Wir sind nur so sicher wie die Schwächsten unter uns | Fragen an Mira Bierbaum, Thomas Gebauer und Nicola Wiebe

SchirmeFoto: Gizem Uğurlu | Unsplash

 

Wir sind nur so sicher wie die Schwächsten unter uns

Fragen an Dr. Mira Bierbaum, Thomas Gebauer und Nicola Wiebe

Die Krisen und Katastrophen türmen sich vor uns auf: Die Corona-Pandemie, wachsende soziale Ungleichheiten (global wie national) und die Klimakatastrophe, die sich nicht mehr nur am fernen Horizont abzeichnet. Diese Krisen sind miteinander verbunden, meinen Sie – wie das?

Thomas Gebauer (TG): Der Klimawandel, die Vernichtung von Lebensgrundlagen durch Krieg und Vertreibung und jetzt eine Pandemie, die sich in Windeseile über den Globus ausbreiten konnte und deren Folgen noch gar nicht absehbar sind – all das steht im Zusammenhang einer Politik, die dem ökonomischen Kalkül Vorrang vor den Rechten der Menschen eingeräumt hat.

Nicola Wiebe (NW): Durch die bestehende Wirtschaftsordnung werden viele Elemente zementiert, die Armut und Ungleichheit hervorbringen und immer wieder reproduzieren. Die extreme soziale Ungleichheit, in der wir heute leben, behindert die Überwindung von Armut, verletzt die Menschenrechte, gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Frieden. Das macht nicht nur die Einzelnen verwundbar gegenüber individuellen und kollektiven Krisensituationen. Es schwächt auch die Gesellschaften als Ganzes und letztlich die Weltgemeinschaft.
Eine an Ungleichheit und mangelnde Gewährleistung von Rechten krankende Gesellschaft kann gegen eine auftretende Bedrohung nichts ausrichten, kann Krisen nicht abwenden und eine Pandemie nicht eindämmen.

 

Erzwingen die oben genannten globalen Krisen nicht sogar, dass wir unser Augenmerk viel stärker auf die Absicherung der globalen allgemeinen Daseinsvorsorge richten?

NW: Soziale Sicherheit bedeutet Zugang zu Gesundheitsversorgung und Existenzsicherheit für alle in individuellen und in kollektiven Krisensituationen. Sie gewährleistet die Rechte der Einzelnen und schützt die Gemeinschaft insgesamt. Im Fall einer Pandemie ermöglicht ein funktionierendes, für alle zugängliches Gesundheitssystem das frühe Erkennen, die Isolierung und Behandlung von Krankheitsfällen. Existenzsicherheit ermöglicht es Menschen, sich und andere im Lockdown vor Ansteckung zu schützen, ohne dadurch unmittelbar Hunger und existentielle Not für die Familie in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig können Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld und Sozialtransfers die Tiefe und Dauer der Rezession insgesamt reduzieren, das hat sich auch in der Finanzkrise 2008/2009 erneut erwiesen. Eine Welt mit sozialer Sicherheit für alle wäre für diese und künftige Krisen völlig anders aufgestellt.

Mira Bierbaum (MB): Wenn die COVID-19-Pandemie der Welt eine Botschaft vermittelt hat, dann die, dass wir nur so sicher sind wie die Schwächsten unter uns. Wenn ein Land das Virus nicht eindämmen kann, steigt das Risiko auch in anderen Ländern. Doch mit Ausnahme der Länder, die über robuste und umfassende soziale Sicherungssystem verfügen, kämpfen viele darum, das Leben und die Lebensgrundlagen aller Betroffenen zu sichern. Gerade einmal die Hälfte der Weltbevölkerung hat angemessenen Zugang zu Gesundheitsversorgung und mehr als 55 Prozent haben keinerlei Zugang zu sozialen Leistungen, mit verheerenden Folgen für unsere Gesellschaften weltweit.

NW: Ja, wir sollten unser Augenmerk viel stärker auf globale allgemeine Daseinsvorsorge richten. Dadurch allein kann soziale Ungleichheit natürlich nicht überwunden werden. Aber Existenzsicherheit und der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit eröffnen immerhin Lebenschancen und Möglichkeiten der Selbstermächtigung. Wenn Daseinsvorsorge gut konzipiert und progressiv finanziert ist, kann sie zur Reduzierung von Ungleichheit und Ausgrenzung beitragen und Menschen selbstbestimmte Teilnahme an sozialen, wirtschaftlichen und politischen Angelegenheiten ermöglichen.

Das agora42-Probeabo

Testen Sie die agora42 mit unserem Probeabo!

Sie erhalten zwei Ausgaben für 20€ – sowie unser Heft zu GESELLSCHAFTLICHER WANDEL gratis dazu!

Auch wer die Notwendigkeit und die Vorteile sozialer Sicherung anerkennt, bezweifelt ihre Finanzierbarkeit. Sie sagen, „internationale Solidarität“ sei „unabdingbar“ – wie muss diese Ihrer Meinung nach aussehen?

NW: Zunächst benötigen wir mehr internationale Gerechtigkeit. Dazu zählt, unter anderem, internationale Steuergerechtigkeit. Steueroasen und die Steuerflucht multinationaler Unternehmen untergraben die erfolgreiche Steuererhebung, häufig gerade in den Ländern, in denen die Mittel zur Deckung von Sozialausgaben bereits knapp sind. Um die nationale Finanzierungsbasis wirksam zu schützen und zu verbessern, ist Regulierung und Durchsetzung von Steuergerechtigkeit auf internationaler Ebene unumgänglich.
Darüber hinaus brauchen wir jedoch auch unbedingt internationale Solidarität in Form eines internationalen Finanzierungsmechanismus für soziale Sicherheit. Im Sinne des sozialpolitischen Solidarprinzips sollte ein solcher globaler Fonds für soziale Sicherheit entsprechend der Leistungsfähigkeit der Staaten mit Mitteln ausgestattet und entlang des Bedarfs verwendet werden, um – global gemeinsam – das Menschenrecht auf soziale Sicherheit zu gewährleisten.

MB: Schon vor der COVID-19-Pandemie sahen sich Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen mit Finanzierungslücken im Bereich der sozialen Sicherheit konfrontiert, die sich jährlich auf mehr als 500 Milliarden US-Dollar beliefen. Im Vergleich: dies stellt etwa 1,4 Prozent der illegalen Finanzströme oder 0,05 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aller Länder mit hohem Einkommen dar. Investitionen in den Ausbau des sozialen Basisschutzes sind entscheidend und ein globaler Finanzierungsmechanismus könnte dazu beitragen, nationale Anstrengungen in einem viel größeren Umfang als bisher zu unterstützen.

TG: Die Welt schwimmt förmlich in Geld. Aufgrund der verfehlten Finanz- und Steuerpolitik der zurückliegenden Jahrzehnte ist es nur nicht dort, wo es gebraucht wird. Den klammen öffentlichen Kassen stehen heute gigantische Kapitalvermögen gegenüber, deren Verwalter mitunter händeringend nach Anlageoptionen suchen. Gefunden haben sie diese zuletzt auch im Gesundheitswesen – mit den prekären Folgen, die in der Corona-Krise deutlich wurden.
Ohne die gerechte Nutzung des bestehenden Reichtums, ohne Umverteilung wird das globale Krisengeschehen nicht zu lösen sein. Rettung aber ist möglich, sie scheitert nicht am Mangel der notwendigen Ressourcen.

 

Auf der Tagung „Zukunft Für Alle“ veranstalten Sie einen Workshop zum Thema „Internationale Solidarität für Soziale Sicherheit“. Welchen Beitrag können die Teilnehmer*innen bzw. wir alle dazu leisten, „den Grundstein (zu) legen für ein Instrument der globalen Solidarität, einen internationalen Finanzierungsmechanismus für soziale Sicherheit“?

MB: Im Nachgang der globalen Finanzkrise haben Regierungen und Sozialpartner im Jahr 2012 die Empfehlung Nr. 202 betreffend den sozialen Basisschutz angenommen und auch Ziel 1.3 der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung greift dies auf. Basisniveaus für Sozialschutz sollen eingerichtet, aufrechterhalten und ausgebaut werden, basierend auf Prinzipien der sozialen Solidarität und solidarischer Finanzierung. Dies beinhaltet den Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung und Einkommenssicherung über das gesamte Leben hinweg, zum Beispiel in der Form von Kindergeld oder Familienleistungen, Leistungen im Krankheitsfall, bei Arbeitslosigkeit oder im Alter. Staaten tragen hierfür die Hauptverantwortung, aber in bestimmten Fällen reichen wirtschaftliche oder fiskalische Kapazitäten nicht aus – dann sieht die Empfehlung auch vor, dass nationale Anstrengungen international unterstützt werden sollen.

NW: Ein grundsätzlicher internationaler Konsens und wiederholte Selbstverpflichtungen liegen bereits auf dem Tisch. Ein möglicher und wichtiger Beitrag, den wir alle leisten können, ist mit hoher Dringlichkeit jetzt die Umsetzung weltweit einzufordern und den Aufbau einer Weltsozialpolitik aktiv mitzugestalten, Schritt für Schritt. Die Zivilgesellschaft hat dabei vielfältige Rollen zu übernehmen – ohne sie kann es nicht gelingen.

TG: Die Krise hat vielen die Augen geöffnet. Was lange als utopisch galt, scheint heute möglich. Landauf, landab der Appell zur Solidarität, Pflegekräfte erfahren Wertschätzung, Bürgerinitiativen kümmern sich um hilfsbedürftige Menschen in der Nachbarschaft, selbst staatliche Interventionen, die auf sozialen Ausgleich zielen, sind nicht länger verpönt. Die Solidarität, die sich hier zeigt, ist wichtig. Sie ist grundlegender Aspekt funktionierender Gesellschaftlichkeit, bleibt aber solange ungenügend, wie Gesellschaftlichkeit nur im nationalen Rahmen gedacht wird.
Die Herausforderungen sind groß. Es geht um nichts Geringeres als die Neuausrichtung menschlicher Lebenswelten am Grundsatz einer bewahrenden Sorge, sowohl füreinander als auch für die Umwelt. Es geht um die Schaffung weltgesellschaftlicher Verhältnisse, in denen die verbürgten Freiheitsrechte einen von Solidarität bestimmten gesellschaftspolitischen Rahmen bekommen. Das erfordert von uns allen eine Haltung kosmopolitischer Solidarität, die sich auch auf die richtet, die uns fremd sind und womöglich ganz andere Lebensstile pflegen, als wir selbst. ■

Mira Bierbaum
Dr. Mira Bierbaum ist Referentin in der Abteilung Soziale Sicherheit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Sie ist Expertin für die Gestaltung und Finanzierung von Sozialpolitik. Bevor sie zur ILO kam, arbeitete sie als Beraterin unter anderem für die Friedrich-Ebert-Stiftung und UN-Women.
Dieses Interview gibt die Meinung der Autorin wieder und repräsentiert nicht notwendigerweise die Position der Internationalen Arbeitsorganisation. (Foto: © Sueli Brodin/UNU-MERIT)
Thomas Gebauer
Thomas Gebauer ist Sprecher der stiftung medico. Von 1996 bis 2018 war er Geschäftsführer von medico international. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Fragen der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik und die sozialen Bedingungen globaler Gesundheit. (Foto: © medico)
Nicola Wiebe
Nicola Wiebe ist Referentin für soziale Sicherheit bei Brot für die Welt. Zuvor war sie in der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit im Themenfeld Sozialpolitik tätig. In Forschungsvorhaben setzte sie sich mit Arbeitsmarktpolitik und sozialer Grundsicherung auseinander. (Foto: © Brot für die Welt)
Von den Autor*innen zum Thema empfohlen:
Global Coalition for Social Protection Floors: A Global Financing Mechanism for Social Protection, 2020
Global Coalition for Social Protection Floors: Civil Society Call for a Global Fund for Social Protection, 2020
Cichon, Michael: A Global Fund for Social Protection Floors: Eight Good Reasons Why It can Easily be Done, UNRISD 2015
De Schutter, Olivier; Sepúlveda Magdalena: Underwriting the Poor. A Global Fund for Social Protection, OHCHR 2012

Mehr zum Thema: