Verschwörungsmythen sind nicht erst seit der Corona-Pandemie weit verbreitet | Interview mit Katharina Nocun

Schriftzug auf HolzwandFoto: The Blowup | Unsplash

 

Verschwörungsmythen sind nicht erst seit der Corona-Pandemie weit verbreitet

Interview mit Katharina Nocun

Frau Nocun, Sie sind Ökonomin und Netzaktivistin, Ihre Mitautorin Pia Lamberty ist Psychologin. In Ihrem Buch Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen (Quadriga Verlag, 2020) weisen Sie darauf hin, dass nicht einige wenige Sonderlinge für Verschwörungserzählungen anfällig sind, sondern wir alle. Was macht uns anfällig?

Also grundsätzlich muss man verstehen, dass Verschwörungsgläubige sich nicht sonderlich vom Durchschnitt der Bevölkerung unterscheiden. Es gibt zwar Besonderheiten, aber grundsätzlich tragen wir alle Veranlagungen in uns, die dazu führen können, dass wir solche Erzählungen in bestimmten Situationen unseres Lebens attraktiv finden.

Sehr gut wissenschaftlich untersucht ist, dass Situationen von Kontrollverlust dazu führen können, dass man Verschwörungserzählungen Glauben schenkt. Das Gefühl des Kontrollverlusts kann durch eine überraschende Trennung, Arbeitsplatzverlust, aber auch durch politische und wirtschaftliche Unsicherheiten ausgelöst werden. Im Zuge der Pandemie sind Menschen auf ganz unterschiedlichen Ebenen – im privaten, im beruflichen, aber auch im politischen Bereich – mit großen Unsicherheiten konfrontiert worden. Solche Unsicherheiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass einige Menschen sich Verschwörungsideolog*innen zuwenden.

Wir neigen aber alle zur Annahme, dass große Ereignisse entsprechend große Ursache haben müssten. Einige Menschen meinen, dass hinter dem Tod von Prominenten, Terroranschlägen oder Katastrophen große Pläne stecken müssen, weil solche Ereignisse als sehr groß und sehr wirkmächtig wahrgenommen werden. Aufgrund dieser Neigung fällt es einigen Menschen schwer zu glauben, dass eine ganz zufällige Mutation eines winzigen Virus dafür gesorgt hat, dass dieses Virus erst vom Tier auf den Menschen und dann von Mensch zu Mensch übertragen werden konnte. Verschwörungserzählungen, die besagen, dass es sich um eine biologische Waffe handeln würde, kommen dieser Neigung entgegen und erscheinen daher irgendwo attraktiv: Die Ursache des Ereignisses scheint gefühlsmäßig auf einer Ebene mit seiner Tragweite zu liegen. Aber der genetische Code des Virus wurde wissenschaftlich sehr intensiv untersucht, mit dem Ergebnis, dass keine Hinweise gefunden wurden, dass es künstlich hergestellt oder manipuliert wurde.

 

Es sind also nicht einfach die älteren, bildungsfernen Männer aus den unteren Klassen, welche für Verschwörungserzählungen empfänglich sind, sondern die Verunsicherten aus allen sozialen Gruppen?

Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass Männer ein bisschen anfälliger sind als Frauen. Auch ein niedriger formeller Bildungsgrad geht eher mit dem Glauben an Verschwörungen einher, prekäre Arbeitsverhältnisse können ebenfalls eine Rolle spielen. Wenn ich einen niedrigeren Bildungsabschluss habe, sind meine Möglichkeiten im Berufsleben eingeschränkter, ich habe eher schlechter bezahlte Jobs, die mit einer größeren Wahrscheinlichkeit unsicher sind. Damit steigt die Gefahr, ein Gefühl von Kontrollverlust zu verspüren. Allerdings würde ich vor der Annahme warnen, dass das die Risikogruppen sind und alle anderen nicht anfällig sind. Kontrollverluste können auch Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen erleiden. Im Verschwörungsmilieu trifft man auch auf Menschen mit Doktor- oder auch Professor*innentitel, die beispielsweise Verschwörungserzählungen zum Thema Corona verbreiten.

 

Wenn Verunsicherungen, Ängste und das Gefühl, den Gang des eigenen Lebens kaum oder gar nicht beeinflussen zu können, dermaßen wichtig sind, liegt es dann nicht nahe, einen Zusammenhang zwischen dem Abbau sozialer Sicherungen und der Verbreitung von Verschwörungserzählungen zu vermuten?

Naja, das müsste man systematisch untersuchen. Wirtschaftliche Unsicherheit spielt eine Rolle, aber es gibt auch viele andere Formen von Unsicherheit. Wenn sich beispielsweise im Rahmen von Gleichberechtigung und Emanzipation die Geschlechterrollen in der Gesellschaft ändern, kann das bei manchen auch Ängste und Unsicherheiten auslösen. Politische Unsicherheiten, beispielsweise Unklarheit darüber, wie die nächste Bundesregierung aussieht oder die Vermutung, dass starke Veränderungen auf uns alle zu kommen, können auch Ängste auslösen. Auf der privaten Ebene kann der Verlust des Partners oder der Partnerin einen sehr krassen Einschnitt im Leben eines Menschen markieren.

Also wirtschaftliche Sorgen spielen eine Rolle, aber sie sind nicht der einzige Faktor. Ich würde davor warnen, anzunehmen, wenn wir ein Gesellschaftssystem hätten, in dem wir alle wirtschaftlich abgesichert sind, in dem es beispielsweise keine prekäre Beschäftigung gibt, keine Ein-Euro-Jobs, kein Hartz-IV, sondern eine angemessene Grundsicherung von Menschen, dass in einem solchen System keine Verschwörungserzählungen kursieren würden. Gleiches gilt auch für einen vollständig transparenten Staat. Es wird immer Menschen geben, die an Verschwörungsmythen glauben. Das sieht man gut an den vielen Verschwörungsmythen zum Thema Wissenschaft. Es werden wissenschaftliche Erkenntnisse infrage gestellt, obwohl die Wissenschaft einer der transparentesten Bereiche unserer Gesellschaft ist: Studien werden veröffentlicht, man kann sie nachprüfen und so weiter und so fort. Trotzdem glauben beispielsweise manche Menschen daran, dass die Erde flach wäre und es werden Verschwörungserzählungen verbreitet, denen zufolge die Wissenschaft Wissen unterdrücken würde. Nein, das Wissen wird nicht unterdrückt. Das vermeintliche Wissen von der flachen Erde wird nicht diskutiert, weil es einfach Quatsch ist.

 

Wirkt es auf manche Menschen beruhigend, unkontrollierbare natürliche Prozesse wie den Ausbruch der Corona-Pandemie durch die vermeintlichen Machenschaften böser Individuen zu ersetzen?

Wenn man an eine Verschwörungserzählung glaubt, dann hat man Struktur ins Chaos gebracht – zumindest gefühlt. Man hat das Gefühl, es gibt einen bösen Plan, der alles steuert. Das ist nicht schön, aber zumindest kennt man den vermeintlichen Plan und man kann Schuldige benennen. Das hilft einigen Menschen, mit solchen Situationen umzugehen. Man muss aber sagen, dass Verschwörungsmythen nicht erst seit der Corona-Pandemie in der Bevölkerung weit verbreitet sind. Laut der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung weisen 38 Prozent der Deutschen eine so genannte Verschwörungsmentalität auf, das heißt, dass sie zwar nicht explizit Verschwörungsmythen anhängen, aber grundsätzlich offen für derartige Erzählungen sind. Verschwörungsmythen haben schon vor der Pandemie in unterschiedlichen Bereichen eine große Rolle gespielt, beispielsweise in dem Milieu, das Impfungen grundsätzlich ablehnt. Da wurde schon immer vereinzelt auf Verschwörungsmythen zurückgegriffen, um zu erklären, warum die Studien, die von den Impfgegner*innen angeführt werden, in der Wissenschaft als wiederlegt oder als falsch gelten. Auch in der rechtsextremen Szene haben Verschwörungsmythen schon vor der Corona-Pandemie eine enorme Rolle gespielt. Für die rechtsextremen Attentate der letzten Jahre war der Glaube an Verschwörungsmythen von entscheidender Bedeutung.

 

Warum fungiert gerade die Corona-Pandemie als Kristallisationspunkt?

Weil sie sich wunderbar mit zuvor existierenden Verschwörungserzählungen kombinieren lässt. Es gibt beispielsweise Menschen, die schon immer geglaubt haben, dass Mobilfunkstrahlung in irgendeiner Weise schädlich wäre, dass damit sogar Gedankenkontrolle möglich wäre. Jetzt treten Leute mit der Behauptung auf, dass die Strahlung Covid-19 verursachen würde. Menschen, die schon vor der Pandemie meinten, Impfungen seien giftig oder würden genutzt, um Menschen zu steuern – teilweise existieren sehr überzogene Vorstellungen davon, was technisch oder medizinisch möglich ist –, beteiligen sich jetzt an Debatten über mögliche Impfungen gegen Covid-19. Auch da wird sehr schnell ein großer Plan gewittert.

Große Ereignisse waren schon immer Kristallisationspunkte für Verschwörungsmythen oder für Verschwörungsideolog*innen. Die Pandemie ist so ein großes globales Ereignis, das unsere Leben in jeder Art und Weise verändert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass solche Erzählungen derzeit die Verschwörungsszene dominieren.

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Sie weisen in Ihrem Buch auf skandalöse Machenschaften hin: Kartelle, den Diesel-Skandal, Cum-Ex-Deals oder das systematische Sähen von Zweifeln an der Klimakrise. Sind diese tatsächlichen Machenschaften zu langweilig, um Verschwörungsgläubige zu mobilisieren?

Das würde ich nicht sagen. Wenn wir uns die Demonstrationszahlen anschauen – wie viele Menschen beispielsweise bei Fridays for Future-Demonstrationen teilgenommen haben, wie viele deutschlandweit für die Seenotrettung im Mittelmeer auf die Straße gegangen sind – da wurden mehr Menschen mobilisiert. Ich erinnere auch an die große Demo gegen das TTIP-Abkommen in Berlin oder die Unteilbar-Demonstrationen.

Die Veranstalter*innen und Anhänger*innen von Querdenken inszenieren sich selbst gerne als Sprecher*innen einer vermeintlichen schweigenden Mehrheit. Da werden auch immer wieder Falschmeldungen verbreitet in Bezug auf die Teilnehmer*innenzahl. Es stimmt aber schlicht nicht, dass Verschwörungsmythen mehr mobilisieren würden.

 

Ja, aber man fragt sich angesichts der Skandale, die Sie auch in Ihrem Buch anführen, warum Verschwörungsgläubige alles andere glauben und annehmen, nur nicht das, was da stattfindet.

Tatsächlich ist es so, dass einige Verschwörungsgläubige ihren Radikalisierungsprozess mit sehr nachvollziehbaren Fragen beginnen. Viele machen Erfahrungen mit Menschen aus ihrem Freundeskreis, die ähnlich politisch sozialisiert sind, die aber plötzlich irgendwo abgebogen sind und an Verschwörungserzählungen glauben. Am Anfang stehen aber beispielsweise Fragen von Gerechtigkeit: Was bedeutet eine gerechte Gesellschaft? Haben wir transparent Institutionen? Können wir Geheimdienste kontrollieren? Wie groß ist der Einfluss, den die Wirtschaft auf unterschiedliche Entscheidungen ausübt? Wer stellt sicher, dass die Medien transparent und verlässlich arbeiten? Wie können wir wissenschaftliche Fakten sichern? Die Ausgangsfragen sind oftmals Fragen, die ich auch habe, nur die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sind andere.

Ein großes Problem ist, dass Verschwörungserzählungen mit sehr einfachen Feindbildern arbeiten. Da wird eine Schwarz-Weiß-Welt konstruiert, mit der sich sehr einfach mobilisieren lässt. Da wird die Schuld an allen Übeln einzelnen Akteuren oder einer Gruppe von Menschen in die Schuhe geschoben, die als mächtig wahrgenommen werden. So macht man sich die Debatte sehr einfach. Wenn man sich beispielsweise Diskussionen um Wirtschaftsfragen anschaut: Hier geht es oft um ein sehr komplexes Geflecht von rechtlichen Situationen, einzelnen Akteuren und unterschiedlichen Interessen. Die Sachlage ist meistens nicht nur schwarz und weiß, sondern da gibt es große Graubereiche. Es ist eben kompliziert.

Als Aktivistin, die sich für Bürgerrechte, Freiheitsrechte und Datenschutz einsetzt, habe ich das erlebt. Das Thema ist nicht unbedingt einfach in der Mobilisierung, weil Überwachung unsichtbar ist. Es gibt nicht den einen großen Feind und die anderen sind die Guten. Wir wissen alle, dass die NSA in Puncto Überwachungstechnologie einiges auf dem Kerbholz hat. Aber es gibt da eben auch andere Akteure. Wir müssen beispielsweise auch darüber sprechen, was die Wirtschaft macht – Stichwort: Nutzer*innendaten. Da wird es komplex, vor allem was die Lösungen angeht.

Verschwörungsideolog*innen machen es sich da sehr einfach. Das ist vor allem deswegen sehr traurig, weil wir aus wissenschaftlichen Studien wissen, dass Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, sich infolge des Radikalisierungsprozesses aus politischen Debatten schrittweise ausklinken. Sie gehen weniger wählen, sie engagieren sich weniger. Und daraus kann eine selbsterfüllende Prophezeiung werden: Man engagiert sich politisch nicht, weil man das Gefühl hat, dass alles gesteuert ist und man ja ohnehin nichts machen könne. Infolge dessen erlebt man keine politische Selbstwirksamkeit, wodurch sich das Gefühl verstärkt, nichts ausrichten zu können…

 

Sie weisen in ihrem im Buch darauf hin, dass sich mit den sozialen Medien und ihren Funktionsweisen neue Effekte ergeben haben. Wie verstärken diese die Verschwörungserzählungen? Was sind die Mechanismen? Und wenn es nicht das Internet an sich ist, wo liegt dann das Problem?

Das Internet hat zunächst einmal zu einer viel stärkeren internationalen Vernetzung von verschwörungsideologischen Akteur*innen geführt. Influencer der verschwörungsideologischen Community erreichen teilweise Hunderttausende oder Millionen von Menschen. Gerade in den USA sind einige Akteure sehr prominent.

Neu ist vor allem auch die Geschwindigkeit: Wir haben eine international vernetzte Community von Akteur*innen, die Verschwörungsideologien verbreiten, teilweise über Ländergrenzen hinweg. Die beziehen sich aufeinander und auf neue Geschehnisse wird häufig schnell reagiert. Nach einem Ereignis, wie beispielsweise einem Terroranschlag oder dem Ausbruch einer Pandemie, kann es sein, dass eine Geschichte, die einmal in die Welt gesetzt wird, beispielsweise durch ein YouTube-Video in Windeseile verbreitet wird. Von anderen Akteur*innen wird die Geschichte aufgenommen, noch ausgeschmückt und erweitert. Es gibt da so eine Art Remix-Kultur. Eine einzige Verschwörungserzählung kann am Ende in 50 verschiedenen Variationen in der Welt kursieren und in unterschiedliche Sprachen übersetzt werden. Das ist etwas, das durch das Internet beschleunigt wird. Dinge richtig stellen zu wollen wird so zu einer immer größeren Herausforderung. Meistens hängt man den Verbreiter*innen solcher Erzählungen hinterher.

Dank der Arbeit von Wissenschaftler*innen, aber auch von Aktivist*innen wissen wir mittlerweile aber auch, dass der Vorschlagsalgorithmus von YouTube und der Feed-Algorithmus von Facebook wahrscheinlich eine Rolle beim Wachstum von verschwörungsideologischen Gruppen gespielt haben. Jeder kennt das: Wenn man beispielsweise auf YouTube ein Video zu einem bestimmten Thema schaut, dann werden einem ähnliche Videos vorgeschlagen. Dafür zuständig ist der Vorschlagsalgorithmus von YouTube. Das bedeutet: Um das engagement, die Klickrate oder die Zuschauer*innenzahl zu maximieren, hat man bei den unterschiedlichen Unternehmen einen sehr gut funktionierenden Algorithmus gebaut, der genau dies gewährleistet. Dabei hat man nicht bemerkt oder man hat zumindest die ersten Anzeichen ignoriert, dass dieser Mechanismus auch dazu führt, dass rechtsextreme und / oder verschwörungsideologische Gruppierungen dadurch massiv an Zulauf gewinnen. Wenn wir uns das Beispiel YouTube anschauen: Da ist jemand, der an Verschwörungsmythen glaubt und entsprechende Videos konsumiert. Dieser Mensch wird wahrscheinlich ein sehr guter YouTube-Nutzer werden, weil er sehr viel Zeit auf der Plattform verbringt und weniger andere Medien konsumiert, je mehr er davon überzeugt ist, es gäbe eine große Medienverschwörung. Das kann dazu führen, dass Menschen sich in einen Kaninchenbau begeben und sich immer tiefer eingraben, bis sie irgendwann den Ausgang nicht mehr finden.

Mittlerweile sind die Unternehmen zwar deutlich sensibler geworden, aber man kann das eben nicht ganz unterbinden. Beispielsweise werden einem mittlerweile auch Videos mit Faktenchecks vorgeschlagen, gerade beim Thema Corona. Aber die Empfehlungen zu verschwörungsideologischen Videos gibt es immer noch.

 

Sie hatten erwähnt, dass es den Konzernen um die Maximierung der Aufmerksamkeit geht, der Zeit, die die Nutzer*innen auf den Plattformen verbringen. Ist damit nicht das Geschäftsmodell das Problem?

Ein auf Maximierung der Werbeeinnahmen basierendes Geschäftsmodell hat gewisse Risiken, wenn es nicht reguliert wird. Das sehe ich auch beim Thema Datenschutz: Dadurch, dass personalisierte Werbung ziemlich viel darf, ist das ein großer Anreiz für Unternehmen, möglichst viele personenbezogene Daten zu speichern, damit man diese für Werbezwecke verwenden kann. Und wenn das Geschäftsmodell darin besteht, Werbung zu zeigen, ist es natürlich attraktiv, nicht nur möglichst viel über die Nutzer*innen zu wissen, sondern sie auch möglichst lange auf der Plattform zu halten. Solange es da keine wirklich harte Regulierung gibt, beispielsweise welche Verfahren eingehalten werden müssen, um vorab zu prüfen ob ein Algorithmus nicht auch toxische gesellschaftliche Effekte haben kann, wird es immer wieder passieren, dass Entscheidungen von Unternehmen gravierende gesellschaftliche Konsequenzen haben.

Ich möchte da aber nicht immer einen bösen Willen unterstellen. Negative Folgen sind teilweise dem Umstand geschuldet, dass man in solchen Tech-Konzernen eine sehr technische Brille aufhat und mit diesem Blick auf die Welt Entscheidungen trifft, die nicht nur technische Folgen haben, sondern sehr viele Bereiche des menschlichen Lebens betreffen. Da werden beispielsweise auch Fragen der Psychologie, der Soziologie oder der Politikwissenschaft aufgeworfen. Solche Perspektiven haben in der Vergangenheit viel zu wenig Eingang in die Entscheidungsprozesse gefunden. Aus meiner Sicht braucht es viel mehr techniksoziologische Expertise, damit so etwas wie eine Technikfolgenabschätzung, nicht nur auf monetärer Ebene gemacht werden kann, sondern eben auch auf soziologischer Ebene. Wie verändern Algorithmen unsere Gesellschaft? Welche Algorithmen wollen wir?

 

Was sollten wir tun, um die Anfälligkeit gegenüber Verschwörungsideologien zu verringern? Welche Strukturen sollten geschaffen werden? Sie fordern in ihrem Buch zu Solidarität auf – wie könnte diese aussehen?

Ich erlebe in den letzten Wochen und Monaten, dass sehr viel über Verschwörungsideolog*innen und die Mechanismen hinter der Verbreitung ihrer Behauptungen gesprochen wird. Das ist gut und richtig. Ich erlebe aber auch, dass Verschwörungsideolog*innen ein Podium geboten wird. Das halte ich nicht für den richtigen Umgang mit ihnen. Jemand, der antisemitische Verschwörungserzählungen verbreitet oder Links zu rechtsextremen Verschwörungsgruppen postet, der hat sich aus meiner Sicht von jeglicher rationalen Diskussion verabschiedet. Das ist niemand, dem man ein Podium bieten sollte. Ich finde es schlimm, wenn sich ein Medium entscheidet, eine Homestory mit Attila Hildmann zu machen, einem veganen Kochbuchautor und mittlerweile bekanntem Verschwörungsideologen. Medien sollten stattdessen lieber eine Homestory mit einem der vielen Opfer seiner Hetze machen. Wir haben diesen Hass auch erlebt. Hildmann hat ein Bild und den E-Mail-Account meiner Co-Autorin in seinem Telegram-Channel gepostet. Das hat dazu geführt, dass seine Anhänger*innen ihr Drohungen und Beschimpfungen geschickt haben. Das macht etwas mit Menschen.

Wir müssen dabei auch bedenken, dass sich momentan sehr viele Wissenschaftler*innen in der Öffentlichkeit zum Thema Corona äußern, die das sonst nicht tun. Ich finde es sehr wichtig, dass Expert*innen an Debatten teilnehmen, beispielsweise über die Frage, wie wir als Gesellschaft mit dem Spagat zwischen der Öffnung bestimmter Lebensbereiche – z.B. von Schulen – und der Eindämmung eines hochansteckenden Virus‘ umgehen sollen. Das sind Abwägungsfragen, über die man durchaus streiten kann. Aber Wissenschaftler*innen, die sich dazu in der Öffentlichkeit äußern, werden häufig zur Zielscheibe von Hass. Das kann dazu führen, dass sie sich immer weniger trauen, in die Öffentlichkeit zu treten und sich beispielsweise in eine Talkshow zu setzen, um in einfachen Worten zu erklären, was derzeit der Stand der Forschung ist. Diese Menschen brauchen wir aber.

Meine Erfahrung ist, dass vor allem Frauen in einer ganz anderen Dimension Gewalt und Hass abbekommen – nicht nur aus dem verschwörungsideologischen, sondern auch aus dem rechtsextremen Milieu. Die Zahl der Drohungen gegenüber Frauen ist meiner Wahrnehmung nach höher und auch die Art der Drohungen ist deutlich härter. Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, wird sehr häufig sexualisierte Gewalt angedroht. Manchmal reicht es sogar bis dahin, dass die Familie bedroht wird, dass beispielsweise Andeutungen über die Kinder gemacht werden. Dafür wünsche ich mir bedeutend mehr Aufmerksamkeit durch die Behörden, dass so etwas ernst genommen wird und Taten auch strafrechtlich verfolgt werden, dass es aber auch eine vernünftige Beratung für die Betroffenen gibt. Der Staat könnte mehr finanzielle Unterstützung für Organisationen leisten, die in der Opferhilfe tätig sind, die beispielsweise im Fall von Bedrohung und Hass im Netz Rechtsbeistand organisieren, wie es beispielsweise Hate Aid tut. Gesellschaftliche Solidarität würde in diesem Fall bedeuten, dass man so etwas nicht lapidar abtut, nach dem Motto, da hat jemand zwar Hass und Drohungen verbreitet, aber wir machen trotzdem eine Homestory mit ihm. Solches Verhalten muss konsequent verurteilt werden.

Frau Nocun, vielen Dank für das Gespräch!

Katharina Nocun
Katharina Nocun ist Bürgerrechtlerin und Publizistin und hat Politik- und Wirtschaftswissenschaften studiert. Sie leitete bundesweit Kampagnen u. a. für die Beteiligungsplattform Campact e.V., den Verbraucherzentrale Bundesverband, Mehr Demokratie e.V. sowie die Free Software Foundation Europe e.V. und ist Mitglied im Beirat des Whistleblower-Netzwerk e.V.. Zum Thema von ihr und Pia Lamberty erschienen: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen (Quadriga Verlag, 2020).
Foto: Miriam Juschkat
Mehr zur Autorin: kattascha.de

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2 Gedanken zu „Verschwörungsmythen sind nicht erst seit der Corona-Pandemie weit verbreitet | Interview mit Katharina Nocun

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