Wir leben in einer Umbruchszeit – Interview mit Walter Otto Ötsch

Es wächst das Bewusstsein einer multiplen Krise

Interview mit Walter Otto Ötsch

Herr Ötsch, wie erleben Sie die Zeit? Gibt es noch klare Orientierung?

Walter Otto Ötsch
Walter Otto Ötsch ist Ökonom und Kulturhistoriker und seit Oktober 2015 Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte am Institut für Ökonomie der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues. walteroetsch.at

Vieles, was früher als selbstverständlich gegolten hat, steht heute zur Disposition. Wir leben in einer Umbruchszeit, langsam wächst das Bewusstsein einer multiplen Krise. Alle großen Systeme weisen strukturelle Bruchstellen auf und werden zunehmend kritisch betrachtet oder gar in Frage gestellt: das Wirtschaftssystem spätestens seit der „Großen Krise“ ab 2008, die Parteiendemokratie spätestens seit dem Wahlsieg von Donald Trump 2016 oder der Sozialstaat spätestens seit der in Europa akzeptierten Austeritätspolitik ab 2010.Im Hintergrund steht die Angst vor einer  ökologischen Katastrophe, energische Schritte, um z.B. die Klimaerwärmung auf 2 Grad zu begrenzen, sind nicht in Sicht.

Diese großen Fragen können ohne spürbare strukturelle Veränderungen nicht bewältigt werden. Die Hoffnung, dass ihre Lösung in den bestehenden Strukturen liegt, kann nicht geteilt werden. Auffallend ist aber, wie wenig „große“ Fragen von den politischen Parteien thematisiert werden, sehen Sie sich dazu den Wahlkampf in Deutschland im Herbst 2017 an. Die Referenz auf die Politik ist angebracht, denn im Kern geht es um immer politische Fragen. Allem Gerede über „die Globalisierung“ zum Trotz, verfügt die Politik über die Macht Bestehendes aufrecht zu erhalten oder zu verändern. Der aktuelle Trend zum Rechtspopulismus, der in fast allen reichen Ländern beobachtet werden kann, stellt eine Scheinantwort auf die angesprochenen Fragestellungen dar, ihre Implikationen sind Besorgnis erregend.
Nehmen wir zum Beispiel die „Große Krise“. Jahrelang wurde in den Medien von einer Krise berichtet und von Rettungen in unvorstellbar großem Ausmaß. Dabei wurde aber der Öffentlichkeit durch die Politik keine Erklärung geboten. Die Krise selbst wurde nicht als Thema angesprochen, es wurden keine Ursachen und keine Schuldigen genannt und es wurde medial nicht vermittelt, was die Politik in Zukunft anders machen will, um eine solche Erschütterung in der Zukunft zu vermeiden. Eine solche Situation schafft das Gefühl eines Kontrollverlustes, d.h. die Ahnung, dass die Politik gegenüber dem Finanzsystem die Kontrolle verloren und zweitens, dass die Bevölkerung die Zeche zu zahlen hat. Beide Vermutungen sind berechtigt, sie werden aber nicht als solche offen angesprochen.
Das führt in der Allgemeinheit zu einem latenten Gefühl von Ohnmacht und einer Angst vor der Zukunft, vor allem aber vor der Zukunft der eigenen Kinder. Das Selbstverständliche von hoher Beschäftigung, ausreichenden Löhnen und menschenwürdigen Renten wird von Teilen der Bevölkerung für die Zukunft nicht mehr für möglich gehalten.

Das ist die Stunde der Rechtspopulisten, welche die Parteiendemokratie beiseite drängen wollen. Sie sprechen Ahnungen und Ängste an, versammeln die Bevölkerung unter der Fiktion „des Volkes“ (eine konstruierte homogene Einheit), präsentieren Sündenböcke und Scheinlösungen und verkünden Heilserwartungen. Weil aber zugleich Rechtspopulisten keinerlei Strukturanalyse machen (sie sind dazu kraft ihres Denkens nicht in der Lage), können und werden sie – wenn sie an die Macht kommen – keine Abhilfe für die angesprochenen Probleme bewerkstelligen. Trump z.B. wird das Los des „vergessenen Mannes“ in den deindustrialisierten Zonen der USA nicht verbessern, das Gegenteil kann erwartet werden. Damit wird auch die multiple Krise beschleunigt. Die Antwort sind größere Hetze, ein noch autoritärer Staat: ein fatale Spirale, die zum Abbau der Demokratie führen kann. (Dieser Prozess ist in Ungarn am weitesten fortgeschritten, siehe dazu mein Buch „Populismus für Anfänger“)

Seit der Wirtschaftskrise 2008/09 sind die Wirtschaftswissenschaften vermehrt in die Kritik geraten, geändert hat sich seitdem wenig. Am 12.12.17 brachte der Ökonom Steve Keen in Anspielung an Luthers „Anschlag zu Wittenberg“ 33 Thesen zur Reformation der Wirtschaftswissenschaften an die Tür der London School of Economics an. Erleben wir vielleicht tatsächlich noch die Kopernikanische Wende?

Das Rätsel des Beharrungsvermögens der Wirtschaftswissenschaften in den letzten zehn Jahren kann zum einen im Rekurs auf ihre Denkformen und zu anderen auf ihre Netzwerke verstanden werden.
Die zentrale Denkfigur der Ökonomik ist die Behauptung der Existenz „des Marktes“ in der Einzahl, ein personifiziertes Etwas (dem „wir“ zu gehorchen hätten) und dass wie ein göttliches Wesen über uns schwebt, eine Überfülle von Wissen enthält (Hayek spricht von einer „Übervernunft “) und gegen das „die Politik“ (d.h. jene, die an „den Markt“ glaubt) vorgibt, nichts unternehmen zu können. Angela Merkel will eine „marktkonforme Demokratie“: die Demokratie kann und darf sich nach ihrer Vorstellung nur im Rahmen „des Marktes“ abspielen. Viele Ökonomen unterstützen sie dabei, weil sie selbst an „den Markt“ und seine „Gesetze“ glauben.

Verliebte können das Objekt ihrer Liebe nicht kritisch analysieren. Das bedeutet auch, dass marktverliebte Ökonomen die Große Krise nicht als Strukturkrise des Wirtschaftssystems erkennen können: das Denksystem „des Marktes“ hat sich gegenüber Empirie immunisiert. Marktgläubige Ökonomen „erklären“ folgerichtig die Große Krise in der Öffentlichkeit als „Tsunami“ oder als „Erdbeben“. Sie sprechen von einem Naturereignis, das im Prinzip unvorhersehbar war und gegen das man auch nichts unternehmen konnte. (Diese Wortwahl haben wir in einem Forschungsprojekt anhand von Pressemeldungen von Ökonomen nach der Großen Krise nachgewiesen).

Entscheidend für das Beharrungsvermögen des Marktglaubens in der Ökonomie sind aber ihre Netzwerke (vgl. dazu unser Buch „Netzwerke des Marktes“). Jede Wissenschaft und jede Richtung in einer Wissenschaft braucht für ihr Bestehen und ihr Weiterbestehen die aktive Zustimmung und die kontinuierliche Förderung durch viele Teile der Gesellschaft, das gilt sogar für die Naturwissenschaften (siehe die Debatten zur ökologischen Krise). In jeder Wissenschaft setzten sich nicht die besten Meinungen durch, sondern jene, die mit Politik, Wirtschaft, Medien etc. am besten vernetzt sind, mit ihnen in Austausch stehen und für ihre Anliegen Gehör finden. Hier hat sich seit 2008 in der Außenwahrnehmung der Ökonomik einiges verändert. Ökonomen und ökonomisches Denken zu kritisieren hat Eingang zumindest in das Feuilleton gefunden. Viele Personen, die Strukturmängel der Wirtschaft oder der Politik erkennen, haben einen kritischen Blick auf ökonomische Sichtweisen entwickelt. Das gilt auch für jene, die eine Ökonomisierung der Gesellschaft beklagen und den Einfluss ökonomisch formulierter Regeln und Kennziffern auf viele Lebensbereiche zurückdrängen wollen.
Eine Reformation der Wirtschaftswissenschaften, wie sie Steven Keen vorschwebt, ist mittelfristig möglich, denn die Zukunft ist immer offen. Sie bedarf aber kräftiger Impulse von außen, z.B. eine öffentliche Kritik der Positionen des Sachverständigenrats oder die Finanzierung heterodoxer Ansätze durch die Öffentliche Hand. Entscheidend ist dabei, wie sich die Politik und die Gesellschaft in den nächsten Jahren entwickeln werden. Neue Politiken, die z.B. die ökologische Bedrohung ernsthaft angehen, werden neue ökonomische Strömungen begünstigen und aktiv fördern. Denn in der Innenwahrnehmung der meisten Ökonomen hat sich bislang wenig verändert, das Marktdenken ist auch nicht geeignet gesellschaftliche Trends zu verstehen. (Aktuell: es gibt kaum eine Reflexion, warum marktgläubige Ökonomen eine neue Partei gegründet haben, ich spreche von der AfD, die später zum Einfallstor für Rechtsradikale werden konnte. Man kann kritisch fragen: Wie hängen Marktglauben und Rechtspopulismus zusammen?)


Soeben ist das neue Buch von Walter Otto Ötsch erschienen: Mythos Markt. Mythos Neoklassik – Das Elend des Marktfundamentalismus (metropolis-Verlag, 2019)

Das vorliegende Buch beschreibt und kritisiert die Transformation der Ökonomik in eine Wissenschaft von „dem Markt“ (in der Einzahl). Dieses Konzept wird u.a. (a) wie eine Person gedeutet (z.B. in Redewendungen wie „Der Markt bestraft die Politik“), (b) mit „Kräften“ ausgestattet („Wir können den Selbstheilungskräften des Marktes vertrauen“) und (c) mechanistisch gedacht (das Reden von den „Marktmechanismen“). Theorien, die einen solchen Marktbegriff verwenden, werden als „marktfundamental“ bezeichnet.


Gesellschaftlichen Veränderungen wird oft mit dem Totschlagargument begegnet, dass schon die kleinste Veränderung des Status quo dazu führen würde, dass alles zusammenbricht. Mit anderen Worten: Wirtschaftswachstum ist alternativlos, denn ohne Wachstum zerbricht schließlich auch die Demokratie. Sind wir wirklich so festgefahren?

Das sind vor allem Sichtweisen von Eliten, die ein berechtigtes Interesse daran haben, keine Strukturen zu verändern, von denen sie profitieren. Aber auch das befindet sich in Veränderung. Larry Fink, der CEO von Blackrock (mit einem Volumen von über 6 Billionen US-$ eine der größten Vermögensmanager weltweit) hat Anfang 2018 in seinem jährlichen Brief an die CEOs der großen internationalen Konzerne die sozialen Verwerfungen seit 2008 offen angesprochen:
„We are seeing a paradox of high returns and high anxiety. Since the financial crisis, those with capital have reaped enormous benefits. At the same time, many individuals across the world are facing a combination of low rates, low wage growth, and inadequate retirement systems. Many don’t have the financial capacity, the resources, or the tools to save effectively; those who are invested are too often over-allocated to cash. For millions, the prospect of a secure retirement is slipping further and further away – especially among workers with less education, whose job security is increasingly tenuous. I believe these trends are a major source of the anxiety and polarization that we see across the world today.” Fink mahnt die Konzernlenker, auf die soziale Wirkung ihrer Aktivitäten achten und langfristiger zu denken, in Kontrast zu der verbreiteten kurzfristigen Shareholder Value-Orientierung:

„Society is demanding that companies, both public and private, serve a social purpose. To prosper over time, every company must not only deliver financial performance, but also show how it makes a positive contribution to society. Companies must benefit all of their stakeholders, including shareholders, employees, customers, and the communities in which they operate.”

Die schädlichen Folgen des Wirtschaftswachstums nehmen überhand, ein „Weiter so“ ist unmöglich. Viele hoffen jetzt auf „grünes Wachstum“. Ist das eine Chance oder eine Mogelpackung?

Eines ist klar: Eine ökologische Umorientierung des Wirtschaftssystems muss und wird kommen. Die Frage ist nur wann und welche Umweltschäden dann irreversibel eingetreten sind. Es geht auch nicht um eine große Lösung (das verrät Ihre Frage), sondern um eine Summe vieler Änderungen in vielen Bereichen. Es gibt eine Unzahl positiver Vorschläge und Ansätze, wie z.B. die Landwirtschaft ökologieverträglicher umgestaltet werden kann, wie eine Zukunft ohne Plastik aussehen könnte, was mit dezentralen und kleinflächigen Energieerzeugung möglich sein kann, wie man das Auto zurückdrängen kann, die Haltbarkeit von Gütern erhöhen kann, usw. Aber ich will nicht über technische Lösungen reden, dazu gibt es Berufenere, und – ich wiederhole mich – es geht nicht um technische, sondern um politische Fragen.


Dieses Interview mit Walter Otto Ötsch führten wir im Januar 2018. 

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