Zur Notwendigkeit der Neuerfindung des Neuen | André Reichel

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Zur Notwendigkeit der Neuerfindung des Neuen

Text: André Reichel

Innovationen, das waren in der Wirtschaft bislang vor allem technische Innovationen. Doch technische Neuerungen alleine bringen uns heute nicht mehr weiter. Sie müssen eingebettet werden in ein neues wirtschaftliches und gesellschaftliches Umfeld, das sich durch ein ganz anderes Verständnis von Produzenten und Konsumenten auszeichnet. Was wir brauchen, ist also vor allem soziale Innovation.

Wer an Innovationen denkt, stellt sich dabei häufig technische Produkte vor. Das neueste Smartphone, ein Elektroauto oder etwas weniger leicht Greifbares wie der Algorithmus einer Internetplattform, der bei der Suche nach interessanten Angeboten hilft. Technische Innovationen waren dabei immer auch Treiber für Wachstum – sowohl was den Umsatz der Unternehmen als auch das Wachstum der Wirtschaft insgesamt angeht. Überdies ist mit Innovationen stets die Idee des „Besseren“ verbunden: Technische Neuheiten sollen dabei helfen, die alltäglichen Dinge einfacher erledigen und Bedürfnisse besser befriedigen zu können.

Soziale Innovation

Die neuen Realitäten des Wirtschaftens sind nun aber gekennzeichnet durch große Verwerfungen, allen voran sind dabei der menschengemachte Klimawandel und die Herausforderungen einer vollständigen Dekarbonisierung von Geschäftsmodellen sowie die Digitalisierung aller Lebensbereiche zu nennen. Gleichzeitig haben sich Innovationen selbst verändert: Technische Innovationen alleine lassen in ihren Wirkungen auf Effizienz und Produktivität nach, werden weniger wachstumsrelevant. Sie bleiben weiterhin wichtig und notwendig – sind aber nicht mehr hinreichend für unternehmerischen Erfolg und für gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Dazu bedarf es einer Einbettung technischer Innovationen in soziale Innovationen sowie der Öffnung des Innovationsprozesses für eine Zusammenarbeit mit aktiven Konsumenten, die sich unter anderem auch in den Produktionsprozess einbringen und die ich „Prosumierende“ nenne.

Der Begriff der sozialen Innovation erfreut sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit. Häufig wird dabei unter „sozial“ verstanden, dass es um Neuerungen geht, die weniger wirtschaftlichen, sondern in erster Linie sozialen Mehrwert stiften. Sozialunternehmen, gemeinnützige Arbeit, Leistungen im sogenannten dritten Sektor, also der Zivilgesellschaft, stehen dann im Vordergrund. Ich will allerdings „sozial“ anders auffassen, nämlich ganz grundsätzlich als das menschliche Miteinander in der Gesellschaft betreffend. Unter „sozial“ verstehe ich also ganz wertungsfrei die Bedingungen, Strukturen und Möglichkeiten des „Dazwischen“ – zwischen Menschen, zwischen Menschen und Institutionen, zwischen Institutionen. Eine soziale Innovation ist dann jedwede Neuerung, die dieses „Dazwischen“ verändert, neue Formen des Miteinander ermöglichen hilft und am Ende, ganz ökonomisch gesprochen, das Sozialkapital steigert. Neue Formen des Miteinanders können dabei, wie beispielsweise „New Work“, die Arbeitsstrukturen betreffen oder auch andere, kollaborative und offene Formen der Wertschöpfung.

Kollaboration

André Reichel
André Reichel ist Professor für International Management & Sustainability an der International School of Management (ISM) sowie ehrenamtlicher Vorstand der elobau-Stiftung in Leutkirch im Allgäu. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die nachhaltige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie die betriebswirtschaftlichen Implikationen einer Postwachstumsökonomie. Zum Thema von ihm erschienen: Next Growth – Wachstum neu denken (Zukunftsinstitut Verlag, 2018)

Innovationen waren immer schon auch sozial, zielten also auf neue Formen des Miteinanders. Vor allem wurden Innovationen – im Gegensatz zu manch heroischer Darstellung des Unternehmers als einsam-genialem Innovator – immer als Gruppenleistungen hervorgebracht, durch Zusammenarbeit verschiedenster Akteure mit den verschiedensten Kompetenzen. Kollaborative Prozesse sind nicht erst seit der massenhaften Durchdringung von Wirtschaft und Gesellschaft mit digitalen Technologien auf dem Vormarsch, werden dadurch aber deutlich einfacher möglich. Kollaboration meint hier ein Zusammenarbeiten an Neuerungen auf Augenhöhe mit diversen Stakeholdern. Nicht gemeint ist das Crowdsourcing von Innovationen, also das Abgeben der Innovationskompetenz an eine anonyme „Cloud“ oder „Crowd“. Denn dadurch entstehen keine interaktiven Innovationspartnerschaften, sondern lediglich anonyme Berührungspunkte im Innovationsprozess. Im Bereich des Konsums wiederum lässt sich das Phänomen Kollaboration seit gut einem Jahrzehnt verstärkt beobachten. Damit wird die gemeinschaftliche Nutzung von ehemals privaten Gütern bezeichnet, die nun zu Clubgütern werden – also zu Gütern, die gepoolt einem bestimmten Kreis von Konsumierenden zur Nutzung offenstehen.

Ursachen und Treiber solcher kollaborativer Prozesse sind dabei auf der einen Seite ein angesichts dramatischer ökologischer und ökonomischer Krisensituationen wiedererstarkendes Bewusstsein für die Bedeutung der Gemeinschaft und auf der anderen Seite die technischen Möglichkeiten neuer digitaler und internetbasierter Technologien (in erster Linie Peer-to-Peer-Netzwerke). Der Trendforscherin Rachel Botsman und dem Unternehmer Roo Rogers zufolge verstärken sich diese Ursachen wechselseitig und führen aus dem Hyperkonsum des 20. Jahrhunderts zum kollaborativen Konsum des 21. Jahrhunderts. Damit würde sich dann aber auch die Logik des Kapitalismus der sich in den vergangenen 40 Jahren ja vor allem als Konsumkapitalismus gezeigt hat, grundlegend wandeln. Denn wenn private Güter zunehmend von Clubgütern kollaborativer Nutzung abgelöst werden, hat das auch weitreichende Folgen für die Art und Weise, wie Unternehmen Produkte und Dienstleistungen in Zukunft entwickeln und anbieten werden.

Kollaborative Innovation

Gerade das Phänomen von Peer-to-Peer-Netzwerken weist in Richtung einer neuen Innovationsform: der kollaborativen Innovation. Damit sind Neuerungen gemeint, die eine Folge einer auf Vertrauen basierenden Kommunikation und Interaktion von Gleichgestellten sind, die eigenmotiviert und gemeinschaftlich an Problemlösungen arbeiten. Eine zentrale Rolle spielen dabei die „Prosumer“. Der US-amerikanische Schriftsteller Alvin Toffler beschrieb diesen neuen Typus zwischen passiv Konsumierenden und aktiv Prosumierenden bereits vor mehr als drei Jahrzehnten in seinem Buch „The Third Wave“: Prosumer sind an der Herstellung ihrer eigenen Gebrauchsgegenstände mitbeteiligt. Sie wollen – und können – sich also aktiv in den Produktionsprozess für eigene Zwecke einmischen. Was mit der Bereitstellung von Bankautomaten begann, hat sich heute bis weit in die Wirtschaft hineingearbeitet. So wurden aus den Prosumern Tofflers die Prosumierenden von heute und morgen, die ihr ökonomisches und gesellschaftliches Umfeld noch weitaus aktiver gestalten und mittels neuer Technologien die von ihnen gewünschten und mitentwickelten Produkte auch viel eigenständiger produzieren können. Im Retail-Bereich werden solche Prosumierenden zu Ko-Innovatoren und Markenbotschaftern, bei der Energieerzeugung gibt es seit vielen Jahren eine Unzahl an Bürgerenergiegenossenschaften, im Spielzeuggeschäft hat Lego gute Erfahrungen mit User Innovation gemacht. Drei Formen kollaborativer Innovation lassen sich dabei unterscheiden:

  • Integration von Nutzenden in offene Innovationsprozesse: Potenzielle Nutzerinnen und Nutzer werden mittels Innovationsworkshops von Anfang an in die Definitions- und Konzeptionsphase eines Innovationsprozesses eingebunden. So können vor allem die vielfältigen Perspektiven auf soziale Nebenfolgen einer Innovation aufgedeckt werden.
  • Prosuming im weiteren Sinne: Ehemals passiv Konsumierende werden in ihrem Konsumverhalten beeinflusst und vom Ende der Wertkette her in den Wertschöpfungsprozess integriert. Ein möglicher Weg sind die bereits erwähnten Energiegenossenschaften.
  • Kollaboratives Produzieren (Prosuming im engeren Sinne): Digitale Wissenstransfers und dezentrale Technologien wie 3-D-Druck ermöglichen eigenproduktive Tätigkeiten bei ehemals passiv Konsumierenden – eine „peer production“ analog zu Wikipedia. Hier tun sich Berührungspunkte zu Strategien auf, die sich an Suffizienz (anders und weniger konsumieren) und Subsistenz (Reparatur und Eigenproduktion zur Selbstversorgung) orientieren.

Alle drei Formen kollaborativer Innovation erfordern eine Öffnung von Innovationsprozessen in ihrer ganzen Breite für unternehmensfremde „Innovatoren“. Das umfasst nicht nur die unmittelbare wirtschaftliche Verwendung einer klassischen Innovation am Markt, sondern auch die Gestaltung von Innovationen hinsichtlich ihrer sozialen und ökologischen Wirkungen.

Während Unternehmen bei klassischen Innovationen direkt oder indirekt exklusiven Zugang zu dabei gewonnenem und verwendetem Wissen sicherstellen können, entgleitet ihnen die Kontrolle vor allem bei sozialen und kollaborativen Innovationen. Aber dieses Entgleiten ist zwingend notwendig, wenn der Mehrwert solcher Innovationsformen sichergestellt werden soll. Dabei wird vor allem das Management von Innovationsgemeinschaften wichtig. Eine solche Innovationsgemeinschaft besteht aus dem Unternehmen und allen wertschaffenden Partnern, insbesondere den Prosumierenden. Herausfordernd für das Management dieser Gemeinschaft ist der Umstand, dass die beteiligten Akteure dem direkten Zugriff entzogen sind: Es gibt keine Möglichkeit der Steuerung durch Anweisungen oder Incentives wie Karrierewege oder monetäre Boni. Die Anreize, sich aktiv einzubringen und eigene Vorstellungen gemeinsam mit dem Unternehmen und anderen Prosumierenden umzusetzen, liefert der kollaborative Prozess selbst – und das Interesse der Prosumierenden am fertigen Ergebnis des Innovationsprozesses, an der konkreten Lösung für ein Problem ihres Alltags. Dabei bekommt man es mit zwei grundlegenden Herausforderungen zu tun:

  • Gestaltung offener Innovationsprozesse: Kunden sind keine passiven „Wertvernichter” mehr, sondern aktive Partner der eigenen Wertschöpfungskette. Um kollaborative Innovationen vorzubereiten, helfen niederschwellige Einbringungsmöglichkeiten wie Online-Plattformen oder Extranets, aber auch Innovationsworkshops auf Messen und Lead-User-Netzwerke (auch als Fokusgruppen). Stärkere Synergien können geschaffen werden durch eine Einbindung in das betriebliche Stakeholder-Management und dessen Instrumente (etwa Stakeholder-Dialoge oder -Konferenzen). Die Personengruppen, die dabei aktiviert werden, haben in der Regel kein unmittelbares wirtschaftliches Interesse. Doch gerade diese eher unternehmensfernen Wissensbestände eröffnen wertvolle Perspektiven für soziale und ökologische Mehrwerte.
  • Produkte als sinnstiftende Motivationsangebote: Damit aus Kunden Prosumierende in kollaborativen Innovationsprozessen werden, gilt es, die eigenen Produkte als sinnstiftende Motivationsangebote zu verstehen und darzustellen. So kann eine indirekte Steuerung kollaborativer Prozesse erfolgen. Wer sich von einem Produkt angezogen fühlt, wird sich eher freiwillig an dessen Verbesserung beteiligen. Es geht also darum, Produkte und Lösungen mit Sinnkomponenten anzureichern, die nicht mehr rein funktional definiert sind. Im Vordergrund eines solchen Angebots steht weniger, was man mit dem Produkt machen, sondern welche positiven Auswirkungen es auf die Gesellschaft insgesamt haben kann.

In solchen Innovationsgemeinschaften wird ein Wissen erzeugt, das nicht mehr dem Unternehmen allein gehört. Die Ergebnisse lassen sich als „Epistemic Commons“ bezeichnen, als „Wissensgemeingüter“. Diese führen auch zu neuen kulturellen und emotionalen Erkenntnissen sowie zur Schaffung ganz neuer Produktbedeutungen, die sich zum Beispiel aus Fragen ergeben wie: Was soll dieses Produkt eigentlich sein? Für was und für wen ist es gut? Welche Folgen hat seine Herstellung und Nutzung für Gesellschaft insgesamt? Bei kollaborativen Innovationen verschiebt sich dann auch die Frage nach dem „Eigentum“, da es weniger um die materiellen Produkte geht, sondern das „Eigentum“ gewissermaßen in den sozialen Beziehungen selbst liegt, in der Frage: Mit wem kann sich das Unternehmen vernetzen, und wie motiviert es seine Kunden zum aktiven Prosumententum und zur Kollaboration?

Was ein solches kollaboratives Management sozialer Innovation aber vor allem braucht, ist Gelassenheit. Denn Innovationsprozesse finden nicht mehr allein im Unternehmen statt, auch nicht mehr nur zwischen Unternehmen und aktiv Prosumierenden, sondern zunehmend auch zwischen den Prosumierenden selbst. Sie bilden eigene Gemeinschaften neuer sozialer Praktiken, tauschen sich über Produkte und deren Nutzung und Veränderung aus – und schaffen damit Neues, sogar die Neuerfindung des Neuen.

Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Paul Gilding: The Great Disruption (Bloomsbury Publishing, 2011)
ROMAN
Pankaj Mishra: From the Ruins of Empire (Straus & Giroux, 2012)
FILM
Ad Astra von James Gray (2019)
Ein faszinierendes Buch über die großen Verwerfungen, die am Ende der Spätmoderne, des Konsumkapitalismus und der multiplen ökologische Krisen auf uns warten – aber auch auf die Möglichkeiten, nun tatsächlich Gesellschaft zu verändern im positiven, im nachhaltigen Sinn. Angesichts millionenfacher Fridays-for-Future-Proteste weltweit ein beinahe prophetisches Buch aus dem Jahr 2011.
Ich lese keine Romane, deswegen ein weiteres Sachbuch, aber zu einem ganz anderen Thema: Ein Blick auf die gewaltsame europäische Expansion nach Asien im 18. und 19. Jahrhundert – wirtschaftlich, politisch, kulturell – aus asiatischer Perspektive. Für uns Europäer, die immer noch an einem eurozentrischen Weltbild leiden, ist so ein Wechsel der Blickrichtung wichtiger Teil mentaler Hygiene.
James Gray gelingt ein ruhiger, bildgewaltiger Science-Fiction-Film, der völlig anders als Christopher Nolans Interstellar oder manche Eskapistenträumereien von Elon Musk den Fokus auf uns Menschen als zutiefst soziale und erdgebundene Wesen schärft. Je weiter wir uns von der Erde entfernen, umso mehr verlieren wir unsere Menschlichkeit und alles, was uns als Menschen ausmacht.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1/2020 INNOVATION in der Rubrik HORIZONT erschienen. In dieser Rubrik erkunden wir neue gesellschaftliche Wirklichkeiten sowie konkrete Veränderungsmöglichkeiten.
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