Was bedeutet „neu“? | von Peter Seele

Was bedeutet "neu"?

Was bedeutet „neu“?

Zeig mir dein Neues und ich sage dir, wer du bist

Text: Peter Seele

Wir seien Kinder der Neuzeit, so heißt es gelegentlich. Diese Neuzeit dauert nun schon seit gut 500 Jahren an – je nach historischer Darstellung. Doch ist sie noch aktuell für uns? Ist sie noch modern, so wie die Neuzeit in ihrem Ausklang auch „die Moderne“ genannt wird? Offenbar nicht, wie bereits der für unsere Zeit gemünzte Begriff der „Postmoderne“ suggeriert, und andere sprechen gar schon von der Postpostmoderne oder – hier wendet das Pendel – von einem aufkommenden zweiten Mittelalter.

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Demokratie radikal denken | von Aristotelis Agridopoulos

Welches Volk wird konstituiert?

Foto: William MacMahan / Unsplash

Demokratie radikal denken

Warum Demokratien demokratisiert werden müssen

Text: Aristotelis Agridopoulos

Wenn ein demokratisches Miteinander erhalten werden soll, müssen die Formen unseres Zusammenlebens grundsätzlich überdacht und neu geordnet werden. Demokratie hat kein Problem mit autoritären Führern, sie hat ein Problem mit sich selbst: Sie muss demokratischer werden.
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Die Zerbrechlichkeit der Demokratie | von Lars Distelhorst

Wie zerbrechlich ist die Demokratie?

Foto: Jakub Kapusnak / unsplash

Die Zerbrechlichkeit der Demokratie

oder: Demokratie und Kapitalismus

Text: Lars Distelhorst

Die politische Landschaft kippt nach rechts. Ob Trump in den USA, Erdogan in der Türkei, Duterte in den Philippinen, Bolsonaro in Brasilien oder Le Pen, Orban, Morawiecki, Beatrix von Storch, Alice Weidel und Björn Höcke in Europa. Hatte es eine Zeitlang so ausgesehen, als gehörten die geflügelten Worte „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ der Vergangenheit an, scheint Bertolt Brecht angesichts der aktuellen Verschiebungen des politischen Gefüges Recht zu behalten. Bei näherer Betrachtung des Phänomens muss es jedoch eher verwundern, dass wir vor dem Rechtsradikalismus so lange Ruhe hatten und das Pendel erst mit solcher Verspätung zurückschlägt.
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Demokratisch arbeiten? | von Philippe Merz

Demokratie auch während der Arbeitszeit?

Foto: Dylan Gillis / Unsplash

Demokratisch arbeiten? Der Arbeitsplatz als Ort der Demokratiebildung

Von Philippe Merz

Zu den vielen Widersprüchen unseres Alltags gehört auch dieser: Wir verstehen uns gerne als selbstbestimmte Bürgerinnen und Bürger einer liberalen Demokratie, die ihre Lebensumstände selbst gestalten können, doch die meisten von uns verbringen den größten Teil ihrer wachen wöchentlichen Lebenszeit in Strukturen, die alles andere als selbstbestimmt sind – nämlich am Arbeitsplatz. Hier sind die Möglichkeiten der Selbstbestimmung sowohl im Kleinen, etwa bei einer marginalen Veränderung der Arbeitsabläufe, als auch im größeren Rahmen, etwa bei der strategischen Organisationsentwicklung, oft erstaunlich begrenzt.

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Eliten – was zu tun wäre. Vortrag von Frank Trümper

Wie muss die Elite heute aussehen?

Foto: Unsplash

Eliten – was zu tun wäre

Vortrag von Frank Trümper

Lassen Sie mich mit einer grundsätzlichen Frage beginnen: Wer ist überhaupt gemeint, wenn wir von Elite sprechen? Ich würde drei Dimensionen unterscheiden, in denen wir über Eliten sprechen. Die erste Dimension betrifft so etwas wie die kulturelle, politische und intellektuelle Avantgarde. Darunter fallen für mich große politische Denker, Aktivisten, Wissenschaftler, Philosophen, einige große Journalisten (wir erinnern uns alle an Leute wie Augstein, Nannen oder Bucerius) – Menschen, die ihrer jeweiligen Zeit gedanklich voraus waren, die etwas bewegt haben und uns letztlich mit ihren Ideen und Initiativen dahin gebracht haben, wo wir heute sind. Das waren und sind Menschen, die der Stachel im Fleisch sind, die sich in die öffentliche Diskussion und in das öffentliche Leben einmischen.

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Ulrike Guérot: Komm, wir bauen einen europäischen Staat …

Foto: Oliver Cole / unsplash

Komm, wir bauen einen europäischen Staat …

Ulrike Guérot

„Die Nation ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich herauszutreiben.“

Max Weber (1912)

Wie viele Texte wurden in den letzten Wochen und Monaten vor den Europawahlen vom Mai 2019 geschrieben über „Europa erneuern“, „Europa richtig machen“ oder „Europa neu denken“? Dutzende europäische Verfassungsentwürfe zirkulierten im Vorfeld der Wahlen im Internet, Jan Böhmermann veröffentlichte auf Twitter einen fiktiven europäischen Pass und so weiter und so fort. Die Sehnsucht nach mehr oder jedenfalls einem anderen Europa scheint groß bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern. Doch die Realität sieht anders aus: Kaum war die Europawahl vorbei, wurde das Spitzenkandidaten-Verfahren, das erst zum zweiten Mal in Anwendung war und Unionsbürgern ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Kandidatin beziehungsweise des Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten einräumt, quasi außer Kraft gesetzt – und Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin bestimmt. Der Europäische Rat (EU-Rat) hatte sich wieder einmal durchgesetzt. Europäische Demokratie mit Bauchschmerzen …

„Alle Souveränität geht vom Volke aus“, so steht es in vielen Verfassungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Frei nach Kurt Tucholsky möchte man fragen: „Und wo geht sie hin?“ Tatsächlich verhindert schon die bloße Existenz des EU-Rats, dass die politischen Subjekte der EU, also die Bürgerinnen und Bürger Europas, ihrer Souveränität Ausdruck und rechtlichen Bestand geben können (Souveränität wird hier verstanden als Wahl- beziehungsweise Abwahlrecht; sprich: Die europäischen BürgerInnen können weder den Rat in seiner Gänze abwählen noch ihre Präferenzen – beispielsweise eine europäische Arbeitslosenversicherung – durchsetzen; es besteht also eine Krise der politischen Repräsentation). Überdies sind die Mitglieder des Europäischen Rats, der den Großteil der Entscheidungskompetenzen in der EU auf sich vereint, jeweils bloß national, nicht aber gesamteuropäisch legitimiert. Hier ist eine europäische Institution absurderweise nationalstaatlich ausgerichtet, das heißt, die einzelnen Ratsmitglieder sind immer nur ihrer jeweiligen nationalen Untergruppe gegenüber rechenschaftspflichtig und müssen versuchen, für diese – und nur für diese – das „Beste“ herauszuholen. Dadurch werden permanent Bürgerinnen und Bürger eines europäischen Staates gegen diejenigen eines anderen gestellt. Wie soll sich vor diesem Hintergrund ein gesamteuropäisches Bürgertum etablieren können? Ulrike Guérot: Komm, wir bauen einen europäischen Staat … weiterlesen

2065: Endlich Wirtschaftsdemokratie – von Lia Polotzek

Foto: Robert Metz / unsplash.com

2065

Endlich Wirtschaftsdemokratie

Text: Lia Polotzek

Ich wache auf. Es ist heiß. Die Novemberstürme haben mal wieder Saharasand nach Berlin gebracht. Ich stehe auf und gehe auf den Balkon. Die Dächer der kleinen Straßenbeete und die Lastenräder sind überzogen von einer feinen Staubschicht. Der Sand setzt sich auch im Dickicht der bewachsenen Hauswände ab. Ich lasse die kugelförmigen Windräder aus ihrer Sturmhalterung fallen. Sie drehen sich in Windrichtung und arbeiten weiter. Die Turbinen im Inneren flattern leise und klingen erschöpft von der stürmischen Nacht. Auch auf der Straße brummt und surrt es leiser als sonst. Ich bilde mir ein, dass die Insekten, die sonst um die Hauswände schwirren, sich noch vor dem Sturm verstecken.

Ich schaue hoch auf unser Dach und sehe Elif und Nimo die Solarfolie und die Beete überprüfen. „Juli, kannst du mal schauen, ob wir uns schon wieder selbst versorgen oder ob wir noch auf das Viertelnetz angewiesen sind?“ Ich schaue auf die kleine Anzeige neben der Tür. „Alles im grünen Bereich.“ Wir haben zwar einen Speicher im Keller, aber etwa alle zwei Wochen beziehen wir für kurze Zeit Strom aus dem Niederspannungsnetz des Viertels. Es gibt im Viertel ein kleines Geothermiekraftwerk und einen Wärmespeicher. Das Netz gehört, genau wie das Wassernetz, der Viertelgemeinschaft. Für die Instandhaltung der Strom- und Wassernetze für die Häuser, Straßen- und Dachbeete gibt es ein kleines Kollektiv von Netzmonteur*innen, zu dem auch Elif gehört. Elifs Mutter war in den 2030er-Jahren als Managerin an der Entflechtung der großen Energieunternehmen beteiligt. Elif hingegen ist eher handwerklich veranlagt. Sie arbeitet 15 Stunden die Woche beim Netzkollektiv, fünf weitere Stunden werden für gemeinsame Entscheidungen der Mitarbeitenden und die Rückkopplung an die Viertelgemeinschaft benötigt. Elif flucht immer, wenn keine reine Selbstversorgung mit Strom möglich ist. Für sie ist Eigenversorgung der ideale Zustand und jegliche Abhängigkeiten hält sie für einen Systemfehler. Dabei sind die vielen Ebenen und Redundanzen seit den 2030ern wesentliche Bestandteile des Strom- und auch des neuen Wirtschaftssystems. Nur so konnte Versorgungssicherheit immer und in allen Bereichen garantiert werden. Tatsächlich brauchen wir die Mittelspannungsnetze nur vier bis fünf Mal im Jahr. Wenn ein regionales Übertragungsnetz alle Jubeljahre anspringt, herrscht fast so etwas wie Panik in der Hausgemeinschaft. Dabei gibt es noch ein europäisches und ein globales Übertragungsnetz als letzte Stufe, die prinzipiell jede Haus-, Viertel- und Regionalgemeinschaft versorgen könnten. Auf jeder der verschiedenen Ebenen sind Wind-, Solar- und Wasserkraftanlagen sowie saisonale Wärmespeicher, Pumpspeicherwerke und flexibilisierte Biogasanlagen als Reserven eingebaut. Das System hat sich in mehr als 30 Jahren bewährt. 2065: Endlich Wirtschaftsdemokratie – von Lia Polotzek weiterlesen

Albert Camus und die Ethik des Absurden – von Andreas Luckner

Albert Camus und die Ethik des Absurden

von Andreas Luckner

Manche Texte sind für ihren Anfangssatz berühmt: „Nennt mich Ismael“ (Melville, Moby Dick); andere für ihren Schlusssatz: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr“ (Kafka, Das Urteil) oder „So lebte er hin“ (Büchner, Lenz). Kein Text aber dürfte für seinen Anfangs- wie für seinen Schlusssatz zugleich berühmt sein, mit einer Ausnahme: Albert Camus’ Der Mythos des Sisyphos. Der erste Satz dieses großen Essays von 1942 lautet: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord“; der letzte: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Zwischen diesen beiden Sätzen entwickelt Albert Camus seine Logik des Absurden, in der es schlichtweg ums Ganze geht, das Ganze des Lebens und der Welt, des Daseins. Der noch nicht einmal Dreißigjährige schreibt über diese eher weitläufige und bisweilen dunkle Angelegenheit in einer hellen, klaren Sprache, ganz unakademisch, frech-lebendig und kräftig, weshalb er bis heute der Philosophenzunft suspekt ist. Jeder, der einmal den Mythos des Sisyphos oder andere philosophische Essays gelesen hat, wird bemerken, dass es Camus um ein Denken ging, das in das Leben einzugreifen vermag, um eine Philosophie, die praktisch in dem Sinne ist, dass sie uns zu einem guten Leben verhilft und nicht nur zu einer besseren Theorie über das gute Leben. Albert Camus und die Ethik des Absurden – von Andreas Luckner weiterlesen

Mut und Haltung statt Wut und Spaltung – Thomas Gutknecht

Mut und Haltung statt Wut und Spaltung

von Thomas Gutknecht

„Politik wird entweder von Ängsten oder von Werten getrieben. Wohin die Politik der Ängste führt, haben wir nun gesehen“, sagt die Philosophin Susan Neiman. Gefordert ist der Widerstand der Vernunft, anstatt noch immer die postmoderne Destruktion der Vernunft zu betreiben. Wer meint, dass hinter jeder Behauptung stets ein verborgener Machtanspruch stehe, hinter jedem Ideal ein Interesse, wer jedem Wahrheitsanspruch nur mit Misstrauen begegnet, dem wird es schwerfallen, eine Lüge noch als solche zu erkennen.

Wer nicht mehr Wahrheit sucht, sich ihrem Anspruch verweigert, hat keinerlei Möglichkeit, Narrative kritisch zu prüfen. Dann bekommt die größte Zustimmung, wer am eindringlichsten Emotionen bespielt, Ängste schürt und Versprechungen in den Raum stellt. Eine Lüge, fünfmal wiederholt, wird als Tatsache geglaubt. So lässt sich leicht Angst verbreiten. Sie führt zum Verzicht auf differenziertes Urteilen. Ein wahrer Teufelskreis. Vernunft ist letztlich die einzige Instanz der sinnvollen Selbstbeschränkung – mithin die Mutter des Ethischen. Mut und Haltung statt Wut und Spaltung – Thomas Gutknecht weiterlesen

„Stop and Think!“ – Plädoyer für eine Gemeinsinn-Ökonomie

„Stop and Think!“

Plädoyer für eine Gemeinsinn-Ökonomie

von Silja Graupe und Stephan Panther

 

„Streik!“ Junge Menschen in der ganzen Welt rufen die Menschheit im September 2019 zum Klimastreik auf. Es gelte, „sich zusammenzuschließen, Farbe zu bekennen und sich für unser Klima aus der Komfortzone herauszuwagen“. Damit sind sie nicht allein. Weltweit haben sich ihnen Aktivistinnen und Aktivisten angeschlossen, um eine „Zeitenwende“ einzuläuten. „Der Schlüssel scheint darin zu liegen, unsere gewohnten Abläufe zu unterbrechen – es sind diese Routinen, die uns ermatten, der Umstand, dass wir jeden Morgen aufstehen und ziemlich genau dasselbe tun wie am Tag zuvor, sogar noch im Angesicht einer anhebenden Krise.“ Können wir Menschen aber tatsächlich unsere tiefsitzenden Gewohnheiten verändern? Die in der Ökonomie dominierenden Menschenbilder verneinen dies. Deswegen müssen wir uns weigern, sie als Selbstbilder zu übernehmen.

 

Der Mensch als reines Gewohnheitstier?

Das Nachdenken über Gewohnheiten hat eine lange philosophische Tradition, die im Westen mit Aristoteles beginnt und bis in unsere Tage reicht, etwa zu John Dewey oder Pierre Bourdieu. Gewohnheiten, so lässt sich sagen, sind demnach eine zwiespältige Angelegenheit: Zum einen stellen sie als die von uns eingeübten körperlichen Bewegungsmuster ebenso wie als die Muster unseres Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Wertens die Grundlage unseres Handelns dar; sie geben uns Halt. Zum anderen können sie zu einem in Routinen erstarrten Verhältnis zur Welt werden, zu einem Gefängnis ständiger Wiederholung. In der philosophischen Tradition galten Gewohnheiten meist grundsätzlich als änderbar – und die Reflexion über sie, individuell wie gesellschaftlich, galt als ein erster Schritt zu einer solchen Veränderung (gerade in Krisenzeiten). „Stop and Think!“ – Plädoyer für eine Gemeinsinn-Ökonomie weiterlesen