“ Können wir Menschen aber tatsächlich unsere tiefsitzenden Gewohnheiten verändern? Die in der Ökonomie dominierenden Menschenbilder verneinen dies. Deswegen müssen wir uns weigern, sie als Selbstbilder zu übernehmen.
Der Mensch als reines Gewohnheitstier?
Das Nachdenken über Gewohnheiten hat eine lange philosophische Tradition, die im Westen mit Aristoteles beginnt und bis in unsere Tage reicht, etwa zu John Dewey oder Pierre Bourdieu. Gewohnheiten, so lässt sich sagen, sind demnach eine zwiespältige Angelegenheit: Zum einen stellen sie als die von uns eingeübten körperlichen Bewegungsmuster ebenso wie als die Muster unseres Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Wertens die Grundlage unseres Handelns dar; sie geben uns Halt. Zum anderen können sie zu einem in Routinen erstarrten Verhältnis zur Welt werden, zu einem Gefängnis ständiger Wiederholung. In der philosophischen Tradition galten Gewohnheiten meist grundsätzlich als änderbar – und die Reflexion über sie, individuell wie gesellschaftlich, galt als ein erster Schritt zu einer solchen Veränderung (gerade in Krisenzeiten).
Heute dominiert jedoch in weiten Teilen der Verhaltensökonomik – ebenso wie im Marketing, der Beeinflussungsforschung und auch in den Kognitionswissenschaften – ein verhängnisvoll verkürztes Bild menschlicher Erkenntnisfähigkeit, in dem uns genau diese Fähigkeit zum Selbstbewusstsein abgesprochen wird.
Grob gesagt, soll sich diesem Bild zufolge unser Bewusstsein in zwei Teile aufspalten. Da ist zunächst der rationale und bewusst kalkulierende Teil, der wie ein Rechenapparat kühl und klar immer wieder aufs Neue entscheiden können soll, was das Beste und Richtige sei. Der homo oeconomicus lässt grüßen! Der zweite Teil des Bewusstseins soll sich nun gleichsam unterhalb dieses rationalen Verstandes befinden. Es ist dies das Reich des Unbewussten, das unser Handeln quasi-automatisch bestimmen und regieren soll, und dies wiederum soll dominant aus Gewohnheiten bestehen. Wie wir Wörter und Sprache verstehen, wie wir Bilder interpretieren und auf sie reagieren, wie wir emotional und weltanschaulich werten – all das soll wie der Großteil der Masse eines Eisbergs unterhalb der Oberfläche unseres wachen Bewusstseins schlummern und von dort aus unser Handeln lenken, ohne dass wir darüber eine Kontrolle ausüben können.
Kapitalistische Gewohnheiten
Zunächst, so meinen wir, vermag dieses Bild durchaus einiges zu erklären: vor allem die Tatsache, warum wir uns mit jeder Form wirklich fundamentalen Wandels schwer tun, sofern er von uns verlangt, dass wir uns selbst ändern müssen. Denn tatsächlich sind wir uns unserer tiefsitzenden Gewohnheiten oft nicht bewusst. Und deswegen vermögen wir auch nicht zu erkennen, wie weitgehend diese von unserem Leben im Kapitalismus geprägt sind: etwa vom rechnenden Denken und eigennützigen Handeln, die den Umgang mit Geld zur Grundlage haben; von einem unbewussten Glauben an individuelle Sinnfindung durch Konsum und technischen Fortschritt; und durch Grundannahmen über die Welt, die eine Koordination menschlichen Zusammenlebens außerhalb von Preisen und Gütern schlicht ins Unaussprechliche, ja Unvorstellbare verbannen. Unser rationaler Verstand vermag daran wenig zu ändern. Denn er kann zwar, wenn er Zeiten der Ruhe findet, zu richtigen kognitiven Einsichten gelangen. Doch scheint er auf Dauer den animal spirits ausgeliefert, wie John Maynard Keynes unsere unreflektierten Vorstellungen, Instinkte, Emotionen und Herdenverhalten genannt hat. Wie die Spitze eines Eisbergs scheint er sich inmitten der Strömung der Gesellschaft zu befinden, von dem tiefere, unsichtbare Teile immer wieder trotz bester Absichten fortgerissen werden.
Gemeinsinn
Man kann aus dieser Erklärung unseres tatsächlichen Handelns schließen, dass man es der Menschheit in der Mehrheit nicht zutrauen kann, Bewusstsein in ihre Gewohnheiten zu bringen. Die Alternative scheint dann nur noch darin zu liegen, auf eine Elite zu setzen, die die Gewohnheiten der anderen durchschauen und dann durch unterschwellige Manipulation insgesamt irgendwie in die ‚richtige’ Richtung steuern können soll (wobei klar ist, dass über die Frage der Richtigkeit die Masse selbst nicht mitentscheiden kann; sie soll von der ganzen Sache bewusst ja gar nichts mitbekommen). Jede Form der Propaganda, der Public Relation, der Markentechnik und des Nudging beruht auf dieser Schlussfolgerung.
Wir meinen hingegen – und damit kommen wir wieder auf die philosophische Tradition zurück – dass dies nicht der richtige Weg sein kann. Nur weil die Vorstellung vom Menschen als unbewusstem Gewohnheitstier oftmals der Realität entspricht, sollten wir sie nicht verabsolutieren und daraus ein wie in Stein gemeißeltes Menschenbild machen. Denn wir sind vor allem immer auch kreative Wesen, die sich selbst reflektieren und damit Bewusstsein in ihr Unbewusstes bringen können! Diese Kreativität gilt es anzuregen. Der Schlüssel liegt hier darin, einen komplett anderen Sinn anzusprechen. Die Rede ist hier vom Gemeinsinn, der das duale Schema von blinder Routine und berechnender Rationalität zu sprengen vermag.
Prinzipiell ist der Gemeinsinn sowohl der Gegenpol zum bloß eigennützigen Privatsinn des homo oeconomicus, als auch zum Kaltsinn, der gesellschaftliches Zusammenleben nur als blinde Routine begreift. Drei seiner Dimensionen möchten wir hier hervorheben: Erstens hilft uns der Gemeinsinn dabei, unsere eigene Sinneswahrnehmung und deren ansonsten unbewusste Verarbeitung kritisch zu reflektieren. Er lässt uns bewusst ins vormals Unbewusste vordringen und befreit uns aus dessen Sklaverei, weil er uns im wahrsten Wortsinn Selbstbewusstsein zurückgibt. Zweitens ist der Gemeinsinn ein moralischer Sinn. Mit ihm können wir lernen, die Welt mit neuen Augen zu sehen, weil wir mit ihm unsere grundlegenden Normen und Werturteile befragen können, die für uns ansonsten so selbstverständlich geworden sind, dass wir nur mit ihnen denken, nicht aber über sie. Drittens öffnet der Gemeinsinn uns in einem besonderen Sinne sowohl gegenüber unseren Mitmenschen als auch gegenüber unserer Mitwelt. Denn er vermag Menschen- und Weltbilder, auf die wir alle je individuell reagieren, als eine gesellschaftlich geteilte Grundlage zu durchschauen, die wir eben auch gemeinsam durch reflektiertes Tun und praktische Weisheit verändern können.
Stehenbleiben! Nachdenken!
Glücklicherweise ist aus der widerständigen Forschung gegen die Ausbeutung und Manipulation unserer unbewussten Gewohnheiten bekannt, was den Gemeinsinn aktivieren kann: Es sind diese Aktionen des „Stop and Think“! Dabei geht es um die Schaffung irritierender Unterbrechungen in unserem Alltag, die ebenso Spielräume zur Reflexion seiner Selbstverständlichkeiten schaffen, wie sie den Mut anregen, Neues, Ungewohntes und auf den ersten Blick durchaus auch Furchteinflößendes auszuprobieren. Darauf aufbauend können dann neue Sicherheiten und neue Selbstverständlichkeiten gewonnen werden. Uns scheint unser heutiges Bewusstsein oft so ausgestaltet zu sein wie eine brüchige Planke, die uns in unseren täglichen Routinen gerade noch über einem großen Abgrund balancieren lässt. Doch wenn wir uns wirklich einmal unserem geschundenen Planeten zuwenden, so können eben gerade aus diesem Abgrund neue Denk-, Erfahrungs- und Lebensgewohnheiten emporwachsen. Und nirgends ist dies notwendiger als in der Ökonomie. Lasst uns gerade sie in eine wahre Gemeinsinn-Ökonomie verwandeln! Kaum etwas könnte hierfür ein besserer Start sein als die Unterbrechung unserer schädlichen Routinen im Rahmen des besagten Klimastreiks!
„Der Kampf um die Zukunft geht nur gemeinsam“, heißt es bei der Fridays-for-Future Bewegung. Wir ergänzen: Er geht nur mit Gemeinsinn. Gerade die Aufklärung hat immer wieder betont, dass dieser Gemeinsinn vor allem durch Bildung gefördert wird. Sie hat jungen Menschen Möglichkeiten zu schaffen, ihren intuitiven Gemeinsinn hin zu einem reflektierten wachsen zu lassen. Leider verweigern die Schulen und Hochschulen heutzutage genau dies. Dagegen wollen wir an der Cusanus Hochschule etwas tun. Deswegen werden wir den Klimastreik mit einem Angebot an Bildungsimpulsen begleiten, die die umwälzende Kraft des „Stop-and-Think“ erfahrbar machen, die den Gemeinsinn wiederbeleben kann. Und wir werden unsere Stimme noch lauter als zuvor gegen eine ökonomisierte Bildung erheben, die Menschen verbildet und den Gemeinsinn deformiert, statt ihn reifen zu lassen.
ZITATE
Die Zitate sind entnommen aus den Artikeln „Streik! Ein Aufruf der jungen Klimabewegung an die Welt“ und „Zeitenwende. Eine notwendige Antwort der Erwachsenen“, die beide in der Süddeutschen Zeitung (Nr. 120, 24. Mai 2019) erschienen sind.
-
3/2019 SINN
9,80 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb -
1/2018 WIRTSCHAFT IM WIDERSPRUCH
9,80 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb -
1/2017 KAPITALISMUS
9,80 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb -
1/2013 KRISE
8,90 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb