„Wir haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, zivilen Ungehorsam einzusetzen.“ | Interview mit Extinction Rebellion Deutschland

Extinction-Rebellion-AufkleberFoto: Markus Spiske | Unsplash

 

„Wir haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, zivilen Ungehorsam einzusetzen.“

Fragen an Extinction Rebellion Deutschland

„Lebensfeindliche Temperaturen“ im Westen Nordamerikas lösen Waldbrände aus und treiben Menschen ohne Klimaanlage in Tiefgaragen, auch in der Türkei und in anderen Mittelmeerländern wüten riesige Brände, und hierzulande ereignete sich eine Flutkatastrophe. In der Diskussion in Deutschland wird mitunter Hochwasserschutz gegen die Forderung ausgespielt, angesichts der zunehmenden Katastrophen endlich ernsthaft gegen die Klimakrise zu handeln. Worin bestehen eure Forderungen?

Die Situation ist ernst, sogar bedrohlich. Es ist eine Überlebensfrage. Wir fordern die Regierung und auch die Medien auf, diese Wahrheit auszusprechen und entsprechend zu handeln. Wir fordern die Emissionen – die das Klima weiter anheizen – so schnell wie möglich auf Null zu reduzieren. Das Artensterben muss gestoppt werden.

Dafür brauchen wir einen gelosten, repräsentativen Bürger*innenrat, der vom Bundestag einberufen wird. Dazu braucht es ein klares Versprechen der Umsetzung aller Ergebnisse und breite mediale Berichterstattung. Dieser Bürger*innenrat muss gemeinwohlorientiert und unabhängig von Lobbyinteressen und Parteistrategien sein, sowie umfänglich informiert durch Expert*innen und Betroffene. Er setzt die Rahmenbedingungen für die notwendige gesellschaftliche Transformation.

Gleichwohl ist klar: Die neue Regierung muss auch unabhängig von Bürger*innenräten sofort handeln, um die Klimakatastrophe mit all ihren gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen aufzuhalten.

 

Seinerzeit schrieb der Philosoph Henry David Thoreau Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. In eurem Aufruf zu „augustriseup“ sprecht ihr von „zivilem Ungehorsam“ – was sollen wir darunter verstehen und warum ist er jetzt notwendig?

Wir erleben und spüren, wie die perfekten Lebensbedingungen, die unser Planet bietet dahinschwinden. Trinkwasserknappheit, Ernteausfälle und Extremwetter treffen uns auch hierzulande.

Die Handlungen unserer Regierungen stehen in keinem Zusammenhang zu der elementaren Bedrohung und der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und unserer Verpflichtung gegenüber nachfolgenden Gene­rationen. Im Gegenteil: Regierungen missachten diese Tatsachen und sie missach­ten das Recht der Öffentlichkeit, umfassend informiert zu werden. Daher rufen wir zur gewaltfreien Rebellion auf, um gemeinsam die Klimakatastrophe abzuwenden und unser Überleben zu sichern.

Ziviler Ungehorsam bedeutet bei uns friedliche Blockaden und Besetzungen zentraler Plätze, Straßen, Regierungsgebäude und Firmensitze oder Lobby-Vertretungen. Es sind unangemeldete Aktionen, die Aufmerksamkeit auf die Klimakatastrophe und die Verursacher*innen lenken sollen. Wir haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, zivilen Ungehorsam einzusetzen.

Wir orientieren uns dabei an historischen Vorbildern wie Mahatma Gandhi oder der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Dafür nutzen wir Mittel des friedlichen gewaltfreien zivilen Ungehorsams. Das heißt wir brechen bewusst Regeln, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen und die Regierung zum Handeln zu zwingen

Wir wollen weder in Aktionen noch anderswo verbale oder physische Gewalt anwenden. Unsere strikte Gewaltfreiheit gilt sowohl online als auch offline. Diskriminierendes Verhalten, Beschimpfungen und jegliche Art menschenfeindlicher Äußerungen und Aktionen sind für uns inakzeptabel. Es ist daher äußerst wichtig, dass sich jeder Mensch, der das Ausüben von zivilem Ungehorsam in Erwägung zieht, gründlich mit den eigenen Umständen, Ängsten und Motivationen befasst und Unterstützung, Beratung und Training durch unsere Bewegung erhält.

 

Euer Ziel ist es, den für das Klima nötigen umfassenden und tiefgreifenden Wandel herbeizuführen. Wir leben jedoch in einer kapitalistischen Kultur und die basiert auf Wirtschaftswachstum. Reichen gezielte Reformen des Kapitalismus aus, Stichwort grünes Wachstum? Oder brauchen wir eine Revolution im Sinne einer fundamentalen Veränderung unserer Lebens- und Wirtschaftsweise?

Die Regierung muss global Verantwortung für die wachstumsgetriebene und ausbeuterische Zerstörung unserer Lebensgrundlagen übernehmen, diese stoppen und soweit wie möglich rückgängig machen.

Wie genau unsere Lebens- und Wirtschaftsweise aussehen kann, dass sollten wir alle mitbestimmen können. Es wird Zeit die Wirtschaftslobby zu entmachten und Bürgern und Bürgerinnen Macht zurückzugeben – durch die zuvor erwähnten Bürger*innenräte. Dort können Menschen aus der breiten Gesellschaft mitbestimmen, wie unsere Lebensweise aussehen soll von Verkehr über Landwirtschaft zur Energieversorgung. Wir brauchen Antworten, die für die Menschen und nicht die Lobbys gut sind.

Um die Klimakatastrophe abzuwenden und das Artensterben zu stoppen, wird sich viel verändern müssen. Diese Prozesse sollten dringend so demokratisch und so gerecht wie möglich ablaufen.

 

Nisha Toussaint-Teachout von Fridays for Future Stuttgart sagte im Interview mit agora42 Folgendes: „Wir leben in einer kapitalistischen, auf Leistung und Wachstum orientierten Welt, als Protestbewegung entkommen wir dieser Logik nicht ganz, wir müssen in bestimmter Weise ‚Protest-Leistung‘, ‚Protest-Output‘ erbringen. Sich nicht ganz auf diese Logik einzulassen, ist wiederum Teil des Protests. Sich in diesem Spannungsverhältnis zu bewegen ist nicht einfach.” Könnt ihr das nachvollziehen? Ist es widersprüchlich, immer „mithalten“ zu müssen mit dem irren Tempo der kapitalistischen Welt, wo doch das Tempo gerade herausgenommen werden müsste aus allen Prozessen?

Auch wir können diesem Druck nicht entkommen. Den spüren wir auch. Wir werden an den vorherigen Aktionen gemessen, es muss spektakulär sein, es muss groß sein. So ist auch die Medienlogik.

Aber uns ist auch klar, dass es nicht ausreicht, den Wandel zu fordern: Wir leben ihn vor. Wir fördern Kulturen, die belastbar und robust sind und die uns bei den Veränderungen unterstützen, denen wir uns unweigerlich gemeinsam stellen müssen. Jeden Tag bemühen wir uns, bei Extinction Rebellion Einfühlungsvermögen, Vertrauen und eine Kultur der Fürsorge füreinander zu kultivieren, damit wir radikales Mitgefühl und Gerechtigkeit stärker verkörpern können.

Das beginnt im Kleinen beim Check-in und Check-out vor und nach jedem Meeting, bei denen wir darüber sprechen, wie es uns geht und was uns beschäftigt. In Trainings lernen Aktivist*innen gewaltfreie Kommunikation, Konfliktlösungsstrategien und Ansätze der Konsensfindung. Feste Ansprechpartner*innen in jeder Ortsgruppe und die Arbeitsgruppen für Regenerative Kultur achten auf das persönliche und gemeinschaftliche Wohlbefinden.

Wir wollen die Liebe zu uns selbst wiederfinden, die Liebe für unsere gemeinsame Welt, für unsere nahen wie fernen Mitmenschen, für die Natur, deren Teil wir sind. Regenerative Kultur ist idealerweise dabei die Grundlange, die unsere Rebellion durchzieht, versorgt und kräftigt.

 

Am 26. September findet die Bundestagswahl statt – was erhofft ihr euch für die Wahl? Welche Visionen habt ihr, die über die kommende Wahl hinausgehen? Soll die Politik die sozial-ökologische Transformation bringen? Und vor allem: Wie soll die Politik aussehen, die die sozial-ökologische Transformation bringt?

Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für die Klimakatastrophe und die ökologische Katastrophe. Das sollte das Thema sein, das den Wahlkampf bestimmt. Es sollte einen Ideenwettbewerb zwischen den Parteien auslösen, wer die besten Ideen und Lösungen hat, diese Katastrophe abzuwenden. Wir haben ein Milliarden-Programm in den USA gesehen, das nachhaltige Jobs und Infrastruktur schafft. Welche Vorschläge haben die deutschen Kandidat*innen?

Wie soll die Politik aussehen? Wir wünschen uns eine funktionierende Demokratie, in der die Menschen tatsächlich und gleichberechtigt an politischen Entscheidungen teilhaben können. Das beinhaltet eine Machtverteilung auf die jeweiligen Ebenen, die den Menschen und den Gemeinschaften am nächsten liegen, mit Strukturen, die eine Entscheidungsfindung auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene ermöglichen.

Wir wünschen uns, dass Bürger und Bürgerinnen mitbestimmen, dass die Parteien sich jetzt verpflichten, einen Bürger*innenrat einzuberufen, und dass sie sich verpflichten, die Ergebnisse dieses Rats umzusetzen.

Unsere gemeinsame Vision der Veränderung ist es eine Welt zu schaffen, die auch für zukünftige Generationen lebenswert ist. Eine Wirtschaft, die in ihrem Kern darauf ausgerichtet ist, das Wohlergehen aller Menschen zu maximieren und den Schaden für Menschen, Tiere und unseren Planeten so gering wie möglich zu halten. Wir brauchen Gesetze und Richtlinien für soziale und globale Gerechtigkeit, regionale Produktion, nachhaltiges Wirtschaften (z. B. degrowth, Kreislaufwirtschaft, zero waste) und Null Treibhausgas-Emissionen. Wir wünschen uns die Schaffung einer regenerativen Kultur.

#augustriseup

Für den 16.08.2021 plant Extinction Rebellion Deutschland in Berlin ein umfangreiches Aktionsprogramm, um auf den aus ihrer Sicht notwendigen ökosozialen Wandel hinzuweisen. Hier finden sich weitere Informationen: augustriseup.de

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