Seuchen als soziale Katastrophen | Christoph Butterwegge

Schild: Social DistancingFoto: Belinda Fewings | Unsplash

 

Seuchen als soziale Katastrophen

Von der Pest bis zur Covid-19-Pandemie

Text: Christoph Butterwegge | Gastbeitrag

Seuchen, Epidemien und Pandemien gelten vielfach als Naturkatastrophen, obwohl sie im Unterschied zu Tornados und Tsunamis überwiegend von Menschen gemacht, mitverschuldet oder selbst verantwortet werden. Stellt man Seuchen als Naturkatastrophen wie Stürme oder Flutwellen dar, bleiben ihre ökologischen und sozialen Wurzeln im Dunkeln.

Erscheinungsformen und Entstehungsursachen von Epidemien

Mikroorganismen, Bakterien und Viren gehören seit jeher zum menschlichen Leben. Krankheitserreger sind aus der Menscheitsgeschichte nicht wegzudenken. Als die Menschen sesshaft und zu einer in Siedlungen relativ eng zusammenlebenden Gesamtpopulation wurden, in der man sich leicht mit Krankheitserregern infizieren und gegenseitig anstecken kann, traten Seuchen auf. Und sie kamen, um sich zu vermehren und zu bleiben.

Über die tiefer liegenden Entstehungsursachen von Seuchen wurde in der Vergangenheit und wird auch in der Gegenwart außerhalb kritischer Fachzirkel wenig diskutiert, obwohl die Verbreitung weiterer für Menschen gefährlicher Virenstämme zu erwarten und eine Welle neuer Epidemien in naher Zukunft keinesfalls ausgeschlossen ist. Prinzipiell gilt, dass die Epidemiologie biologische, soziale und kulturelle Determinanten berücksichtigen muss, wenn sie den komplexen Ursachenzusammenhang der Seuchen verstehen will.

Häufig vernachlässigt werden aber die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, unter denen eine Infektionskranheit entsteht und sich ausbreitet. Begünstigt wird die Entstehung von Epidemien und Pandemien nicht zuletzt durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, unter denen die Hauptrisikogruppen am meisten leiden: Armut und soziale Ungleichheit, schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen, miserable Wohnverhältnisse, Mangelernährung und fehlende Hygiene. Vor allem Armut fungiert als Schrittmacher unterschiedlicher Epidemien, die wiederum zur Verarmung und Verelendung großer Personengruppen beitragen.

Die gesellschaftlichen Folgen pandemischer Infektionskrankheiten

Infektionskrankheiten haben oft genug Not, Elend und Verderben für die davon unmittelbar oder mittelbar Betroffenen mit sich gebracht, aber auch die ökonomische, soziale und politische Entwicklung ganzer Kontinente beeinflusst. Krankheiten, die von Mensch zu Mensch übertragen werden können und extrem ansteckend sind, zerstören deren Zusammenleben, weshalb sie Gesellschaften ins Mark treffen. Deshalb gehören Infektionskrankheiten zusammen mit größeren Wirtschafts- und Finanzkrisen, schweren Erdbeben, Starkregen, Flutwellen und anderen Naturkatastrophen sowie Kriegen und Bürgerkriegen zu den einschneidendsten Erlebnissen für die betroffenen Menschen.

Auf die Sozialstruktur der von ihnen betroffenen Gesellschaften wirken Seuchen keineswegs einheitlich, sondern ganz unterschiedlich ein. Egalisierende bzw. nivellierende Effekte lassen sich ebenso feststellen wie polarisierende, die jedoch in einer historischen Gesamtschau deutlich zu überwiegen scheinen. Zumindest in Ausnahmefällen haben Seuchen zur Verringerung der sozialen Ungleichheit beigetragen, wenn auch immer bloß vorübergehend. Dies passierte hauptsächlich bei der mittelalterlichen Pest, die rund ein Drittel der europäischen Gesamtbevölkerung dahinraffte. Man kennt zwei Gründe für die leichte Tendenz zur sozialen Egalisierung, deren Wirkung nur kurze Zeit anhielt: den Verfall der Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise (aufgrund fehlender Bewohner*innen) einerseits sowie den Anstieg der Löhne (aufgrund fehlender Arbeitskräfte und einer gestärkten Verhandlungsposition der überlebenden gegenüber ihren Arbeitgebern) andererseits.

Verallgemeinern darf man diesen Befund allerdings nicht, weil häufiger auch das Gegenteil zutraf. Denn oft verschärften Seuchen die soziale Ungleichheit noch. Ungleichheit, die keine anthropologische Konstante, sondern von Menschen gemacht oder im Prozess ihrer Entstehung wesentlich beeinflusst und daher immer auch reversibel ist, wird von Seuchen oft noch verschärft.

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Pandemien der Neuzeit und ihr Einfluss auf die Gesellschaftsentwicklung

Die soziale Ungleichheit war nicht bloß das Resultat, sondern bildete teilweise auch den Ausgangspunkt von Seuchen. So wüteten die bakteriellen Epidemien, welche Deutschland im 19. Jahrhundert wiederholt heimsuchten, als der Prozess einer stürmischen Industrialisierung mit Urbanisierungs-, Proletarisierungs- und Verelendungstendenzen einherging, aufgrund der oft sehr beengten Wohnverhältnisse, der katastrophalen Arbeitsbedingungen und der unhygienischen Lebensumstände hauptsächlich in den Arbeitervierteln großer Städte.

Fabrikanten, Bankiers, Geschäftsleute und akademisch Gebildete, die mit ihren Familien in den besseren Wohnquartieren lebten, blieben von Cholera, Tuberkulose und Typhus abdominalis hingegen weitgehend verschont. Statt sich ihrer sozialen Privilegierung bewusst zu sein, schauten die meisten Bewohner*innen der Villengegenden auf das „gemeine Volk“ herab und machten es für seine gesundheitliche Misere selbst verantwortlich. Dabei konzentrierten sich die Vorwürfe auf angeblich unvorsichtiges und unmoralisches, sexuell ausschweifendes Verhalten. Weil sich die Bessersituierten nicht bloß aus einem wachsenden sozialen Abgrenzungsbedürfnis heraus, sondern auch wegen ihrer Furcht davor, selbst zu erkranken, räumlich immer mehr gegenüber den Proletariern abschotteten und die Armen damit ihrem Schicksal überließen, kam es zu einem Teufelskreis der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit, wenn das Infektionsrisiko dieser Personengruppe aufgrund ihrer sozialen und räumlichen Ausgrenzung wuchs.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat mit der Cholera Morbus (Brechruhr) eine ausgesprochen „unsoziale“ Infektionskrankheit auf. Das erst 1882/83 von dem Arzt, Mikrobiologen und Bakteriologen Robert Koch nachgewiesene Cholerabakterium verbreitete sich hauptsächlich da, wo Menschen eng zusammenwohnten, eine moderne Kanalisation fehlte und Abwässer ungeklärt in Flüsse oder Seen gelangten. Die letzte große Choleraepidemie, die es in Europa gab, traf das ökonomisch und sozialräumlich wie kaum eine andere Stadt zerrissene Hamburg. Dort erkrankten im August/September 1892 fast 17.000 Menschen, von denen rund die Hälfte verstarben. Auf den Bau von Sandfilteranlagen zur Reinigung des Trinkwassers hatten Bürgerschaft und Senat der Hansestadt aus Kostengründen ebenso verzichtet wie auf die Verlegung von Rohren des Abwassersystems über den Hafen hinaus elbabwärts. Während die „Pfeffersäcke“ in ihren Villenvierteln von der Cholera kaum betroffen waren, wütete der Erreger unter den Armen im Gängeviertel, wo Plumsklos und Kloaken vorherrschten.

Zu den Infektionskrankheiten mit sozial extrem selektiver Verbreitung gehört auch die Tuberkulose (Tbc): Arme fallen ihr eher zum Opfer als Wohlhabende und Reiche. Als „weiße Pest“, „Schwindsucht“ oder „Proletarierkrankheit“ bezeichnet, erreichte die Tuberkulose hierzulande ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

An der Spanischen Grippe, die am Ende des Ersten Weltkrieges von US-amerikanischen Soldaten nach Europa gebracht und danach von Heimaturlaubern, Verletzten und Kriegsgefangenen über Tröpfchen- und Kontaktinfektionen fast auf der ganzen Erde verbreitet wurde, starben möglicherweise über 50 Millionen Menschen. Dass die Spanische Grippe anfangs von der Weltöffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen wurde, kaum Spuren hinterlassen hat und im kollektiven Gedächtnis der Menschheit erst aufgrund der Covid-19-Pandemie den ihr gebührenden Platz findet, hängt in erster Linie mit der zeitlichen Nähe zum Weltkrieg zusammen, der auch deshalb eine historische Zäsur war, weil ihm revolutionäre Umbrüche, Systemwechsel, Flüchtlingsströme und Hyperinflationen folgten.

Die COVID-19-Pandemie und der ökonomische Raubbau der Gegenwart

Vor allem Zoonosen, also von Tieren auf Menschen übertragene Krankheiten wie COVID-19, haben sehr stark mit der Art und Weise zu tun, wie man Natur, Flora und Fauna behandelt. Von der industriell betriebenen Landwirtschaft und den agrarischen Monokulturen bis zum Wildtierhandel und -schmuggel reicht die ökologische Systemkrise, deren Resultat sowohl Epidemien wie Pandemien sind, unter denen die Menschheit in Zukunft vielleicht noch stärker leiden wird als in Vergangenheit und Gegenwart. Um die artenreichen und widerstandsfähigen Ökosysteme zu erhalten sowie die genannten Risiken zu reduzieren, bedarf es menschlicher Gesellschaften, die sensibler für das Problem sind, weil nicht mehr das Privateigentum das Wirtschaftssystem und die Jagd nach dem Maximalprofit das Handeln ihrer einflussreichsten Mitglieder dominiert.

Nur wenn man ökonomische Globalisierungsprozesse und die neoliberale Verabsolutierung des Freihandels ebenso berücksichtigt wie die verharmlosend „Klimawandel“ genannte Erd(üb)erhitzung, die Zerstörung der natürlichen Lebensräume von Mensch und Tier (Eingriffe in die Ökosysteme, Abholzung tropischer Regenwälder und Massen- bzw. Intensivtierhaltung) sowie das Schwinden der Biodiversität durch vermehrtes Artensterben, werden die Zirkulation und die Transmission gefährlicher Viren verständlich.

Christoph Butterwegge
Christoph Butterwegge war von 1998 bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Am 18. Mai 2022 ist sein neues Buch Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona bei Beltz Juventa erschienen. Mehr zum Buch.
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