Demokratisch raus aus der Klimahölle? | Klaus Dörre

Demoschild: "Climate is changing. So should we!"Foto: Markus Spiske | unsplash

 

Demokratisch raus aus der Klimahölle?

Text: Klaus Dörre | online veröffentlicht am 04.06.2023

Wir befinden uns auf dem „Highway in die Klimahölle“, so die drastischen Worte, mit denen der UN-Generalsekretär die diesjährige Weltklimakonferenz eröffnete. Wie umgehen wir die Katastrophe? Nur auf einem demokratischen Weg.

„Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren“, mit diesen dramatischen Worten eröffnete UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Weltklimakonferenz Cop-27. Ein Solidarpakt zwischen armen und reichen Ländern solle ermöglichen, was die Welt benötige – eine Nachhaltigkeitsrevolution, um den „Highway zur Klimahölle“ so rasch wie möglich zu verlassen. Welche Möglichkeiten gibt es, den Ökozid zu vermeiden? Eine Nachhaltigkeitsrevolution lässt sich, so meine These, nur verwirklichen, wenn sie Entscheidungsprozesse über das Was, das Wie und das Wozu der Güterproduktion radikal demokratisiert.

Zangenkrise und Klima(un)gerechtigkeit

Zur Begründung sei zunächst ein Blick auf jene menschheitsgeschichtliche Zäsur erlaubt, die ich als ökonomisch-ökologische Zangenkrise bezeichne. Der Begriff besagt, dass im Kapitalismus das wichtigste Mittel zur Überwindung wirtschaftlicher Stagnation und zur Pazifizierung sozialer Konflikte – die Generierung von Wirtschaftswachstum nach den Kriterien des Bruttoinlandsprodukts – unter Erhaltung des Status quo ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt. Mit dem Status quo sind in diesem Zusammenhang hoher Emissionsausstoß, ressourcenintensive Produktions- und Lebensweisen sowie ein beständig steigender Energieverbrauch auf fossiler Grundlage gemeint. Zangenkrise bedeutet, dass der Zwang zu immer weiterer ökonomischer Expansion auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen an unüberwindbare Grenzen stößt. Globale Großgefahren wie der menschengemachte Klimawandel machen sich lange Zeit eher graduell bemerkbar, bis sie an Kipppunkte gelangen, die eine Umkehrung von Fehlentwicklungen verunmöglichen. Sie lassen sich für eine gewisse Zeit verdrängen, aber nur, um dann umso heftiger auf ihre Verursacher*innen zurückzuschlagen. Das ist der Grund, weshalb es zumindest für die Klima-Dimension der Zangenkrise ein politisch festgelegtes Ende gibt. Noch vor 2050 soll die Wirtschaft der wichtigsten Industriestaaten vollständig dekarbonisiert sein. Dieser Wandel ist in seiner Bedeutung und seinen Ausmaßen durchaus mit der ersten industriellen Revolution vergleichbar und betrifft alle Sektoren und Wirtschaftsbereiche.

Welche politischen Weichenstellungen auch erfolgen, sie werden stets auf ein Spannungsverhältnis stoßen, das sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen innewohnt: das Problem der Klimagerechtigkeit. Offenkundig variiert der Ausstoß von Treibhausgasemissionen sowohl mit der jeweiligen Platzierung in der sozialen Geografie von Staaten als auch mit der jeweiligen Klassenposition innerhalb nationaler Gesellschaften. Betrachtet man die derzeitigen Anteile an den globalen Emissionen, stößt China die größte Menge an Treibhausgasen aus, Indien liegt hinter den USA und vor den EU-27-Staaten an dritter Stelle. Rechnet man indessen nach Emissionen pro Kopf, ergibt sich ein anderes Bild. Der Treibhausgasausstoß je Einwohner ist in den USA doppelt so hoch wie in China. Indiens Anteil wird von der Bundesrepublik um ein Mehrfaches übertroffen. Auch die absolute Emissionslast pro Kopf variiert beträchtlich. Wer in den USA, Luxemburg, Katar oder Saudi-Arabien zum reichsten Prozent gehört, emittiert mehr als das Zweitausendfache eines armen Bewohners in Ländern wie dem Tschad, Malawi, Honduras, Ruanda oder Tadschikistan.

Wie zuletzt eine neue Studie des Ökonomen Lucas Chancel dokumentiert hat, gewinnt die Konfliktträchtigkeit, die aus innergesellschaftlichen Ungleichheiten resultieren, gegenüber den zwischenstaatlichen Ungleichheiten kontinuierlich an Bedeutung. Während 1990 62 Prozent der Emissionen durch die Ungleichheiten zwischen Ländern verursacht wurden, waren 2019 nahezu zwei Drittel aller Emissionen auf Ungleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften zurückzuführen. Die Zeit, in der die untersten Einkommensgruppen der reichen Länder mehr emittierten als die wohlhabendsten Gruppen der armen Staaten, ist vorbei. Heute emittieren die unteren und mittleren Vermögens- und Einkommensgruppen in Europa und Nordamerika deutlich weniger als die oberen zehn Prozent in Asien, Russland und Lateinamerika.

Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass die Produktion von Luxusartikeln für die oberen Klassen und der Konsum durch begüterte Haushalte zur Haupttriebkraft eines Klimawandels geworden sind, unter dessen Folgen national wie global vor allem die ärmeren, sozial besonders verwundbaren Bevölkerungsgruppen zu leiden haben. Nur weil Personen mit „kleinen Geldbörsen“ ihren Gürtel wegen sinkender Einkommen und steigender Preise enger schnallen müssen, sind die verschwenderischen Lebensstile der oberen Klassen überhaupt noch möglich.

Transformation mit angezogener Handbremse

Das ist der Grund, weshalb die gegenwärtig dominanten politischen Strategien zur Einhegung des Klimawandels immer wieder scheitern. Es gelingt ihnen nicht, soziale und ökologische Nachhaltigkeit so auszubalancieren, dass eine Nachhaltigkeitsrevolution möglich wird. Marktaffine Transformationsoptionen wie die einer stärkeren Institutionalisierung des Emissionshandels werden daran nichts ändern. Generell trifft zu, dass marktwirtschaftliche Reformen das Problem der Klimagerechtigkeit in einer Weise angehen, die vor allem die kleinen Portemonnaies belastet. Zudem bietet der Emissionshandel keinerlei Anreize für dringend benötigte Negativemissionen; er garantiert nicht einmal, dass reale Emissionen wirklich kompensiert werden und bewirkt daher tendenziell das Gegenteil sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit.

Die Technikoption vermag das kaum zu ändern. Ihre Vorreiter wie Elon Musk und Bill Gates stehen für eine Ideologie, die in unternehmerischer Kreativität, technischen Innovationen und einer Berücksichtigung des Gesetzes von Angebot und Nachfrage die Lösung für nahezu jedes Weltproblem sieht. Investiert werden soll in CO2-neutralen Zement, Stahl, Dünger, Kunststoffe, eine CO2-freie Wasserstoffproduktion sowie in CO2-neutrale Alternativen zum Palmöl, in die CO2-Abscheidung und die „Kernspaltung der nächsten Generation“ (Bill Gates). Geht es nach dem technikbasierten Solutionismus, fahren wir künftig mit dem Elektroauto, verfügen über synthetische Kraftstoffe, essen aus Pflanzen hergestelltes Fleisch, bauen mit emissionsfreiem Zement, verarbeiten klimaneutralen Stahl, lassen die Welt aber im Großen und Ganzen so, wie sie ist. Das ist eine Wette auf die Zukunft, die nicht aufgehen wird, weil die systemischen Treiber des „Immer mehr und nie genug“, allen voran eine auf Wachstum, Marktexpansion und privaten Gewinn ausgerichtete Wirtschaft, fortbestehen.

Die Staatsoption lässt Marktmechanismen Raum und setzt ebenfalls auf technologischen Wandel; sie bricht jedoch mit der Vorstellung, der Staat sei ein schlechter Unternehmer. Der Staat müsse „zu jeder Zeit im Konjunkturzyklus die Rolle eines echten Tigers spielen“, während die Unternehmen nur die Rolle von „Hauskatzen“ einnähmen, argumentiert beispielsweise die Ökonomin Mariana Mazzucato. Doch auch diese Option hat ihre Schwächen. So sind wirtschaftsfreundliche Staatsinterventionen kaum in der Lage, Rent-Seeking-Strategien zu begegnen, mit deren Hilfe große Marktakteure das eigene Einkommen zulasten des Einkommens anderer Marktteilnehmer*innen steigern. Hinzu kommt das Agieren staatlicher Apparate und Behörden, die an politisch gewollte Zurückhaltung gewöhnt, unter akuter industrie- und strukturpolitischer Fantasielosigkeit leiden. Ein staatlich gelenkter Umbau der Wirtschaft, der sich an Dekarbonisierungszielen ausrichtet, ist mit schwerfälligen Behörden, die im Routinemodus erstarren, kaum zu machen.

Insgesamt halten alle genannten Optionen bei der Grundentscheidung einer Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und dessen ökologisch destruktiven Folgen fest. Das führt zu einem eigentümlichen Widerspruch: Einerseits muss sich nahezu alles rasch ändern, nur die Basisregel kapitalistischer Markwirtschaften, der Zwang zu unendlicher Akkumulation und fortwährendem raschen Wirtschaftswachstum, soll bestehen bleiben. Aus dem Finanz- wird ein „Naturkapitalismus“ (Ernst Ulrich von Weizsäcker), wobei die gleichen systemischen Mechanismen, die die Zangenkrise heraufbeschworen haben, auch zu ihrer Überwindung beitragen sollen.

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Bruch mit den Krisenursachen

Damit brechen Politiken, die bei der Grundentscheidung auf eine Befreiung der Gesellschaften von systemischen Akkumulations- und Wachstumszwängen und damit auf eine Demokratisierungsoption setzen. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie Klimaschutz und ökologische Nachhaltigkeit mit dem Übergang zu einem anderen, letztendlich postkapitalistischen Gesellschaftstyp verbinden. Die Demokratisierung von Entscheidungsmacht über Investitionen ist ihr wichtigstes Handlungsfeld. Das Grundproblem, vor dem der neue Staatinterventionismus steht, resultiert aus der Aufgabe, überschüssiges Kapital in die richtigen Felder zu lenken, um sozial und ökologisch nachhaltig wirken zu können. Einerseits ist der Kapitalbedarf in wichtigen wirtschaftlichen Sektoren und Branchen gewaltig, andererseits werden überfällige Investitionen in soziale und ökologische Nachhaltigkeit kurzfristig kaum Gewinne abwerfen. Sie sind deshalb für private Unternehmen wenig attraktiv und können ohne Umverteilung von den Reichsten zu den weniger Begüterten nicht sozialverträglich finanziert werden.

Damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Nachhaltigkeit ist ohne umfassende Wirtschaftsdemokratie nicht zu erreichen. Besser, als einen SUV nicht zu kaufen oder zu fahren, ist, ihn gar nicht erst zu produzieren. Und besser, als bewaffnete Drohnen nicht einzusetzen, ist, sie gar nicht erst herzustellen. Wer dergleichen erreichen will, darf nicht länger hinnehmen, dass winzige Managereliten darüber befinden, was auf welche Weise herzustellen ist. Produktionsentscheidungen müssen radikal demokratisiert, das heißt, für die Zivilgesellschaft geöffnet werden. Nur wenn Produktionsentscheidungen strikt an soziale und ökologische Nachhaltigkeitsziele rückgebunden werden, besteht überhaupt eine Chance, den menschengemachten Klimawandel noch in halbwegs kontrollierbaren Grenzen zu halten. Konkret heißt das: Die Zivilgesellschaften haben in demokratischer Weise direkt darauf Einfluss zu nehmen, was, wie und zu welchem Zweck produziert und reproduziert wird. Es geht um eine Umverteilung von Entscheidungsmacht zugunsten der gegenwärtig ohnmächtigen Mehrheiten, denn ohne solch tiefgreifende Eingriffe in die bestehende Wirtschaftsordnung wird sich Nachhaltigkeit weder in der ökologischen noch in der sozialen Dimension realisieren lassen.

Eine radikale Demokratisierung von Produktionsentscheidungen ist aber noch keine Garantie für Nachhaltigkeit. Sie verbessert die Chancen, auf eine Produktion langlebiger Güter umzustellen, nur dann, wenn alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen an Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Die Einrichtung von Transformations- und Nachhaltigkeitsräten könnte das entscheidend vorantreiben. Über Vertreter*innen aus Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften hinaus wären sie mit Repräsentant*innen von Umweltverbänden, ökologischen Bewegungen, Fraueninitiativen, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen zu besetzen. Zu den Aufgaben solcher Räte würde es gehören, die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen zu überwachen, die Produktion langlebiger Güter einzufordern und neue Formen eines kollektiven Selbsteigentums in Genossenschaften und Sozialunternehmen zu erproben.

Mehr Demokratie

Die Aussichten auf eine globale Bewegung für mehr Demokratie scheinen gegenwärtig gering, doch gilt, was der Soziologe Immanuel Wallerstein über soziale Systeme, im Niedergang schreibt: „Die letzte Phase, die Übergangsphase, ist besonders unvorhersehbar, aber sie ist besonders offen für den Input von Einzelnen und von Gruppen, was ich als Zuwachs des Faktors des freien Willens bezeichnet habe. Wenn wir unsere Gelegenheit nutzen wollen (…), müssen wir zuerst die Gelegenheit als das erkennen, was sie ist und worin sie besteht.“ Die Gelegenheiten zu erkennen, die sich bieten, wenn die regierenden Eliten entgegen ursprünglicher Absichten und Programmatiken Energiekonzerne verstaatlichen, Gaspreise deckeln, Yachten enteignen oder Übergewinne großer Konzerne besteuern, deuten an, was ein Reformismus von oben, gepaart mit dem Druck sozialer Bewegungen von unten erreichen könnte. Es kommt darauf an, solche Gelegenheiten entschlossen beim Schopfe zu packen. Denn ohne den Druck einer starken Gegenbewegung, die eine nachhaltige und, so meine ich, eine demokratisch-sozialistische Systemalternative bietet, haben letztendlich nicht einmal die pragmatischsten Reformvorschläge Aussicht auf Erfolg. ■

Dieser Text ist zuerst in agora42 1/2023 ZUSAMMENBRUCH in der Rubrik HORIZONT erschienen. In dieser Rubrik geht es um die Erkundung anderer gesellschaftlicher Wirklichkeit sowie um die Möglichkeiten, konkrete Veränderungen herbeizuführen.
Foto von Klaus Dörre
Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie in Jena sowie Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Mit Stephan Lessenich und Hartmut Rosa gründete er die Forschungsgruppe Postwachstumsgesellschaften. Zum Thema von ihm erschienen: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution (Matthes & Seitz, 2022), (mit anderen): Abschied von Kohle und Auto? Sozial-ökologische Transformationskonflikte um Energie und Mobilität (Campus Verlag, 2022)
Foto: Angelika Osthues (angelika-osthues.de)
Vom Autor empfohlen:
Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? (VSA-Verlag, 2020)
Lucas Chancel: Global carbon inequality over 1990-2019 (Nature Sustainibility, 5/2022)

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