Die Dialektik der ökologischen Transformation | Reinhard Loske

WindräderFoto: Dan Meyers | unsplash

 

Die Dialektik der ökologischen Transformation

Be- oder entschleunigen? Wachsen oder schrumpfen?

Text: Reinhard Loske | Gastbeitrag | veröffentlicht am 16. März 2023

Wirft man einen Blick auf die zahlreichen Diskurse zur ökologischen Transformation in Deutschland, Europa und weltweit, dann fallen neben Gemeinsamkeiten hinsichtlich der allgemeinen Ziele auch vielfältigste Unterschiede hinsichtlich der Konzepte, Strategien und Maßnahmen zur Zielerreichung ins Auge. Die Liste der oft kaum überbrückbar scheinenden Widersprüche ist dabei lang.

Entschleunigung, Entrümpelung und Entschlackung werden von vielen Umweltbewegten als Schlüsselelemente nachhaltiger und ressourcenschlanker Wirtschafts- und Lebensstile gesehen. Protagonisten des „Green Deals“ hingegen preisen die Beschleunigung von Verfahren zur Durchsetzung grüner Technologien sowie großangelegte grüne Investitionsoffensiven als Wachstumsstimuli. An die Stelle von Konsumismus-Kritik tritt bei ihnen das Lob nachhaltigen Konsums. Kann es den einen gar nicht genug Ökoinnovationen geben, setzen die anderen auf Exnovationen, also Ausstiege, langlebige Gebrauchsgegenstände und die Befreiung von Technoballast. Wo die einen sich an technischen Bauwerken in der Landschaft wie Solar- und Windparks, Wasserkraftwerken und Biogasanlagen erfreuen und deutlich mehr davon wollen, kommen den anderen Landschaftsverschandelung, Monokulturen, Artenschwund und Zielkonflikte in den Sinn. Wird hier das sogenannte grüne Wachstum in den Stand einer neuen ökonomischen Leitidee erhoben, was als Konzept mittlerweile tief in den politischen Mainstream vorgedrungen ist, werden dort die Postwachstumsökonomie und das grüne Schrumpfen („Degrowth“) als einzig zukunftsfähige Formen des Wirtschaftens gesehen. Fordern die einen handelbare Emissionsrechte für CO2 und deren schrittweise Verknappung oder CO2-Steuern, damit die Preise in der grünen Marktwirtschaft die „ökologische Wahrheit“ sagen und so klimapolitische Lenkungseffekte erzielen können, warnen andere vor einer ökonomischen Inwertsetzung und Totalkommerzialisierung der Natur. Im Kapitalismus mit seinen Akkumulations- und Wettbewerbszwängen sei Nachhaltigkeit grundsätzlich unmöglich. Grüner Kapitalismus sei deshalb nichts als eine gefährliche Illusion. Und nicht zuletzt: Setzen die einen auf grüne Weltmärkte, grüne Wettbewerbsfähigkeit, nachhaltige Globalisierung und allumfassende Ökoeffizienz, sind den anderen Regionalisierung, Kooperation, Subsistenz und Suffizienz die besten Mittel, um der Entfremdung der Menschen von ihrer Umwelt entgegenzuwirken und die gebotenen ökologischen Reduktionsziele zu erreichen.

Was folgt aus diesem großen Durcheinander der Stimmen, was daraus, dass die einen „Mehr und schneller!“, die anderen „Weniger und langsamer!“ rufen? Versuchen wir uns an einer Antwort, sollten zunächst einmal die Positionen mit Alleinvertretungsanspruch näher unter die Lupe genommen werden, allen voran die Idee des technologiegetriebenen grünen Wachstums und die Vorstellung, ökologische Verantwortung sei vor allem beim Individuum und seinem Lebensstil zu verorten.

Die Grenzen des grünen Wachstums

So unzweifelhaft es ist, dass in Zukunft manche Sektoren der Wirtschaft wachsen müssen, von den erneuerbaren Energien und der Wasserstoffwirtschaft über digitale Steuerungstechniken für Umweltschutz und Ressourceneinsparung bis zu Kreislaufwirtschaft, nachhaltiger Verkehrstechnik, flächenschonender Siedlungstechnik und naturverträglicher Landnutzungstechnik, so klar ist doch, dass im Gegenzug vieles schrumpfen oder gänzlich unterbleiben muss. Kohlekraftwerke, Verbrennungsmotoren, neue Fernstraßen, Regionalflughäfen, Landschaftszersiedlung, Wasserverschwendung, Wegwerfprodukte, Überglobalisierung, Pestizid- und Mineraldüngereinsatz, Massentierhaltung, Futtermittelimporte, Fleischkonsum und anderes, von all dem brauchen wir in Zukunft weniger, von manchem gar nichts mehr. Wird die Bremse hier nicht durch klare politische Vorgaben deutlich angezogen, nützt der ganze technische Fortschritt wenig, denn die potenziellen Effizienzgewinne werden durch Zuwachseffekte aufgefressen. Metaphorisch gesprochen: Das Schiff würde zwar effizienter beladen, wegen Überladung aber dennoch untergehen. In der ökonomischen Fachsprache ist dieses Phänomen als Rebound- oder Bumerang-Effekt bekannt.

Überdies muss gelten, dass die Wohlstandsmessung in Zukunft realistisch erfolgt und nicht auf das Bruttoinlandsprodukt fixiert bleibt. Wo Wohlstand mit ganzheitlichen Indikatoren gemessen wird, die ökonomische, soziale und ökologische Faktoren gleichermaßen betrachten, entstehen auch ganz andere Wohlstandsbilder, Wohlstandserzählungen, Wohlstandsmodelle. Genau diese braucht es aber, um die fatale TINA-Geschichte („There is no alternative“) rund um das Wirtschaftswachstum zu entkräften.

Kurzum: Auch grünes Wachstum hat Grenzen. Auch grünes Wachstum braucht enorme Mengen an Rohstoffen. Für einzelne Sektoren der Volkswirtschaft mag es vorübergehend eine sinnvolle Leitorientierung sein, für die Volkswirtschaft insgesamt ist es das nicht. Wer die Rückbau- und Regenerationsbedarfe verschweigt und nur vom Zubau und der dynamischen Erschließung immer neuer Ressourcen redet, betrügt sich selbst und andere. Vor allem aber würde so – ganz ohne Vorsatz oder gar bösen Willen – sichergestellt, dass alle Umweltziele krachend verfehlt werden.

Die Selbstbefreiung vom Überfluss: Reicht das?

Umgekehrt sind aber auch Strategien, die nicht auf politische Regulierung, Investitionen, Technik und Innovationen, sondern vor allem auf individuelle Lebensstiländerungen und Ausstiege aus dem Hamsterrad setzen, für sich genommen nicht imstande, die notwendigen ökologischen Ziele zu erreichen, sei es die sogenannte Klimaneutralität bis 2045 (angemessener wäre angesichts der eskalierenden Erderwärmung Klimapositivität bis 2035), das unverzügliche Stoppen des Biodiversitätsschwundes oder die Flächenverbrauchsneutralität (Nettoneuversiegelung von null) bis 2030, ganz zu schweigen von großen Zielen wie einer Reduzierung des Ressourcenverbrauchs um den „Faktor 10“.

Die Erreichung solch anspruchsvoller Ziele ist eine eminent politische Gemeinschaftsaufgabe und kann nicht auf eine individualisierte Selbstbefreiung vom Überfluss verkürzt werden. Zu sehr wird der Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur durch die physischen Infrastrukturen vorbestimmt, innerhalb derer wir leben. Werden diese Infrastrukturen nicht konsequent verschlankt und auf ökologische Nachhaltigkeit umgestellt, wird auch „das Richtige im Falschen“ kaum zu einer echten Trendwende führen.

Sicher, aufgeklärte gesundheits- und nachhaltigkeitsorientierte Lebensstile (englisch LOHAS) von Einzelnen oder kleinen Gruppen sind richtig und gut, weil sie ins Handeln bringen. Man bemüht sich vernünftigerweise selbst um das ökologisch Gebotene, zumal das oft auch Kreativität, Lebensfreude, Zufriedenheit und neue Qualitäten mit sich bringt. Manche ökologische Praxis ist zunächst in der Nische gediehen und später in den Mainstream hineingewachsen. Denken wir nur an die erneuerbaren Energien, den Vegetarismus, die Biolebensmittel oder das Car Sharing.

Lebensstilpioniere waren wichtig und bleiben wichtig. Aber eine zu stark individualisierte oder milieuspezifische Rahmung der Nachhaltigkeit läuft Gefahr, das Politische aus dem Blick zu verlieren und nicht mehr auf das Ganze der Gesellschaft zu zielen. Für Populisten aller Art ist das ein gefundenes Fressen, denn kaum etwas tun sie lieber, als ökologische Praxis als Marotte einer saturierten und vermeintlich abgehobenen „Bio-Bourgeoisie“ zu denunzieren, der die kleinen Leute egal sind und die sich selbst eine höhere Moral zuschreibt.

Kurzum: So sinnvoll, sinnstiftend und ins Handeln bringend ökologisch bewusste Lebensstile sind, so wenig können diese doch klare politische Rahmenbedingungen ersetzen. Ein Slogan wie „Vergesst die Politik! Macht es lieber selbst!“ mag sympathisch klingen, ist aber letztlich eine falsche Zuspitzung. Nachhaltigkeit braucht verbindliche politische Ziele, die für alle gelten – und zu deren Erreichung (stark problemverursachende) Wohlhabende wesentlich mehr beitragen müssen als (stark problembetroffene) Einkommensschwache. Das muss national wie international gelten.

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Das Potenzial der Allmende

Das politisch wirklich Herausfordernde, aber auch Inspirierende liegt heute zwischen den Polen „Technikwandel“ und „Lebensstilwandel“. Hier tut sich ein weites Handlungsfeld auf, in dem für vielfältigste soziale, unternehmerische und zivilgesellschaftliche Nachhaltigkeitsinitiativen Raum ist. Dieser Gemeinschaftsraum, nennen wir ihn die Allmende, muss von der Politik aber systematisch erschlossen werden, durch Gesetze, Anreize und Förderungen.

Hier geht es um kooperative Wirtschaftsformen, die Sharing Economy und Prosumenten-Netzwerke (in denen Konsumierende zugleich Produzierende sind), um Reparatur- und Regenerationsleistungen, die Pflege öffentlicher Güter und Verantwortungseigentum, um Gesundheitsförderung, wechselseitiges Sorgen und aktivierende Wissensweitergabe, um gesellschafts- und realitätszugewandte Lehr- und Lernformen, Geschlechter- und Generationengerechtigkeit sowie demokratische Beteiligungsverfahren in Zivilgesellschaft und Unternehmen, welche Partizipation und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung gleichermaßen fördern.

Hier geht es auch um neu aufkommende Fragen, etwa diejenige, wie der demographische Wandel für die Nachhaltigkeitstransformation besser genutzt werden kann und wie die Dynamik der Jungen und die Erfahrung der Alten sich zum Wohle des Ganzen wechselseitig ergänzen können. Gerade in den westlichen Industriestaaten, wo nun der massenhafte Austritt der geburtenstarken Jahrgänge aus der Erwerbsphase bevorsteht, wäre es doch tragisch, wenn deren Kompetenzen für die Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen ungenutzt blieben – was allerdings auch ein echtes Sich-Einlassen der Alten auf die Fragen, Ideen und Konzepte der Jungen erfordert. Ein solch kooperativer Ansatz wäre jedenfalls um Größenordnungen fruchtbarer als die wohlfeile Rahmung des Generationenkonflikts als Kampf zwischen zukunftsvergessenen und konsumfixierten „Boomern“ und übersensiblen und verwöhnten Angehörigen der „Generation Snowflake“, die bei den geringsten Widerständen schmilzt und aufgibt. So simpel ist die Welt zum Glück nicht.

Schaut man aus einer Allmende- und Gemeinwohlperspektive auf die ökologich-sozialen Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft, dann wird erkennbar, dass die zugespitzte „Effizienz/Suffizienz“- beziehungsweise „Technik/Lebensstil“-Dichotomie doch ein wenig unterkomplex ist und wir als dritte Dimension der Nachhaltigkeitspolitik auch soziale Kohärenz und Konsistenz brauchen, die kluge Abstimmung von Teilzielen unter einem überwölbenden Gesamtziel für alle, die kluge Auswahl von Teilstrategien unter einer überzeugenden Gesamtstrategie, die auch Freiheitsgrade und Pluralität zulässt. Das schließt Ambiguitätstoleranz und dialektisches Denken ein, also die Fähigkeit, auch mit Widersprüchen umgehen zu können und sie im Idealfall sogar aufzuheben.

In Wahrheit nämlich stehen auf dem Felde der Nachhaltigkeit Transformationen aller Art an, teils behutsame, teils disruptive: Technologiewandel, Lebensstilwandel, institutioneller Wandel, digitaler Wandel, Kulturwandel und Wertewandel – und letztlich auch systemischer Wandel, wobei heute noch niemand genau sagen kann, welche Gestalt „das System“ als Ergebnis der diversen Transformationen am Ende genau haben wird.

So wahrscheinlich, ja beinahe gewiss es sein dürfte, dass der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, durch die ökologisch-soziale Gesellschafts- und Wirtschaftstransformation an ein Ende kommen wird, so wenig überzeugend ist doch das voreilige Proklamieren „fertiger“ Systemalternativen, ob sie nun als „grüne Staatszentriertheit“ oder – wie neuerdings von manchen vertreten – als „grüne Kriegswirtschaft“ daherkommen. Vielmehr gehören verbindliche Zieltreue, Prozesshaftigkeit, Gemeinsinn und Offenheit für Alternativen unbedingt zusammen.

Es ist auch wichtig zu verstehen, dass es in diesem Umbauprozess keineswegs ausschließlich um Neues und Revolutionäres geht, sondern in mancherlei Hinsicht auch um das Wiederentdecken und Wiedererlernen von Verschüttetem. Man denke nur an die Tugend des Maßhaltens („temperantia“), das Ideal der Balance (zwischen Materiellem und Immateriellem, Tätigkeit und Muße), die Eigenrechte von Mutter Natur und den Respekt vor ihr sowie die Einsicht, dass Ökologie und Ökonomie gleichermaßen im griechischen oikos wurzeln, der guten Bestellung des gemeinsamen Hauses.

Von den Zielen her denken und handeln: Weniger, anders, besser

Durchdenkt man die einzelnen politischen Handlungsfelder der Nachhaltigkeit konkret, entstehen durch eine solche Herangehensweise vielfältige Bilder und Geschichten: In der Stoffstrompolitik heißt die Devise dann Reduce, Reuse, Recycle, in der Energiepolitik Einsparung, Effizienz, Erneuerbare, in der Mobilitätspolitik Vermeiden, Verlagern, Verbessern, in der Agrarpolitik Bodenschonung, Bodenfruchtbarkeitsförderung, Biologischer Landbau. Ob nun 3R oder 3E, 3V oder 3B, stets liegt das argumentative Grundmuster offen zu Tage: Von manchem brauchen wir weniger oder gar nichts mehr. Von manchem brauchen wir mehr, vorübergehend deutlich mehr. Vieles müssen wir gemeinsam anders und besser machen. An manches müssen wir uns nur erinnern, wieder anderes – etwa moderne Wissenschaft und traditionelle Weisheit – zeitgemäß verbinden. Das Zukunftsfähige müssen wir in der Gegenwart beschleunigen. Und aus dem nicht Zukunftsfähigen müssen wir zügig aussteigen oder es mindestens verlangsamen, um es perspektivisch beenden zu können. All das gehört zwingend zu einer lebensdienlichen Politik für das Ganze der Gesellschaft, die den Kollaps abzuwenden und das Mensch-Natur-Verhältnis auf eine dauerhaft tragfähige Basis zu stellen versucht.

Die Fragen nach mehr oder weniger, schneller oder langsamer, sind also nur in Kombination mit den Fragen „Von was?“ und „Für was?“ zu beantworten. Die Idee, das Zurasen auf den Abgrund zu beschleunigen oder das Wachstum von Zerstörerischem zu fördern, erscheint wohl den allermeisten absurd. Da kann angesetzt werden. Es kommt eben darauf an, gemeinsam zu klären, was wachsen oder beschleunigt werden muss, was zu schrumpfen hat oder zu entschleunigen ist. Die Devise muss deshalb lauten: Von den Zielen her denken und handeln!

Pluralität als Stärke

Wenn die Analyse zutreffend ist, dass weder technisch-ökonomische Strategien des grünen Wachstums noch sozio-kulturelle Strategien des grünen Lebensstilwandels allein die großen ökologischen Herausforderungen bewältigen können, dann rückt das unweigerlich die Bedeutung der gemeinsamen Gesellschaftsgestaltung und der Politik in den Mittelpunkt. Dabei verlaufen die notwendigen Auseinandersetzungen über die besten Wege zur „Wiedereinbettung der Ökonomie in Gesellschaft und Natur“ in pluralistischen Gemeinwesen nun einmal kontrovers. Und das ist auch gut so.

Da werden Ingenieurinnen oder Handwerkerinnen im Zweifelsfall einen anderen Angang wählen als Klimaaktivistinnen oder Alternativökonominnen, Politiker oder Gewerkschafter einen anderen als Mittelständler oder Facharbeiter, Lehrerinnen oder Forscherinnen einen anderen als Landwirte oder Ärzte. Gebraucht werden für die große Gemeinschaftsaufgabe Nachhaltigkeit jedenfalls alle gleichermaßen. Sind die Ziele gesellschaftlich geeint und in Recht gegossen und wird ihre Erreichung regelmäßig und verbindlich überprüft, dann sind Unterschiede in den Zielerreichungsstrategien vielleicht eher ein Ausweis von stärkender Vielfalt als von schwächender Vielstimmigkeit.

Der Rat an die sozial-ökologischen Transformateure in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft kann also nur lauten, sich nicht in Auseinandersetzungen über „den einzig richtigen grünen Weg“ festzubeißen, sondern die Wirksamkeit der je eigenen Ansätze zu zeigen, politisch für sie zu streiten und auch ein gewisses Maß an Toleranz gegenüber anderen grünen Denkrichtungen an den Tag zu legen.

Denn nicht vergessen werden sollte, dass es neben dem Wettstreit der Handlungswilligen noch immer die mächtige Lobby derjenigen gibt, die außer ihrer Rhetorik im Grunde nur wenig ändern wollen. Viele Lobbyisten der fossilen Energien, des ungezügelten Automobilismus und des Straßenbaus, der Agro-, Chemie- und Saatgutindustrie, des Bergbaus an Land und in der Tiefsee, der Finanzwirtschaft und in Teilen auch der großen Daten- und Gentechnikmonopole reden zwar gern von grünem Wachstum, sind aber nach wie vor oder sogar mehr denn je unterwegs, um anspruchsvolle Nachhaltigkeitsziele abzuschwächen und sich in „Greenwashing“ zu üben. Ihnen und ihren Obstruktionsstrategien sollte die volle Aufmerksamkeit aller Kräfte guten Willens gelten, gleich ob sie sich vorrangig grünen Technologien, grünen Lebensstilen oder grünem Gesellschaftswandel verschrieben haben. Dabei geht es um nichts Geringeres als darum, im Diskurs über das „gute Leben“ und einen „zukunftsfähigen Wohlstand für alle“ die Hegemonie zu gewinnen und dem ödem „Weiter so“ der Beharrungskräfte selbstbewusst die Stirn zu bieten.

Als Bewohnerinnen und Bewohner des globalen Nordens müssen wir uns immer wieder vor Augen führen, dass unser „Wohlstandsmodell“ im Weltmaßstab schlicht nicht verallgemeinerungsfähig ist. Wir bräuchten drei Erden, wollten alle Menschen so ressourcen-, kohlenstoff-, energie-, mobilitäts- flächen- und konsumintensiv leben wie wir. Deshalb ist die Alternative im Grunde klar: Entweder wir schaffen ein Wohlstandsmodell, das bezüglich seiner Umwelt- und Ressourceninanspruchnahme prinzipiell verallgemeinerungsfähig und durchhaltbar ist (unabhängig davon, ob man sich die Übertragung industriegesellschaftlicher Lebensstile auf den globalen Süden wünschen sollte) und setzen auf globale Fairness in den Nord-Süd-Beziehungen (inklusive der Begleichung unserer kolonialen „Schulden“). Oder wir werden in Zukunft sehr viel Energie darauf verwenden müssen, unsere Grenzen festungsmäßig auszubauen und uns bei Inkaufnahme zahlreicher menschlicher Opfer an eskalierende globale Umweltkrisen anzupassen. Bei Abwägung dieser beiden Optionen ist sowohl aus humanistischer und ethischer Perspektive wie aus einer Perspektive des aufgeklärten Eigennutzes eigentlich nur eine Entscheidung möglich: Ab sofort konsequent ökologisch-sozial handeln, auch wenn das mit Mühen, Konflikten und gegebenenfalls Verzicht verbunden ist.

Ampelkoalition: Bislang keine nachhaltige Politik für das Ganze

Am Ende noch ein kurzer Sprung in die deutsche Realpolitik. Unsere Ampelkoalition wird einem umfassenden ökologisch-sozialen Ansatz bislang nicht gerecht. Sicher, Russlands Überfall auf die Ukraine hat manche Prioritäten verschoben und macht manche klimapolitische Fehlentscheidung kurzfristig nachvollziehbar. Aber warum reduzieren die Grünen ihre Wirtschaftspolitik – neben dem fragwürdigen Bau von zahlreichen stationären LNG-Terminals, der übermäßigen und langfristigen Kontrahierung von Fracking-Gas-Importen und dem Schmieden von Allianzen mit fossilen Großkonzernen – fast vollständig auf grüne Wachstumsrhetorik und blenden dabei Macht-, Verteilungs- und globale Gerechtigkeitsfragen weitgehend aus? Warum glauben die Liberalen, ihr freiheitliches Profil dadurch schärfen zu können, dass sie den Bau von zusätzlichen Autobahnen in den Rang eines überragenden öffentlichen Interesses heben, obwohl die ökologischen Folgen zusätzlicher Landschaftszerschneidung äußerst negativ sind, wir schon heute eines der dichtesten Straßennetze der Welt haben und der Bedarf an Erhaltungs- und Ertüchtigungsinvestitionen im vorhandenen Straßennetz gigantisch ist? Warum „bekennt“ sich der sozialdemokratische Kanzler unentwegt zum quantitativen Wirtschaftswachstum und zur Neuerschließung von fossilen und mineralischen Ressourcenquellen im globalen Süden, ohne je relevante Aussagen zu den planetaren Grenzen, zur Schädigung indigener Bevölkerungsgruppen durch unseren Rohstoffhunger oder zur Klimagerechtigkeit zu machen?

Unsere Regierung ist nun ein gutes Jahr im Amt. Dass das ein besonders herausforderndes Jahr im Krisenmodus war, wird niemand in Abrede stellen. Aber nun ist es hohe Zeit, dass die Ampel in Sachen Ökologie endlich das Ganze ins Auge fasst und Nachhaltigkeit als wirkliche Gemeinschaftsaufgabe begreift, in der ökologische Zukunftsfähigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit überzeugend zusammengefügt werden. Schafft sie eine solche Zeitenwende nicht und bleibt im kleinteiligen Tageshickhack gefangen, verwirkt die Bundesrepublik jeden Anspruch, den ökologischen Großkrisen angemessen zu begegnen. ■

Reinhard Loske
Reinhard Loske ist Vorstandsmitglied der Right Livelihood Foundation in Stockholm. Zuvor war er u.a. Professor für Transformationsdynamik an der Universität Witten/Herdecke, Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa der Freien Hansestadt Bremen, Mitglied des Deutschen Bundestages und Leiter der Forschungsgruppe „Zukunftsfähiges Deutschland“ am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Loske ist Träger des „Adam-Smith-Preises“ des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft. Sein Buch Politik der Zukunftsfähigkeit (S. Fischer, 2015) ist von der Deutschen Umweltstiftung 2016 als „Umweltbuch des Jahres“ ausgezeichnet worden. Im Sommer erscheint im Verlag Natur und Text sein Essay Ökonomie(n) mit Zukunft. Jenseits der Wachstumsillusion.

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