Stuttgart 2045 by Reinventing Society / Render Vision, CC BY-NC-SA 4.0
Utopien erfahrbar machen
Interview mit Stella Schaller | Reinventing Society
Wie kann eine Zukunft aussehen, in der die Gesellschaft im Einklang mit den planetaren Grenzen steht und das Wohl von Menschen vor Profite gestellt wird? Die Schwierigkeit, sich eine solche Zukunft vorstellen zu können, lässt sicherlich die eine oder den anderen resigniert zurück.
Dieser Mangel an utopischen Ideen ist der Ansatzpunkt des Zentrums für Realutopien. Das Zentrum wurde Ende 2020 von Menschen mit verschiedenen fachlichen Hintergründen ins Leben gerufen und versteht sich als ein Think-and-Do-Tank. Ihr Anspruch: „Reinventing Society“. Sie wollen „gesellschaftliche Utopien eines guten Lebens innerhalb planetarer Grenzen“ entwickeln und Menschen dazu befähigen, „die eigenen und systemischen Zukunftspotenziale zu verwirklichen“. Dazu führen sie Workshops durch und bieten Beratung für Individuen, Gruppen und ganze Organisationen an.
WIR HABEN BEI STELLA SCHALLER, EINER DER GRÜNDER*INNEN, NACHGEFRAGT:
Was sind „Realutopien“ im Unterschied zu anderen Utopien?
Utopien sind Sehnsuchtsorte und können als positive Leitsterne für gesellschaftliche Entwicklungen dienen. Realutopien dagegen sind konkrete zukunftsweisende Ansätze für die Verwirklichung einer lebenswerten, regenerativen und gerechten Gesellschaft, die bereits heute existieren. Es gibt sie überall – in Organisationen, im Verkehr, in der Politik, in der Bildung, im Bausektor … Beispiele reichen von Verantwortungseigentum über begrünte Hausdächer und regenerative Architektur bis hin zur Donut-Ökonomie, ethischen Krediten und Permakultur-Landwirtschaft. Die Beschäftigung mit Realutopien hilft, Ängste vor der Zukunft und dem notwendigen Wandel einzufangen und sich auf etwas Neues auszurichten. Wichtig ist: Realutopien sind auch nicht perfekt – sie enthalten eben nur die nächstbesseren Systemlogiken.
Wie verhalten sich Ihre Realutopien zu den bestehenden kapitalistischen auf Gewinnmaximierung und Konsumsteigerung ausgerichteten Verhältnissen?
Was uns in den nächsten Jahren gelingen muss, ist der Wechsel von einer egozentrierten Perspektive zu einer systemischen Perspektive – also ein grundlegender Wandel unserer Selbstwahrnehmung im planetaren Gefüge. Unsere Wirtschaft ist eingebettet in die Biosphäre, nicht umgekehrt. Ein auf Profit und Wachstum gepoltes System ist auf Dauer instabil und untergräbt unsere Lebensgrundlagen. Kritische Kippunkte nahen bereits in essenziellen Systemen. Realutopien helfen dabei, unser Weltbild und Selbstverständnis neu zu definieren und andere Wege einzuschlagen. Was ist unsere Aufgabe als Mensch in der Evolution? Können wir dem Leben auf der Erde dienen und einen positiven Einfluss haben? Sie zeigen uns, was für Prinzipien uns in eine nachhaltige Zukunft führen können, beispielsweise Kooperation und Ko-Kreation statt Konkurrenz, Miteinander statt Gegeneinander, Regeneration statt Extraktion.
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Warum braucht es ein Zentrum für Realutopien? Fehlt es an (utopischer) Vorstellungskraft? Wenn ja, warum?
Um über Alternativen zum Bestehenden nachdenken zu können und die eigene Vorstellungskraft zu aktivieren, brauchen Menschen geistige Freiräume. Diese entstehen aber nicht unter klassischen Marktlogiken oder Stressbedingungen. Viele Menschen können sich gar nicht vorstellen, wie eine schönere, bessere Welt überhaupt aussehen soll. In den Medien dominieren Zukunftsentwürfe, die weder besonders inspirierend noch greifbar sind. Meistens geht es um Verzicht und die Last durch Klimaschutz, um Untergangszenarien oder die neuesten smarten Roboter und Technologien, die alle meine Wünsche ablesen können. In Unternehmen heißt es dagegen oft, man müsse sich transformieren, um mit der Digitalisierung und dem Markt mitzuhalten. Veränderung ist nötig, aber wer vermittelt wirklich inspirierende Formen des Zusammenlebens, der Zusammenarbeit oder der nachhaltigen Fortbewegung? Was für Visionen geben uns Halt und Orientierung? Klar ist, es fehlen Geschichten und Zukunftsbilder von grünen, lebenswerten Städten und intakter Natur, von gelingenden Beziehungen und wertschätzender Kommunikation, von Zeitwohlstand, Freude und Leichtigkeit. Mit dem Zentrum für Realutopien helfen wir Menschen, sich von der wahrgenommenen Alternativlosigkeit und inneren Blockaden zu lösen und wieder Motivation, Hoffnung und Sinn zu empfinden. Letztendlich schreiben wir selbst die Story unserer Gesellschaft, den kollektiven Mythos unserer Zeit.
Wenn Alternativen vorstellbar sind, warum können wir sie nicht umsetzen? Wie helfen uns Realutopien oder Reallabore dabei?
Viele Lösungen stecken noch in Nischen und sind in der öffentlichen Diskussion wenig sichtbar. Von der Gemeinwohl-Ökonomie zum Beispiel hat bisher nur ein Teil der Bevölkerung gehört, dabei ist sie enorm vielversprechend. Oft, wenn Alternativen sichtbar werden, ist das auch erstmal ein Schock, weil es bedeutet, dass ich meine Gewohnheiten womöglich ändern oder Verantwortung übernehmen muss. Nicht wenige reagieren mit Verdrängung und bleiben lieber in den alten Mustern. Auch in der Politik fehlt es an Mut, Neues durchzusetzen. Natürlich gibt es bei tiefgreifenden Veränderungen aber auch komplexe Zielkonflikte und es muss eine Weile experimentiert werden, bis ein neuer stabilerer Zustand erreicht ist.
Realutopien helfen uns dabei, weil sie das Neue erfahrbar machen und einige Vorbehalte ausräumen. Sogenannte „Reallabore“ sind Orte des Ausprobierens. Wissenschaft und Praxis kommen hier zusammen, um radikal neue zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln und zu erproben. Diese Pionierprojekte sind deswegen so wichtig, weil sie Bilder und Erfahrungen liefern, wie unser Leben in einer nachhaltigeren Welt aussehen und funktionieren könnte.
Ein besonders wichtiger Hebel für Transformation ist außerdem die Auseinandersetzung mit innerpsychischen Dynamiken. Unsere Emotionen, Mentalitäten, Werte, Normen und Idealvorstellungen wie auch tiefsitzende Traumata bestimmen zu einem großen Anteil unser kollektives Handeln. Wenn wir unsere Lebensweise grundlegend ändern wollen, kommen wir also um die psychologische, ethische und spirituelle Dimension unseres Daseins nicht mehr herum.
Dieser Text ist zuerst in agora42 3/2021 DAS GUTE LEBEN in der Rubrik LAND IN SICHT erschienen.
Infothek für Realutopien
Wie könnte eine regenerative Zukunft aussehen? Das Zentrum für Realutopien / Reinventing Society hat eine Sammlung an utopischen Visualisierungen angelegt, um positive Zukünfte erfahrbar zu machen und neue Horizonte zu öffnen. Die Grafiken sind mit einer Creative Commons Lizenz ausgestattet, sodass sie für nicht-kommerzielle oder journalistische Zwecke kostenfrei weiterverwendet werden dürfen.
Straße des 17. Juni – Berlin autofrei
Die Straße des 17. Juni ist gegenwärtig eine sechsspurige Bundesstraße, die den Erholungspark und Naturraum “Tiergarten” zerschneidet und eine große Barriere für Mensch und Tier darstellt. In der Vision würden die Straßen mit großen Bäumen besäumt und als eine verbindende Parkallee gestaltet werden.
Foto: Tom Meiser & Timo Schmid, CC BY-NC-SA 4.0
Frankfurt ist im Jahr 2045 Vorreiterin eines nachhaltigen Finanzwesens geworden, das die Bedürfnisse des Planeten und der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Viele geschützte grüne Freiräume durchziehen die Stadt. Menschen bewegen sich gerne zu Fuß durch die Innenstadt auf den breiten, ehemals durch Autoverkehr dominierten Freiflächen.
Foto: Reinventing Society / Render Vision, CC BY-NC-SA 4.0
Das Bild wurde für das Buch „Utopia 2048“ von Lino Zeddies in Auftrag gegeben, um ein utopisches Köln des Jahres 2048 darzustellen, eine futuristische Stadt der Nachhaltigkeit, Schönheit und Lebendigkeit.
Foto: Aerroscape, Lino Zeddies, CC BY-NC-SA 4.0
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