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Die Krise als neue ökonomische Normalität?
Text: Niko Paech | online veröffentlicht am 08.06.2023
Resilienz beinhaltet die Fähigkeit einer Gesellschaft, einer Volkswirtschaft, eines Teilsystems, einer Organisation oder eines Individuums, Krisen zu überstehen und dabei die originäre Funktionsfähigkeit nicht zu verlieren. Blickt man auf den Zustand unserer spätmodernen, krisengeschüttelten Gesellschaften, scheint diese Fähigkeit stark in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Was sind die strukturellen Ursachen für die mit dem Wohlstand gewachsene Vulnerabilität, ganz gleich ob sich diese als Folge von Kriegen, Pandemien, Finanzkrisen, dem Klimawandel, Havarieren, dem Brexit oder anderen Störereignissen offenbart?
Notstände und Krisenbewältigungsstrategien sind zum kräftezehrenden Dauerzustand der Spätmoderne geworden. Sie stellen geschichtsphilosophische Grundpositionen, aus denen sich vorherrschende Fortschrittsnarrative speis(t)en, auf eine harte Probe. Abgesehen von menschlichem Leid wirken sich aktuelle Eskalationsszenarien auf das wirtschaftliche Geschehen aus.
In ökonomischer Hinsicht lassen sich die Eskalationsszenarien als Prozesse der Aufdeckung – besser: Materialisierung – zuvor eingegangener und verdrängter Modernisierungsrisiken verstehen, die insbesondere durch Entgrenzung und komplexe Wertschöpfungsarchitekturen potenziert wurden. Was sind die strukturellen Ursachen für die mit dem Wohlstand gewachsene Vulnerabilität, ganz gleich ob sich diese als Folge von Kriegen, Pandemien, Finanzkrisen, dem Klimawandel, Havarieren, dem Brexit oder anderen Störereignissen offenbart?
Ressourcenverknappung: Die schon im ersten Bericht an den Club of Rome thematisierte Überbeanspruchung irdischer Quellenfunktionen erhielt mit der „Peak-Oil“- bzw. „Peak-Everything“-Debatte einen neuen Akzent. Die abnehmende Verfügbarkeit physischer und ökologischer Ressourcen, von denen das in Europa vorherrschende und im Globalen Süden auf dem Vormarsch befindliche Industriemodell zusehends abhängig wurde, betrifft nicht nur Energieträger, sondern auch Boden, Wasser, Phosphor, Sand, Biodiversität, ökologische Systemleistungen, seltene Erden, strategische Metalle etc.
Globalisierung und Komplexitätssteigerung: Digitale Innovationen haben zu einer Senkung jener Transaktionskosten geführt, die eine globusumspannende Wertschöpfungsstruktur zuvor begrenzten. Effektive und in allen Bereichen angewendete Kommunikationstechnologien wirken sich auf den Grad der Spezialisierung und den geografischen Radius ökonomischer Prozesse aus. Dies betrifft sowohl die Reichweite der Distribution und Vermarktung als auch die Erschließung beliebig entfernter Ressourcenquellen (Flächen, Mineralien, Arbeitskräfte und Kompetenzen/Wissen). Die Auflösung vormals standortgebundener Produktionsstätten zugunsten eines globalen Lieferketten-Managements, basierend auf „Global Sourcing“ bzw. „Low-Cost Country Sourcing“ (Suche nach der optimalen Beschaffungsregion für die jeweilige Warengruppe), hat zu einer immensen Steigerung der betriebswirtschaftlichen Effizienz geführt. Die Weitergabe dieser Kosteneinsparungen über verringerte Marktpreise gilt als wesentlicher Faktor für permanente Wohlstandszuwächse. Zugleich ergibt sich daraus ein Zielkonflikt, denn das grenzenlos verzweigte, in eine unüberschaubare Anzahl ausdifferenzierter Zulieferstrukturen zerlegte Versorgungsnetz erweist sich als unkontrollierbar und störanfällig.
Abbau von Lagerkapazitäten: Indem sich japanische Managementkonzepte (insbesondere Lean Production, Kanban, Just-in-time- und Just-in-sequence-Production, Modular Sourcing etc.) als Standard durchsetzen konnten, ließen sich weitere Kosteneinsparungen realisieren. Sie beruhen darauf, die Lagerung von Vor- und Endprodukten vor Ort bis auf minimale, nur äußerst kurze Zeiträume überbrückende Bestände zu reduzieren. An die Stelle von Lagerkapazitäten tritt längst eine in hoher Taktfrequenz (wöchentlich, täglich oder stündlich) erfolgende Zulieferung auf Abruf, nämlich exakt im Umfang der pro Zeiteinheit verbrauchten bzw. umgesetzten Güter (Just-in-time-Production). Dieses Konzept ist von einer komplexen Logistik und fossilen Transportsystemen abhängig, deren auch nur kurzfristige Unterbrechung zu Versorgungsengpässen führt.
Technisierung: Arbeitssparender technischer Fortschritt bildet einen weiteren Faktor für die beträchtlichen Wohlstandszuwächse, bedingt aber eine doppelte Abhängigkeit von knappen Ressourcen. Erstens verursacht die Ersetzung von Arbeitskräften durch Mechanisierung, Automatisierung und Digitalisierung steigende Verbräuche von Energie und anderen Substanzen (direkte Ressourcenabhängigkeit). Zweitens: Wenn derselbe Beschäftigungsstand erhalten bleiben soll, ist dies angesichts eines verringerten Arbeitskräftebedarfs nur durch Wirtschaftswachstum möglich, das physisch nie neutral sein kann (indirekte Ressourcenabhängigkeit).
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Zunehmende Skalenerträge: Eine Ausschöpfung sinkender Durchschnittskosten („Gesetz der Massenproduktion“), die ebenfalls ein Ergebnis der Technisierung sind, führt zu hoher Marktkonzentration und damit einer Verteilung der Versorgungsleistungen auf wenige große Anbieter. Entsprechend weitreichend sind die ökonomischen und sozialen Folgen, zumal Engpässe, wenn lediglich ein marktbeherrschender Produzent, Lieferant oder Einzelhändler ausfällt. Außerdem fehlt einer Angebotskonfiguration der großen Einheiten – etwa in Form von Monopolen oder Oligopolen – die nötige Vielfalt an eigenständigen Unternehmen, die durch unterschiedliche Reaktionsmuster ein breites und wirksameres Spektrum an Krisenbewältigungsstrategien entfalten.
Monopol/Oligopol: Von einem Monopol spricht man, wenn nur ein Händler, ein Unternehmen oder Hersteller als alleiniger Verkäufer einer Ware oder einer Dienstleistung auftritt, also auf der Angebotsseite nur ein Anbieter (Monopolist) vielen Nachfragern gegenübersteht. Beim Oligopol stehen wenige Anbieter vielen, relativ kleinen Nachfragern gegenüber. Oligopole kommen relativ häufig vor, zum Beispiel in der Automobilbranche, in der Mineralölindustrie, in der Computerindustrie oder auch im Flugzeugbau. Monopole und Oligopole entstehen durch den zunehmenden Konzentrationsprozess in der Wirtschaft.
Verlust an Subsistenzfähigkeit: Der auf industrieller und entgrenzter Spezialisierung basierende Konsumwohlstand impliziert entsprechende Konsumabhängigkeit. Soziale Praktiken einer zumindest graduellen, ergänzenden oder komplementären Selbst- oder Regionalversorgung werden systematisch verdrängt. Deren Überwindung ist gerade das Ziel „effizienter“ Spezialisierung, verbunden mit hohem Technikeinsatz.
Bildung, Akademisierung und Lebensstile: Nicht nur die Bildungspolitik, sondern sämtliche als modern geltenden Erziehungspraktiken sind an einer zunehmend automatisierten und wissensintensiven Wertschöpfung orientiert. Um handwerkliche, landwirtschaftliche und andere als „schmutzig“ oder anstrengend herabgewürdigte Arbeit möglichst zu eliminieren, wurde diese zunehmend technisiert, global verlagert oder an Arbeitsmigranten delegiert. Im Gegenzug stieg der Bedarf an spezifischen Betätigungsfeldern für jene, die vom „Akademisierungswahn“ profitieren oder sich ihm anheimstellen. Deren räumlicher Aktionsradius weitete sich infolgedessen immens aus, damit die Suche nach hinreichend anspruchsvollen Entfaltungs- und Erwerbsmöglichkeiten nicht auf das eigene Land beschränkt bleiben musste. Aber die resultierende kosmopolitische, vermeintlich postmaterielle Daseinsform basiert letztlich auf nichts anderem als reichhaltig verfügbarem und billigem Rohöl. Die angeblich „saubere“ und (grenz-) offene Wissensgesellschaft bildet ein historisch einmaliges Fanal energieabhängiger Lebensführungen. Letztere hängen nicht nur deshalb am seidenen Faden, weil die nächste Erdölverknappung nur eine Frage der Zeit ist, sondern weil bereits die Ausbreitung eines Virus auf der anderen Seite des Erdballs das zivilisatorische Kartenhaus einstürzen lässt.
Diese miteinander verwobenen und sich verstärkenden Tendenzen deuten auf einen lange vernachlässigten Zielkonflikt hin, nämlich jenen zwischen betriebswirtschaftlicher Effizienz, einmündend in volkswirtschaftliches Wachstum auf der einen, und Resilienz auf der anderen Seite. Resilienz beinhaltet die Fähigkeit einer Gesellschaft, einer Volkswirtschaft, eines Teilsystems, einer Organisation oder eines Individuums, Krisen zu überstehen und dabei die originäre Funktionsfähigkeit nicht zu verlieren.
Will man eine höhere Resilienz erreichen, setzt dies voraus, die Triade aus Wachstum, Globalisierung und Technologieabhängigkeit einzugrenzen. Um die ökonomische und ökologische Konkursverschleppung zu bereinigen, wäre eine Güterversorgung anzustreben, die nur zwischen einer bedarfsgerechten Untergrenze und einer ökologisch verantwortbaren Obergrenze schwanken dürfte. Dieser Abschied vom Wachstumsdogma zugunsten einer zyklischen Entwicklung erinnert an das biblische Gleichnis der fetten und mageren Jahre. Um magere Phasen zu überstehen, müssen Strukturen und Kompetenzen bewahrt werden, die dazu verhelfen, durch handwerkliche und landwirtschaftliche Wertschöpfung in lokaler oder regionaler Dimension auch dann noch auskömmlich versorgt zu sein, wenn globale Lieferketten und ressourcenabhängige Technologien ausfallen. Um noch ein Gleichnis zu bemühen: Vielleicht ist zukünftig der Spatz in Hand der Taube auf dem Dach vorzuziehen. ■
Dieser Text ist zuerst in agora42 2/2022 RESILIENZ in der Rubrik TERRAIN erschienen. In dieser Rubrik werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
Niko Paech lehrt an der Universität Siegen im Studiengang Plurale Ökonomik und ist einer der wichtigsten Vordenker der Postwachstumsbewegung. Zum Thema von ihm erschienen: All you need is less (zusammen mit Manfred Folkers; oekom, 2020)
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