Vom Nutzen der Historie für die Wirtschaftswissenschaften | Luisa Jentsch

Statue des Ökonomen Adam SmithFoto: K. Mitch Hodge | unsplash

 

Vom Nutzen der Historie für die Wirtschaftswissenschaften

Text: Luisa Jentsch

Die meisten Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit der Ideengeschichte ihres Faches im Grundstudium. Das Studium der Politikwissenschaften beginnt fast immer mit dem Fachgebiet „Ideengeschichte“ und auch in der Soziologie werden Texte von den Gründungsfiguren des Faches zu Anfang des Studiums gelesen und besprochen. Anders in der Volkswirtschaftslehre. Dort werden Modelle gelehrt und dann später Werkzeuge für empirische Untersuchungen vermittelt. Die Modelle werden mithilfe von Lehrbüchern vermittelt, in denen sie ohne Kontext präsentiert und erläutert werden. Aber ist nicht der Kontext eines Modells oder einer Theorie, bzw. die jeweilige Entstehungsgeschichte entscheidend, um es in der Tiefe zu verstehen?

Vom Nutzen der Historie

Eine ideengeschichtliche Betrachtung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien zeigt deren Wandel im Laufe der Zeit auf. So können Erklärungen geliefert werden, warum in den Modellen bestimmte Annahmen getroffen werden und andere nicht und warum bestimmte Linien und Kurven in der graphischen Darstellung der Modelle auf bestimmte Art und Weise verlaufen. Der Kontext eines Modells trägt so dazu bei, dieses umfänglicher zu verstehen und sich ebenso über dessen Begrenzungen bewusst zu werden. In der neoklassischen Mikroökonomie wird zum Beispiel häufig die Annahme getroffen, dass auf den untersuchten Märkten Güter gehandelt werden, die qualitativ gleich und in ihren Einheiten unendlich teilbar sind. Diese Annahme entstand mit den Anfängen der Volkswirtschaftslehre, als vor allem landwirtschaftliche Güter gehandelt wurden. Auch heute trifft die Annahme auf solche Güter zu: Weizen oder Kaffee werden auf einem Weltmarkt gehandelt, auf dem sich ein Preis bildet. Hinzugekommen sind jedoch auch Dienstleistungen, die häufig örtlich gebunden sind und daher mit Agrargütern schwer vergleichbar und auch nicht unendlich teilbar sind. Der Kontext des Modells legt deswegen auch seine Grenzen offen. Bei der Anwendung auf reale Sachverhalte lässt sich so leichter die Frage stellen: „Welche Annahmen aus dem Modell sind auch in der konkreten Realität gegeben und welche nicht?” Modelle können so zielgenauer angewendet werden.

Neue Modelle für neue Herausforderungen

In der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre werden die Modelle so präsentiert, als wären sie zu jeder Zeit in der gleichen Form gültig. Doch die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass in der komplexen Welt, in der wir leben, immer wieder neue gesellschaftliche Herausforderungen aufkommen werden und die Welt in 30 Jahren nicht dieselbe sein wird. Es ist also anzunehmen, dass es für die neuen Herausforderungen anderer Modelle bedarf als heute. In verschiedenen Zeiten behandelten verschiedene Ökonom*innen unterschiedliche Probleme ihrer Zeit. So beschäftigten sich Karl Marx und Friedrich Engels mit den durch die Industrialisierung hervorgerufenen Arbeitsbedingungen, David Ricardo mit der aufkommenden Globalisierung und John Maynard Keynes mit dem Staatshaushalt während der Weltwirtschaftskrise. Neue ökonomische Theorien entstanden also auch immer als Produkte ihrer Zeit und als Reaktion auf gesellschaftliche Verhältnisse. Das Studium von Ideen aus anderen Zeiten kann Einblicke liefern, wie über die Art zu Wirtschaften nachgedacht wurde und so den Blick dafür schärfen, dass veränderte Verhältnisse eine Abwandlung der Modelle erfordern oder die Entwicklung ganz neuer Ansätze.

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Machtverhältnisse

Zu einer historischen Einordnung zählt auch die kritische Reflexion der Umstände, unter denen Theorien entstanden sind. Wer sich näher mit den populärsten ökonomischen Ideen beschäftigt, wird schnell feststellen, dass insbesondere in der Vergangenheit die Volkswirtschaftslehre von Männern aus dem Globalen Norden geprägt wurde und so patriarchale Machtverhältnisse widerspiegelt. Um dies wahrzunehmen, reicht ein Blick auf die Liste der Preisträger*innen des sogenannten Wirtschaftsnobelpreises oder die Liste der Bestseller unter den ökonomischen Lehrbüchern. Die Verbreitung wissenschaftlicher Ideen ist eine Machtfrage. Dass die (Wirtschafts-)Wissenschaften traditionell weiß und männlich dominiert sind, spielt hier eine Rolle. Durch die Analyse dieser Machtverhältnisse wird eine neue Dimension des Modells sichtbar, welche hilft, wirtschaftliche Zusammenhänge im Allgemeinen zu verstehen.

Wie kommen die Modelle in die Welt?

Wenn Studierende der Volkswirtschaftslehre also den Gegenstand ihrer Vorlesungen, die Modelle, wirklich in der Tiefe verstehen sollen und diese reflektiert anwenden können sollen, dann bedarf es nicht nur des reinen Auswendiglernens dieser Modelle, sondern auch ihrer Kontextualisierung. An einigen Hochschulen werden bereits Vorlesungen mit Titeln wie „Geschichte des ökonomischen Denkens” oder „ökonomische Ideengeschichte” angeboten. Zusätzlich ist eine Integration von ökonomischer Ideengeschichte in die Veranstaltungen, in denen die Modelle gelehrt werden, sinnvoll, um die Modelle so direkt zu kontextualisieren.

Auch außerhalb der akademischen Lehre gibt es positive Beispiele für die Integration der Ideengeschichte in die eigenen Überlegungen. In ihrem Buch Wie kommt der Wert in die Welt beschäftigt sich die Ökonomin Marianna Mazzucato mit dem Wertbegriff in der Ökonomie. Mazzucato stellt im ersten Kapitel ihres Buches dar, welche Vorstellungen Ökonom*innen aus verschiedenen Denkschulen zu verschiedenen Zeiten vom „Wert” und seiner Entstehung hatten.

Luisa Jentsch studiert Economic Policy Consulting an der Ruhr-Universität Bochum. Sie engagiert sich seit ihrem ersten Semester in verschiedenen Projekten des Netzwerks Plurale Ökonomik und in der internationalen Dachorganisation Rethinking Economics. In diesem Kontext hat sie unter anderem eine Initiative koordiniert, die einen Debattenbeitrag dazu geschrieben hat, wie sich die Lehre in den Wirtschaftswissenschaften in einem Zeitalter der multiplen Krisen verändern sollte.
Von der Autorin empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Ann Pettifor: The Case for the Green New Deal (Verso, 2019)
Marianna Mazzucato: Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern (Campus, 2019)
ROMAN
Lana Lux: Kukolka (Aufbau, 2017)
PODCAST
Ones and Tooze mit Adam Tooze (2021ff)
Jenseits von Angebot & Nachfrage – Die Kolumne des Netzwerks Plurale Ökonomik
In der Kolumne Jenseits von Angebot & Nachfrage nehmen Autor*innen aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik die fachlichen Scheuklappen der Lehrbuchökonomie ab und werfen einen pluralökonomischen Blick auf gesellschaftspolitische Fragestellungen. Das Netzwerk ist ein Zusammenschluss von Studierenden an über 35 Hochschulen im deutschsprachigen Raum, das sich für mehr methodische und theoretische Vielfalt, einen größeren Anwendungsbezug und mehr didaktische Qualität in den Wirtschaftswissenschaften einsetzt. Dafür organisieren sie auf lokaler Ebene Ringvorlesungen, Lesekreise, Konferenzen und vieles mehr. Bundesweit bieten sie mit Exploring Economics, einer Sommerschule und mit dem pluralist economics certificate program pluralökonomische Weiterbildung an. Auf internationaler Ebene ist das Netzwerk Plurale Ökonomik Teil von Rethinking Economics.

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