Was bremst die Schuldenbremse? | Julia Sophia Schmid

SparbüchseFoto: Fabian Blank | Unsplash

 

Was bremst die Schuldenbremse?

Warum haben über 60 Prozent der Schulen einen Sanierungsbedarf? Warum haben sich die Verspätungen der Deutschen Bahn von 125 auf 184 Minuten pro 1000 gefahrene Kilometer erhöht? Warum ist der Satz „Kannst du mich hören?“ meist der erste, den man einander in einer Videokonferenz stellt?

Sicherlich gibt es eine Vielzahl an Antworten auf diese Fragen, doch dass die unflexible Gestaltung von fiskalpolitischen Maßnahmen und das Dogma des Sparens eine Erklärung dafür sind, darin sind sich eine Mehrzahl der Ökonom*innen inzwischen einig. „Wir verzehren den öffentlichen Kapitalstock an Universitäten, Brücken oder Straßen, der von Generationen erarbeitet wurde. (…) Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, besetzte im Jahr 2015 aber nur den drittletzten Platz aller OECD-Länder, gemessen an öffentlichen Investitionen und Bildungsausgaben“, schrieb der Bundestagsabgeordnete von Die Linke Fabio de Masi 2019 in der Wirtschaftswoche.

Fiskalpolitik ist ein Teilbereich der Finanzpolitik und meint alle Maßnahmen des Staates, mit denen über die Veränderung der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben die gesamtwirtschaftliche Entwicklung beeinflusst werden soll.

In die Kritik geraten ist besonders die sogenannte Schuldenbremse. Sie wurde 2009 im deutschen Grundgesetz verankert und sieht vor, „dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“ sind (Grundgesetz Artikel 109). Der Staat darf sich damit höchstens um 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschulden (abgesehen von einigen Ausnahmen). So soll die staatliche Haushaltsfinanzierung durch Schulden verhindert und der finanzielle Handlungsspielraum des Staates begrenzt werden.

Im Jahr 2020 hätte die Schuldenbremse das erste Mal auch für die Bundesländer (und nicht wie bisher nur für den Bund) greifen sollen, jedoch wurde sie aufgrund der Coronakrise vorerst bis Ende des Jahres außer Kraft gesetzt. Auch wenn zuvor schon Rufe nach einer Reform dieser fiskalpolitischen Regelung zu hören waren, wurden sie im Zuge der Coronakrise deutlich lauter.

Das Dezernat Zukunft, ein Thinktank, der finanz- und wirtschaftspolitische Konzepte hinterfragt und neu denkt, hat sich bereits 2018 mit den Hintergründen der Schuldenbremse und damit, was eigentlich wie gebremst wird, beschäftigt. Philippa Sigl-Glöckner und ihr Team kommen unter anderem zu diesem Ergebnis: „Die Schuldenbremse ist nicht ein generelles Instrument zur Verhinderung von Staatsschulden, sondern sie verhindert allein die Schuldenaufnahme zur Finanzierung von regulären Haushaltsausgaben.“ Dies erklären sie unter anderem mit dem Beispiel der Übertragung der Schulden der Bank Hypo Real Estate infolge der globalen Finanzkrise 2007/08 auf den deutschen Staat im Jahr 2010. Im Zuge dessen wurden rund 306 Milliarden Euro an Schulden zur Bundesbilanz addiert. Die Neuverschuldung stieg deutlich an und diese Transaktion wurde nicht durch die Schuldenbremse „gebremst“.

Gewisse finanzielle Transaktionen, wie der Erwerb einer Unternehmensbeteiligung durch die öffentliche Hand, fallen also nicht unter die Rahmenbedingungen der Schuldenbremse. Diese nur selektiv angerechneten investiven Ausgaben können „die Tür für Bilanztricksereien“ des Staates öffnen und in die Irre führen, denn durch die Schuldenbremse werden Staatsschulden nicht per se begrenzt.

Ein weiterer Kritikpunkt, der von Ökonom*innen wie Olivier Blanchard, Sebastian Dullien, Philipp Heimberger oder Achim Truger, genannt wird, ist, dass die Diskussion sowie die Rahmenbedingungen um die Schuldenbremse und um Staatsschulden aus einer Zeit stammen, in der die Zinsen hoch waren. Die hohen Zinsen, die die Bundesregierung für ihre Schulden zu zahlen hatte, erhöhten die Finanzierungskosten von Staatsschulden. Heutzutage befinden wir uns aber in einem Niedrigzinsumfeld und der deutsche Staat muss keine Zinsen bezahlen, sondern bekommt sogar Geld dafür, wenn er Schulden macht.

Zu einer solchen Situation schrieb der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2007 (also schon vor der Einführung der Schuldenbremse), dass „Verschuldungsbegrenzungen nicht überzeugend begründet werden“ können, wenn die Voraussetzung, dass „der Zinssatz dauerhaft die Wachstumsrate übersteigt“ nicht zutrifft – tatsächlich ist die Wachstumsrate seit Jahren größer als der Zinssatz. Dieser langanhaltende niedrige Zinssatz für Schulden wird mit makroökonomischen Trends begründet, die sich kurz- und mittelfristig kaum verändern lassen: beispielsweise hohe Ersparnisse im Verhältnis zu Investitionen, alternde Bevölkerung, niedriges Produktivitätswachstum.

Um dennoch den Zinssatz beziehungsweise die Höhe der Zinszahlungen des Staates im Blick zu behalten, schlägt das Dezernat Zukunft die „Einführung eines neuen Frühwarnindikators“ vor, sodass der Staat rechtzeitig auf Veränderungen im Zinsumfeld reagieren und so an fiskalpolitischer Flexibilität gewinnen kann.

Eine andere Kritik an der Schuldenbremse – beispielsweise der Ökonomen Jens Südekum und Michael Hüther – ist das damit einhergehende restriktive Verständnis des Staates und der Rolle der Fiskalpolitik. Fiskal- und finanzpolitische Maßnahmen haben unter anderem zum Ziel, öffentliche Güter – wie zum Beispiel Straßen und Kommunikationsinfrastruktur – bereitzustellen oder wirtschaftliches Wohlergehen zu fördern. Wie gut oder schlecht diese Maßnahmen ausfallen, sollte vor allem auch an den gesetzten Zielen und nicht nur an Schulden oder Zinszahlungen gemessen werden. Hüther und Südekum haben 2020 dazu treffend geschrieben: „Die Schuldenbremse war Ausdruck eines seit den 1980er Jahren politisch und gesellschaftlich dominierenden Paradigmas des ‚kleinen Staates‘ und der ‚schlanken Regierung‘.“ Dies führte ihrer Meinung nach auch zu einem deutlichen „Rückzug“ des Staates, beispielsweise in Form eines Rückgangs von öffentlichen Investitionen in Infrastruktur und Bildung.

Zur genannten Kritik gibt es durchaus auch bedenkenswerte Gegenargumente. Man kann argumentieren, dass der Staat ein Unternehmen erwerben könnte, welches beispielsweise den Ausbau von Breitbandnetzen vorantreibt, was der Digitalisierung, der Bevölkerung und der Wirtschaft zugute kommen würde – aber eben ohne, dass die Schuldenbremse in diesem Fall greifen würde. Häufig wird auch das Argument genannt, dass die Zinsen wieder ansteigen könnten – eine zumindest zu berücksichtigende Sorge. Oder dass die öffentlichen Investitionen des Staates in bestimmten Wirtschaftssektoren höher als in anderen sein sollten – was sicherlich zu diskutieren ist.

Diese zum Teil sehr aufgeladene Debatte zeigt, dass es längst an der Zeit ist, zu hinterfragen, wie wir über Staatsverschuldung reden und worauf manche Regelungen und wiederkehrende Argumente beruhen. Es gibt eine große Bandbreite an Positionen zu diesem Thema, von denen nur ein Bruchteil hier genannt werden konnte. Die eine Antwort oder ein von allen akzeptiertes Verständnis – wie mit Staatsschulden umzugehen ist, in welchem Bereich eine optimale Schuldenquote liegt oder ob eine Schuldenquote überhaupt die richtige Bezugsgröße ist – existiert nicht. Schulden müssen tragfähig sein, jedoch sind die Höhe und die Rahmenbedingungen gestaltbar, und vor allem sind sie Teil einer politischen, wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Debatte.

Für eine zukunftsfähige öffentliche Infrastruktur und einen sozial-ökologischen Umbau ist es wichtig, den Diskurs darüber sachlich, transparent und vor allem wesentlich pluraler und differenzierter zu führen als bisher, und darüber hinaus auch veränderte Kontexte miteinzubeziehen.

Diese Beitrag ist in der Rubrik FRISCHLUFT in Ausgabe 4/2021 von agora42 erschienen.
Julia Sophia Schmid
Julia Sophia Schmid arbeitet am Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Hohenheim und forscht unter anderem zu den Themen Ungleichheit, Gender Pension Gap, politisches Vertrauen und Staatswahrnehmung. Außerdem ist sie im Netzwerk Plurale Ökonomik, bei foodsharing e. V. und in der Stuttgarter Kommunalpolitik aktiv.

Diese Ausgaben von agora42 könnten Sie interessieren: