Es geht uns darum, das Ganze umzubauen | Interview mit Silke Helfrich und Matthias Schmelzer

Pappschild: Klima- oder Systemwandel?Foto: Mika Baumeister | Unsplash

 

Es geht uns darum, das Ganze umzubauen

Interview mit Silke Helfrich und Matthias Schmelzer vom Netzwerk Oekonomischer Wandel (NOW)

Eigentlich haben sich die Grenzen des Wachstums längst abgezeichnet, man denke an den Bericht des Club of Rome aus dem Jahr 1972. Per Design ist es nicht gelungen, den selbstzerstörerischen Wachstumskurs zu ändern. Wird jetzt in Folge der Corona-Pandemie das Wachstum per Desaster beendet?

Matthias Schmelzer (MS): Nicht automatisch. Es hängt davon ab, wie wir – als Gesellschaft – auf die Pandemie reagieren. Denn in der Tat verdichten sich die Belege dafür, dass Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit nur erreicht werden können, wenn wir den Übergang hin zu einer solidarischen Postwachstumsökonomie in Angriff nehmen. Sämtliche Versuche der letzten Jahrzehnte, im Rahmen von wachstumsorientierter Innovationspolitik, grüner Wachstumspolitik und mit Marktmechanismen (dazu gehört auch unsere Art, Steuern zu generieren) auf die Klimakrise zu reagieren, haben nicht dazu geführt, die Emissionen schnell genug zu senken. Die Emissionsreduktionen, die notwendig sind, um die 1,5-Grad-Grenze nicht zu überschreiten, sind nur erreichbar, wenn große Teile der (fossilen) Wirtschaft zurückgefahren werden – und tatsächlich werden die Emissionen im Jahr 2020 wegen der Einschränkungen durch die Pandemie in der notwendigen Größenordnung sinken. Aber dies müsste auch über die nächsten Jahrzehnte geschehen und vor allem mit einem grundlegenden ökonomischen Wandel einhergehen, wie wir ihn im neuen Netzwerk skizzieren. Stattdessen bereitet die Politik gerade alles darauf vor, die auf Profit, Wachstum und Konkurrenz ausgerichtete Wirtschaft mit Rettungsgeldern zu unterstützen, statt die Situation für einen Umbau der Wirtschaft zu nutzen – denken Sie nur an die rund 9 Milliarden Steuergelder, die ohne ökologische Auflagen an die Lufthansa gezahlt werden sollen.

Silke Helfrich (SH): Auch ich bin da skeptisch: ein Desaster kann zwar ein Anstoß für neues Denken sein, aber denken und handeln müssen wir schon selbst. Und wir müssen verstehen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Wirtschaftsmodell, welches viele inzwischen für selbstverständlich halten, und dem gefühlten Totalzusammenbruch der Wirtschaft infolge der Pandemie. Das viel gefeierte deutsche Exportweltmeisterdasein geht ja nicht nur mit einer systematischen Benachteiligung anderer einher, sondern auch mit einer eindrucksvollen Entfähigung. Sobald die Megamaschine ins Stocken gerät, spüren wir das und sehen im Prinzip nur eine Möglichkeit zu reagieren: weitermachen wie bisher – mit ein paar kosmetischen Korrekturen – und alles mobilisieren um das, was wir schon kennen wiederaufzubauen. Diese Kriegsrethorik finde ich übrigens bemerkenswert. Wir schreiben doch nicht das Jahr 1945!

Aktuell wirkt es jedenfalls so, als könne sich niemand etwas tatsächlich anderes vorstellen. Selbst die Grünen schlagen vor, den Konsum zu unterstützen, um die Konjunktur wieder „anzukurbeln“. Andere meinen, man müsse die Konjunktur ankurbeln, um den Konsum zu unterstützen. Augenscheinlich fehlen die Konzepte. Nur so ist das allgegenwärtige Bild vom „runterfahren“ und „wieder hochfahren“ der Wirtschaft zu erklären. Als ginge es um einen Computer, den wir nur eben kurz mal ausgeschaltet haben. Das Ganze allmählich umbauen – das ist der andere Weg. Denn das Wachstumsdesaster wird nur beendet, wenn wir unser Wirtschaften so konzipieren, dass wir nicht vom Konsum und vom Wachstum abhängig sind.

Das Netzwerk Oekonomischer Wandel versammelt Ansätze alternativen Wirtschaftens. Wie will das NOW den wirtschaftlichen Paradigmenwechsel herbeiführen?

MS: NOW ist im Mai 2020 an die Öffentlichkeit gegangen. Wir sind Menschen, die seit langem in unterschiedlichen alternativökonomischen Bewegungen aktiv sind: zu Commons, Solidarischer Ökonomie, Degrowth, Gemeinwohl-Ökonomie, Tauschlogikfreiheit, kollaborativer und ko-kreativer Ökonomie. Und wir haben in intensiven Diskussionen herausgearbeitet, was die verschiedenen Ansätze miteinander vereint. Wir denken, dass diese Skizze die Grundzüge einer zukunftsfähigen Alternative beschreibt. Wir hoffen, dass sie vielen Menschen Orientierung bietet und wir setzen darauf, dass sie die Diskussion über einen grundlegenden Systemwandel beflügelt.

Denn auch wenn sich die Perspektiven und Vorschläge für eine solidarische, ökologische und demokratische Wirtschaftsweise im Detail unterscheiden, überwiegen grundlegende Gemeinsamkeiten. Wir sehen nicht Geld, Kapital und Wachstum, sondern Menschen und Natur im Zentrum des ökonomischen Handelns. Und wir sind überzeugt, dass drei Wege zugleich gegangen werden müssen, weil sie nur gemeinsam eine wirksame Alternative darstellen: Commons ausweiten, Märkte am Gemeinwohl ausrichten, und den Staat umfassend demokratisieren.

Helfen uns diese Ansätze, in Zukunft auf solche Krisen wie die Corona-Pandemie besser vorbereitet zu sein? Oder zumindest katastrophale Folgen wie Obdachlosigkeit und Hunger zu verhindern also unsere schiere Existenz zu sichern?

SH: Unsere schiere Existenz sehe ich in Deutschland nicht in Gefahr. Das sieht in anderen Ländern ganz anders aus und dort gilt das, was schon vor Corona gegolten hat: die Armen, die Frauen, die Tagelöhner*innen sind am meisten betroffen. Doch bleiben wir bei uns. Selbstverständlich helfen diese Ansätze dabei, riesige Probleme abzuwenden. Ich kenne keinen Betrieb der Solidarischen Landwirtschaft, der jetzt um staatliche Unterstützung bittet. Auch Menschen, die seit Jahrzehnten an alternativen Wohn- und Eigentumsformen arbeiten, haben weniger Probleme mit hohen Mieten, die einfach weiterlaufen während die Einnahmen ausfallen. Viele der Praktiken, für die wir stehen, schaffen so etwas wie strukturelle Unabhängigkeit von Markt und Staat.

MS: Wir sind auch davon überzeugt, dass solche Ansätze auf globaler Ebene gebraucht werden, um mit existentiellen Krisen gerechter und menschenwürdiger umzugehen. Und sie ermöglichen es, die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – von der Klimakatastrophe über die soziale Spaltung der Gesellschaft bis hin zur Digitalisierung – so zu meistern, dass langfristig ein gutes Leben für alle Menschen auf diesem Planeten nicht zerstört, sondern ermöglicht wird. So ist aus unserer Sicht eine Daseinsfürsorge, die die Teilhabe aller ermöglicht, vor Erwerbszwang schützt und Ausschlüsse vermeidet, zentraler Teil der umfassenden Demokratisierung des Staates. Ein solches Grundauskommen könnte zum Teil als Grundeinkommen ausgezahlt werden und zum Teil im Ausbau von sozialer Infrastruktur wie fahrscheinlosem ÖPNV, Gesundheit, Bildung, Energie, Wasser, Wohnraum etc. bestehen. Das würde Härten von Arbeitslosigkeit und Armut in der Pandemie aber auch darüber hinaus vorbeugen.

SH: Nach so einem Statement kommt in der Regel die Frage nach der Finanzierung. Doch sie springt zu kurz. Zum Einen machen die politischen Reaktionen auf die Pandemie deutlich, dass das Argument, es sei kein „Geld da“, oft vorgeschoben wird. Auf einmal gibt es Milliarden – für (im heutigen Kontext) sinnvolle Dinge wie Kurzarbeit und für weniger sinnvolle wie die pauschale Rettung von börsennotierten fossilen Unternehmen. Es geht vor allem um den politischen Willen, für einen bestimmten Zweck Geld auszugeben, und um gute Konzepte, wie das zu bewerkstelligen ist. Im NOW geht es uns nicht um (die Finanzierung von) Einzelmaßnahmen, sondern darum, das Ganze umzubauen, also strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Schluss mit „Bullshitjobs“, Umverteilung von Arbeit, weniger Zeit für den Bau von Autos und die Produktion kurzlebiger Konsumgüter, mehr Zeit für alle Formen bezahlter und unbezahlter Sorgearbeit, deutlich kürzere Lohnarbeitszeiten, so dass wir auch mit anderen Formen des Wirtschaftens experimentieren können.

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Sie fordern Besitz statt Eigentum – was ist darunter genau zu verstehen? Wollen Sie das Eigentum abschaffen?

SH: Einen Hinweis auf den Unterschied zwischen Besitz und Eigentum gibt uns das Bürgerliche Gesetzbuch. Wem ein Haus als Eigentum gehört, der kann es als Investitionsobjekt leer stehen lassen, ökologisch sanieren, verkaufen, vermieten oder es abreißen. Wenn ich darin eine Wohnung Miete, dann besitze ich diese Wohnung – habe also eingeschränkte Nutzungsrechte. Sowohl Besitz als auch Eigentum beschreiben also ein jeweils unterschiedlich großes Paket von Nutzungsrechten. Insofern ist es interessant, dass auf den Vorschlag, Nutzungsrechte eher so festzulegen als sei ich nicht allgewaltige Eigentümerin von etwas, sondern eher zeitweise Nutzerin, sofort die Frage folgt: Wollen Sie etwa das Eigentum abschaffen? Also die heilige Kuh schlachten?

Ich würde sagen: es geht darum, unsere Idee vom Haben, von Eigentum haben selbst zu verändern und damit die Beziehungen zu den Dingen in der Welt, weil wir dadurch auch die Beziehung zu anderen Menschen und zu unserer Mitwelt ändern. Jedes Eigentum einer Person ist ja zugleich auch das Nichteigentum einer anderen Person. Deswegen war uns der etwas an Erich Fromm erinnernde Satz wichtig, dass wir „so haben, dass alle gut sein können.“ Die Frage, wie wir unser aller Nutzungsrecht an dieser Welt in Rechtspaketen schnüren, sollten wir weder den Jurist*innen noch jenen überlassen, die über ein liberales Eigentumsverständnis noch die kleinste Kleinigkeit zur Ware machen wollen.

MS: Auf jeden Fall wollen wir solche Verhältnisse abschaffen, in denen die Konzentration von Eigentum dem Gemeinwohl entgegensteht und die soziale Spaltung verschärft. Das erfordert natürlich, nicht nur unseren Eigentumsbegriff, sondern auch die derzeitige Verteilung zu problematisieren. Wenn acht Männer so viel Vermögen haben, wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, dann ist das ein Skandal, den aber unsere Wirtschaftsordnung erst möglich gemacht hat. Seit der letzten Weltwirtschaftskrise vor zehn Jahren hat sich die Zahl der Milliardär*innen weltweit fast verdoppelt. Und ihr Eigentum wächst um 2,5 Milliarden Dollar pro Tag. Ohne das Eigentum der Superreichen und die damit einhergehende Macht radikal zu verringern ist globale Gerechtigkeit nicht zu haben. Ebenso lässt sich die Klimakatastrophe nicht abbremsen, ohne Teile des fossilen Kapitals zu enteignen. Denn wenn nur ein Fünftel der noch unter der Erde liegenden fossilen Brennstoffe gefördert werden, die schon jetzt im Eigentum von transnationalen Öl-, Kohle- und Gasunternehmen sind und auf Finanzmärkten gehandelt werden, dann lässt sich die Klimakatastrophe nicht aufhalten. Doch zum Glück gibt es gute Konzepte, wie Eigentum transformiert und Übergänge gestaltet werden können.

Durch was soll Eigentum denn ersetzt werden und wie sollen wir dahin gelangen?

SH: Wie gesagt, Eigentum ist kein „Ding“, sondern beschreibt die Qualität von Beziehungen, dies wird dann im Recht verankert und zementiert dadurch gesellschaftliche Verhältnisse. In der Welt der Commons gibt es viele unterschiedliche Lösungen. Das ist so unterschiedlich, weil es immer darum geht, die Bedürfnisse aller Betroffenen und die Bedingungen vor Ort so gut wie möglich zu berücksichtigen. Aber einige Grundmuster lassen sich ausmachen: Wichtige Produktionsmittel, wie etwa Wissen und Land, sollten nicht veräußerbar sein. Nutzungsrechte können sich abwechseln, zeitlich limitiert werden und so je nach Bedürfnis oder Nutzungsformen mehreren Menschen oder Gruppen zugleich zu Gute kommen. Es gibt keine prädestinierte Rechtsform dafür, dass wir Nutzungsfragen so regeln, dass alle gut leben und sein können. Wir müssen das aushandeln und mit neuen Rechtsformen experimentieren, wie das etwa das Mietshäusersyndikat seit fast einem halben Jahrhundert erfolgreich tut.

Sie wollen nicht nur den Staat umfassend demokratisieren, sondern auch die Wirtschaft. Wie soll das in einer Zeit gelingen, in der die Welt, wie wir sie kennen, sich dramatisch wandelt, in der Millionen Menschen arbeitslos werden könnten und völlig orientierungslos sind?

MS: Es stimmt, in der aktuellen Situation sehnen sich viele Menschen danach, wieder zurück zur Normalität zu kehren. Aber war diese „Normalität“ wirklich gut und sinnstiftend? Es wäre doch eine riesige Möglichkeit, die staatlichen Rettungsgelder für die kriselnden Wirtschaftszweige dazu zu nutzen, diese ökologisch, sozial und demokratisch umzugestalten. So könnten beispielsweise Rettungsgelder für die Flug- und Autoindustrie nur mit der Auflage vergeben werden, in den nächsten 10 Jahren die Unternehmen umfassend zu dekarbonisieren, am Gemeinwohl auszurichten, und diese unter öffentlich-demokratische Kontrolle zu stellen und mit anderen Rechtsformen zu experimentieren, so dass nicht immer Aktionär*innen mit Dividenden bedacht werden müssen. Übergänge können gerecht organisiert werden, als Resultat demokratischer Diskussionen. Sie könnten darauf ausgerichtet sein, Teile der Flug- und Autoindustrie so umzubauen, dass sie gesellschaftlich nützliche und notwendige Dinge wie Windräder – oder eben auch Beatmungsgeräte – herstellen.

SH: Der Begriff der Orientierungslosigkeit trifft es nicht ganz. Uns ist nicht die Orientierung verloren gegangen, sondern der Kompass, der den Weg Richtung Konkurrenz, Wachstum und Konsum wies. Aber der war ohnehin kaputt. Wir brauchen einen anderen: NOW.

Silke HelfrichSilke Helfrich ist freie Autorin, Forscherin, Referentin, Bloggerin und Aktivistin. Sie hat romanische Sprachen und Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Ökonomie studiert und war viele Jahre entwicklungspolitsch in Mittelamerika tätig. Sie ist Mitbegründerin des Commons-Institut e.V. sowie der Commons Strategies Group und lebt und arbeitet im Jagsttal. Letzte Buchveröffentlichung (mit David Bollier): Frei, Fair und Lebendig. Die Macht der Commons (transcript Verlag, 2019). Copyright des Fotos: CC By A.K.
Matthias SchmelzerMatthias Schmelzer arbeitet beim Konzeptwerk Neue Ökonomie und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist seit Jahren in der globalisierungskritischen und Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv und schreibt zur Geschichte von Kapitalismus und Klima, politischer Ökonomie, Degrowth und sozialen Bewegungen. Copyright des Fotos: Lauren McKown.
Das Netzwerk Oekonomischer Wandel ist ein Zusammenschluss von Aktivist*innen verschiedener alternativökonomischer Bewegungen. Versammelt werden Ansätze zu Commons, Solidarischer Ökonomie, Degrowth, Gemeinwohl-Ökonomie, Tauschlogikfreiheit, kollaborativer und kokreativer Ökonomie. Das Netzwerk will eine zukunftsfähige Alternative zur gegenwärtigen Wirtschaftsordnung aufzeigen. Mehr zum NOW: hier.
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