Das Berliner Volksbegehren und die politische Theorie des Unternehmens | Philipp Stehr

Plakat der InitiativeFoto: Moises Gonzalez | Unsplash

 

Das Berliner Volksbegehren und die politische Theorie des Unternehmens

Text: Philipp Stehr

Die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen ist eine der erfolgreichsten sozialen Bewegungen im deutschsprachigen Raum. Am Sonntag wurde der Vorschlag der Bewegung zur Vergesellschaftung des Wohnungsbestands großer profitorientierter Unternehmen von einer Mehrheit der Berlinerinnen angenommen. Diese Entscheidung ist auch aus philosophischer Sicht hochinteressant, weil er an zentrale Elemente einer philosophischen Debatte über Unternehmen anknüpft und gleichzeitig neue Impulse für sie liefert.

Der Vorschlag der Initiative geht von ähnlichen Prämissen aus wie sie neuere Beiträge, insbesondere von David Ciepley, in der politischen Philosophie dargelegt haben. Zentral ist die Vorstellung, dass Unternehmen mit politischen Privilegien ausgestattet werden, die sie nutzen sollen, um gesellschaftliche Vorteile zu erzielen. Darüber hinaus greift der Vorschlag zum Volksbegehren auch Grundideen aus der Debatte um die Demokratisierung von Unternehmen auf. Doch knüpft der Volksentscheid nicht nur an zentrale Themen in der politischen Philosophie an, er ist auch Vorbild dafür, wie sich die Ideen der politischen Philosophie in der Praxis realisieren lassen. Anders als weite Teile der politischen Philosophie, deren Lösungsvorschläge meist lediglich darauf setzen, dass die entscheidungsbefugten Abgeordneten sie als wahr und richtig erkennen und dann umsetzen, zeigt der Volksentscheid wie kreative Lösungen aus der politischen Philosophie in die Praxis getragen werden können.

Zunächst jedoch kurz zu den Grundzügen des Berliner Volksbegehrens. Sein Ziel ist es, den Berliner Wohnungsbestand aller profitorientierter Unternehmen mit über 3000 Wohnungen in Berlin nach Artikel 15 des Grundgesetzes in Gemeineigentum zu überführen. Als Gemeineigentum sollen diese etwa 240.000 Wohnungen in einer Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) verwaltet werden. Dieses öffentliche Unternehmen soll durch einen Verwaltungsrat gelenkt werden, der zu gleichen Teilen aus Mieterinnen, Beschäftigten, Vertreterinnen der Stadtgesellschaft und Senatsvertreterinnen besteht. Entscheidungen sollen laut der Initiative im Idealfall auf der niedrigstmöglichen Ebene getroffen werden, sodass der Verwaltungsrat nur für wenige allgemeine Entscheidungen zuständig wäre. Der AöR soll weiterhin untersagt werden, ihre Wohnungsbestände in Zukunft wieder zu privatisieren.

Neben mannigfaltigen rechtliche Fragen wirft dieser Vorschlag der Initiative auch viele interessante philosophische Fragen um Eigentum, Marktwirtschaft und Demokratie auf. Ich möchte mich in diesem Text jedoch darauf konzentrieren, wie die Initiative und ihr Vorschlag sich auf die Institution des Unternehmens beziehen. Um die politische Philosophie des Unternehmens hat sich in den letzten Jahren ein kleiner aber bedeutender Kern an Literatur gebildet. Der grundlegende Impuls für diese Debatte ist eine Einsicht, die David Ciepley in seinem Aufsatz „Beyond Public and Private: Toward a Political Theory of the Corporation“ von 2013 formulierte. Betrachtet man die historischen und rechtlichen Grundlagen der prominentesten Organisationsform von Unternehmen, wird klar dass solche Unternehmen nicht als rein private Konstrukte verstanden werden können. Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) und Aktiengesellschaften (AG) im deutschsprachigen Raum, sowie corporations und limited companies im angelsächsischen Raum genießen Privilegien, die sie von Personengesellschaften beziehungsweise partnerships unterscheiden. Während Personengesellschaften wie die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) lediglich über eingeschränkte Rechtsfähigkeit verfügen, werden Kapitalgesellschaften vom Staat mit Privilegien ausgestattet, die ihnen besondere Vorteile in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit verleihen. Insbesondere haften Kapitalgeber nicht über ihr eingebrachtes Kapital hinaus für die Verbindlichkeiten des Unternehmens und können ihr Kapital nicht aus dem Unternehmen abziehen. Dies senkt die Kapitalkosten beträchtlich und erlaubt es Kapitalgesellschaften erst genuin eigenständige Rechtssubjekte zu werden, weil sie durch diese Privilegien ein eigenes, klar umrissenes Vermögen erhalten.

Historisch sind diese Privilegien keineswegs verwunderlich. Moderne Kapitalgesellschaften haben ihren Ursprung in den kolonialen Unternehmungen der Niederlande und Großbritanniens am Beginn des 17. Jahrhunderts. Um Kolonialexpeditionen zu finanzieren, gründeten die beiden Länder Kolonialgesellschaften, die East India Company und die Vereenigde Oost Indische Compagnie und statteten sie mit Privilegien aus. Zur Gründung von Kapitalgesellschaften war lange noch ein staatlicher Akt durch Krone oder Parlament notwendig, durch den die Kapitalgesellschaft ins Leben gerufen und mit den fraglichen Privilegien ausgestattet wurde. Auch heute noch sind die Privilegien, die Kapitalgesellschaften genießen, nicht über privatrechtliche Verträge zu erreichen. Der deutsche Bundesgerichtshof hat beispielsweise 1999 explizit geurteilt, dass Personengesellschaften sich nicht einseitig mit beschränkter Haftung ausstatten können.

Aufgrund dieser speziellen Rechtskonstellation prägt die philosophische Debatte um Unternehmen die Feststellung, dass sie keine privaten, sondern politischen Konstrukte sind. Unternehmen stellen demzufolge keinen bloßen Ausdruck persönlicher Freiheiten der Unternehmenden dar. Diese könnten sie auch unter der Rechtsform der Personengesellschaften verwirklichen. Eine deutliche Mehrheit entscheidet sich jedoch für die Form der Kapitalgesellschaft, die darüber hinaus politisch mit zusätzlichen Rechten ausgestattet wird. Diese Unterscheidung hinsichtlich des Ursprungs der beiden Gesellschaftsformen begründet nun vielen Autorinnen zufolge zusätzliche moralische und politische Pflichten für diese Unternehmen. Weil sie politische Institutionen sind, unterliegen sie zusätzlichem Rechtfertigungsdruck und sind grundsätzlich aufgefordert, dem Allgemeinwohl zu dienen und nicht bloß privaten Zwecken. Daher sind auch zusätzliche regulatorische Maßnahmen gerechtfertigt, die Unternehmen staatlicher Kontrolle unterwerfen und sie zur Erfüllung öffentlicher Zwecke zwingen.

Einen ebensolchen Rechtfertigungsdruck formuliert die Enteignungsinitiative gegenüber großen Wohnungsunternehmen wie Vonovia und Deutsche Wohnen. Sie charakterisiert das Verhalten der Unternehmen als Versagen an Mieterinnen und Stadtgesellschaft insgesamt. Mieterhöhungen, Renovierungsstau und schikanöses Verhalten hätten lediglich den privaten Profit der Unternehmen im Auge, unter dem das Wohl der Mieterinnen leide. Ebenso stünden diskriminierende Vermietungspraktiken, mangelnde Aktivität im Neubau und strategischer Leerstand dem Wohl der Stadtgemeinschaft klar entgegen. Die Initiative misst die privaten Unternehmen also explizit danach, wie sie ihre Privilegien für die Gemeinschaft nutzen. Die Tatsache, dass die Unternehmen diesen Nutzen in den Augen der Initiative eben nicht erbringen, dient als Argument für staatlichen Eingriff.

Ein zweiter wichtiger Impuls für die Debatte stammt aus der Diskussion um die demokratische Qualität der internen Organisation von Unternehmen. Wie in der Debatte um workplace democracy schon länger diskutiert wird und zum Beispiel Elizabeth Anderson in ihrem Buch Private Government dargelegt hat, gibt es schwere Defizite hinsichtlich grundsätzlicher demokratischer Prinzipien innerhalb des Unternehmens. Vorgesetzte haben quasi-diktatorische Macht über ihre Untergebenen, die ihrerseits wenige bis keine Mitspracherechte haben und auch keine Möglichkeiten, Entscheidungen anzufechten. Obwohl in der Literatur hier verschiedene normative Rahmen diskutiert werden innerhalb derer dieses Problem analysiert werden sollte, herrscht recht weitgehend Einigkeit darüber, dass die momentane Situation in vielen Ländern nicht rechtfertigbar ist.

Zur Behebung des Problems gibt es dementsprechend einen bunten Strauß an Vorschlägen. Hier finden sich einerseits Vorschläge zur Veränderung der formalen Strukturen der Entscheidungsfindung in Unternehmen. Diese zielen auf die verpflichtende Einbeziehung von Arbeiterinnen in zentralen Gremien. Als Vorbild dienen hier unter anderem das deutsche Mitbestimmungsrecht, das die paritätische Besetzung von Aufsichtsräten vorsieht, und die europäische Gesetzgebung zu Betriebsräten. Weiterhin gibt es innovative Reformideen, wie zum Beispiel von Isabelle Ferreras in ihrem Buch Firms as Political Entities: Saving Democracy through Economic Bicameralism, das die Einführung eines Zweikammersystems in Unternehmen vorsieht. Hierdurch sollen diejenigen, die Kapital und die die Arbeit bereitstellen gleichberechtigt an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Neben diesen Ideen zu prozeduralen Reformen gibt es jedoch auch diverse Vorschläge, die ihren Ausgang bei den bestehenden Besitzverhältnissen nehmen. Property-owning democracy beschreibt beispielsweise die Vorstellung dass das demokratische Defizit behoben wäre, wenn alle Bürgerinnen Aktien halten würden und daher auch Entscheidungsrechte in Unternehmen besäßen. Schließlich beabsichtigen andere, Unternehmen im Ganzen in staatliche Hand zu überführen und so demokratische Kontrolle herzustellen.

Auch diesen Teil der Debatte greift Initiative auf interessante Art und Weise auf. Sie teilt die grundsätzliche Feststellung des demokratischen Defizits und erweitert es auch auf Parteien, die landläufig als unternehmensextern verstanden werden. Mieterinnen, Anwohnerinnen und die Stadtgesellschaft insgesamt werden als Fraktionen mit demokratischen Mitbestimmungsrechten verstanden, aber auch das Mitbestimmungsrecht der Beschäftigten wird klar bejaht. Diese Konstellation von Ansprüchen wird im vorgesehenen Verwaltungsrat durch die paritätische Beteiligung verwirklicht. Auf der prozeduralen Ebene geht der Vorschlag der Initiative also klar einen radikalen Weg. Er lässt die Kapitalseite in der Entscheidungsfindung außen vor und erweitert den Kreis der Wahlberechtigten beträchtlich.

Dieser radikale Weg ist möglich, weil auch die vorgeschlagene Änderung auf der Seite der Besitzverhältnisse radikal ist. Die vorgesehene Vergesellschaftung der Wohnungen in einer Anstalt des öffentlichen Rechts geht weit über die Forderung nach einer Beteiligung über Aktienbesitz oder einer direkten Beteiligung des Staates an Unternehmen hinaus. Die Institution der AöR lässt die privatwirtschaftliche und privatrechtliche Organisation des Unternehmens vollständig hinter sich. Die Anstalt ist stattdessen nach öffentlichem Recht organisiert und verfolgt einen öffentlichen Zweck. Der Wohnungsbestand würde also von profitorientierten, privatrechtlich organisierten juristischen Personen in den Besitz einer neuen juristischen Person übertragen, die mit ihnen einen öffentlichen Zweck verfolgen soll und die Wohnungen auch nicht mehr veräußern kann. Von den Dynamiken des Wohnungsmarktes wäre eine solche Anstalt weitgehend abgekoppelt. Auch ist es die Organisationsform als Anstalt, die den Handlungsspielraum eröffnet, um einen paritätisch besetzten Verwaltungsrat einzusetzen. Dies wäre bei der Organisation als privatrechtlich organisiertes Unternehmen nicht möglich, weil hier in den entsprechenden Gesetzen andere Organisationsstrukturen vorgegeben sind.

Die Initiative zum Volksbegehren nimmt jedoch nicht nur diese beiden philosophischen Einsichten auf, sondern kann selbst auch Impulse für die philosophische Diskussion geben. Viele der oben besprochenen Beiträge zur Reform von Unternehmen haben keinerlei Konzept dazu, wie ihre Vorschläge zu rechtlichen Normen werden könnten. Sie setzen lediglich auf die Überzeugungskraft des besseren Arguments und hoffen, dass ihre Ideen aus der philosophischen Diskussion in die Köpfe der Entscheidungsbefugten diffundieren und eines Tages Realität werden. Dagegen zeigt die Initiative, dass den zentralen Einsichten über den Charakter von Unternehmen auch durch eine soziale Bewegung effektiv vertreten werden können. Insbesondere haben die Beteiligten es geschafft, Parteien zu mobilisieren, die für gewöhnlich als außerhalb des Unternehmens stehend verstanden werden. In diesem Fall sind es nicht nur die Mieterinnen, also Kundinnen des Unternehmens, sondern auch Mitglieder der Stadtgesellschaft, die die Reform der Unternehmen unterstützt haben. Der Erfolg des Volksbegehrens zeigt, dass eine solche Strategie eine effektive Form der Umsetzung sein kann. Politische Philosophinnen, die ihren theoretischen Ideen praktische Geltung verschaffen wollen, sollten also nicht bloß den Kontakt zu politischen Entscheidungsträgerinnen suchen, sondern auch zu denen, die von den Handlungen der Unternehmen betroffen sind.

Dieser Beitrag ist zuerst am 30.09.2021 auf preafaktisch.de erschienen.
Philipp Stehr promoviert am Ethik-Institut der Universität Utrecht in den Niederlanden. Er arbeitet im ERC-geförderten Corporatocracy Projekt zur politischen Theorie des Unternehmens.

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