Die Ambivalenz der digitalen Revolution | Heiner Heiland

Rider bei einer LieferungFoto: Henrique Hanemann | unsplash

 

Die Ambivalenz der digitalen Revolution

 Text: Heiner Heiland | veröffentlicht am 23. März 2023

Digitalisierung ist eine technologische Revolution, deren gesellschaftliche Auswirkungen weitreichend und nachhaltig sind. Wohin diese Entwicklung führt, ist dabei nicht vorbestimmt oder gar der Technologie inhärent. Digitalisierung birgt zugleich Potenziale für verstärkte Kontrolle wie für größere Autonomie. Dies zeigt sich besonders in neuen, von Algorithmen gesteuerten Arbeitsformen, in denen auch um die Entwicklungsrichtung der Digitalisierung gerungen wird.

Karl Marx beschrieb Revolutionen als den Motor der Geschichte. Einige Jahrzehnte eines gereiften Kapitalismus und eine gescheiterte Arbeiter*innenbewegung später identifizierte Walter Benjamin unter Rückgriff auf Marx Revolutionen als den Griff zur Notbremse, mittels dessen ein Fortschritt aufgehalten werden solle, der auch Katastrophen wie den Ersten Weltkrieg möglich gemacht hatte. Diese Janusköpfigkeit revolutionärer Entwicklungen besteht auch bezüglich der Digitalisierung, einer der prägendsten Entwicklungen unserer Gegenwart. Nicht wenige erhoffen sich von dieser Produktivkraftsprünge und neue Formen des Wirtschaftens. Darüber hinaus bringt sie innovative Kommunikationsmöglichkeiten hervor, die neue Demokratisierungsschübe ermöglichen – beispielsweise den Arabischen Frühling oder andere Protestbewegungen. Diesen Hoffnungen entgegen stehen neue Formen der Kontrolle und Überwachung, die potenziell allumfassend sind, sowie die Struktur der neuen digitalen Öffentlichkeiten, die nicht selten innerhalb der privatisierten Monopole der großen Plattformen verortet sind. Diese Ambivalenz von Digitalisierung als Treiber neuer Handlungsmöglichkeiten und Autonomien einerseits und neuer Einschränkungen und Fremdbestimmung andererseits zeigt sich exemplarisch im Feld der Plattformarbeit.

Algorithmisierte Arbeitsprozesse

Im Rahmen dieser digitalgestützten Arbeit vermitteln Plattformen nicht länger allein Waren (wie Ebay oder Amazon), sondern organisieren Arbeitsbeziehungen. Meist selbstständig Arbeitende gehen sowohl einfachen wie auch komplexen Aufträgen nach, die beispielsweise Personentransport (Uber), Produktdesign (Jovoto) oder Kleinstaufgaben wie die Verschlagwortung von Bildern umfassen (über Amazons Mechanical Turk). Derlei Tätigkeiten sind im Vergleich mit althergebrachten Arbeitsverhältnissen zwar (noch) von geringem Ausmaß, stellen zugleich aber das Signum einer potenziellen Arbeit der Zukunft dar. Diesen Arbeitsformen wird ein revolutionärer Charakter zugeschrieben, da sie in Form einer „kreativen Zerstörung“ (Schumpeter) die etablierten Arbeitsmodelle in Frage stellen. Als Selbstständige tragen Plattformarbeitende erstens das unternehmerische Risiko, sodass sie für Versicherungen und Arbeitsmittel selber aufkommen müssen und nur dann bezahlt werden, wenn ihre Arbeitskraft tatsächlich genutzt wird, sie also einen Auftrag ausführen, aber nicht während der Wartezeiten davor und danach. Zweitens sind sie nicht länger Angehörige der Unternehmen, sodass die Schutz- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsverfassungsgesetzes für sie nicht greifen.

Möglich ist diese Auslagerung der Arbeitenden erst durch die Verbreitung digitaler Technologien in Form von günstigen PCs, Smartphones und Internetzugängen. Auf diesem Weg können Arbeitende vom anderen Ende der Welt für Kleinstaufgaben akquiriert werden und Kund*innen Aufträge via App vergeben. Die Digitalisierung schafft demnach neue Handlungsräume, vernetzt Menschen global und führt zu neuen Geschäftsmodellen. Innovativ ist dabei vor allem, dass die Arbeitsprozesse automatisiert von Algorithmen gesteuert werden. Nicht Menschen bestimmen, wer einen Auftrag erhält und ob dieser zufriedenstellend ausgeführt wurde, sondern algorithmische Strukturen, die als „Wenn-A-Dann-B-Prozesse“ auf Basis von großen Mengen fortlaufend gesammelter Daten selbstständig evaluieren und entscheiden.

Erst mittels eines solchen algorithmischen Managements ist es den Plattformen möglich, diverse Tätigkeiten bis hin zu Kleinstaufgaben detailliert und automatisiert aus der Distanz zu kontrollieren. In der Plattformarbeit zur Reife gebracht, gewinnen diese neuen digitalen Kontrollmechanismen auch größere Bedeutung in hochqualifizierten Arbeitsfeldern, sodass zunehmend mehr Arbeitende mit algorithmisierten Arbeitsprozessen konfrontiert sind. In der Folge herrschen Face-to-Interface- statt der bislang üblichen Face-to-Face-Interaktionen vor. Mit solchen vermeintlich objektiven Entscheidungsstrukturen, die einseitig von den Unternehmen bestimmt werden, sind Verhandlungen nicht möglich und die Arbeitenden faktisch gezwungen, Folge zu leisten. Die digitalen Technologien bringen also einerseits für die Kund*innen neue Dienstleistungen und Handlungsoptionen, die andererseits von den Arbeitenden als umfassende Kontrolle und Einschränkung ihrer Autonomie erfahren werden.

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Umkämpfte Kommunikationsmittel

Das in Deutschland relevanteste Feld lokal gebundener Plattformarbeit ist die Essenskurierarbeit, bei der „Rider“ genannte Arbeitende Mahlzeiten von Restaurants zu Privatpersonen liefern. Auch diese Arbeitsprozesse sind von algorithmischem Management geprägt, das es überhaupt erst ermöglicht, die Aufgaben automatisiert den im städtischen Raum verteilten Ridern zuzuweisen sowie die Ausführung zu überwachen und zu bewerten. Entsprechend beschreiben die Rider in Untersuchungen ein Gefühl der Ohnmacht und, dass sie sich den Algorithmen gegenüber ausgeliefert fühlen. Im Kontrast dazu steht, dass die Rider angeben, sehr häufig oder oft Kontakt zu anderen Kurier*innen zu haben, und dass ebenso viele auch fern der Arbeit in Austausch miteinander stehen. Grund dafür ist, dass das algorithmische Management die Arbeitenden zwar vereinzelt organisiert, diese jedoch während der Wartezeiten in Restaurants oder an zentralen Orten in den Lieferzonen fortlaufend aufeinandertreffen.

Zur Verstetigung dieser zufälligen Begegnungen erweist sich digitale Kommunikation als besonders relevant – und umkämpft. So gab es bei einer der Plattformen ein eigenes plattformweites Chatprogramm, mittels dessen die Rider sich austauschten und kleinere Probleme oder Fragen unter sich klärten. Die Plattform schuf diese Möglichkeit der Vernetzung der Rider untereinander, um die Menge der wiederkehrenden Anfragen der Arbeitenden ressourcenschonend zu reduzieren. Was also als instrumentelle Öffentlichkeit gedacht war, die allein der kostensenkenden kollegialen Selbsthilfe dienen sollte, wurde von den Arbeitenden zu einem Kommunikationskanal subversiv umfunktioniert, den sie zum kritischen Austausch nutzen konnten sowie für Überlegungen bezüglich einer kollektiven Interessenvertretung. Dies führte zu einer harschen Reaktion der Plattform. Sie nutzte ihre technische Vorherrschaft und löschte die kritischen Beiträge. Als die Rider mit kritischen Nachfragen reagierten, wurde die Chatfunktion abrupt und endgültig deaktiviert und später durch eine in die App integrierte Chatfunktion ersetzt, die nur den Kontakt zur Plattform und nicht zu Kolleg*innen zuließ. Als Reaktion etablierten die Rider autonome Chatgruppen, in denen sie sich frei von der Aufsicht der Plattform austauschen konnten. Bis heute existieren meist zahlreiche solcher Chats in jeder Stadt und darüber hinaus auch überregionale Foren mit über hundert Teilnehmenden verschiedener Plattformen. Alle Proteste sowie die bisher gewählten Interessenvertretungen der Rider gingen aus informellen Gruppen hervor, für deren Austausch digitale Kommunikationsformen wie Chats oder Online-Foren von zentraler Relevanz waren. Analoge Entwicklungen zeigen sich bei den jüngeren Konflikten und Arbeitskämpfen, beispielsweise bei den Lieferdiensten Gorillas und Getir.

Kontrolle und Befreiung

Die Beispiele illustrieren die Ambivalenz digitaler Revolutionen. Digitalisierung ist durchaus in der Lage, quasi-revolutionären sozialen Wandel auszulösen. Dessen Resultat ist aber keineswegs vorgezeichnet. Während den Arbeitenden durch die digitale Kontrolle autonome Handlungs- und Kommunikationsräume entzogen werden, erlaubt ihnen die Technologie, sich auf neuen Pfaden miteinander in Verbindung und ihre Interessen durchzusetzen. Digitalisierung erweist sich demnach als vielfältiger und kontingenter Prozess, dessen Ausgestaltung und Ergebnis umkämpft ist. Wo Bewegung ist, gibt es Gegenbewegung, und der Motor der Geschichte geht zeitgleich mit dem Griff nach der Notbremse einher. Motor wie Notbremse sind digital. Zweifelsohne ist spezifisch für das Digitale, dass Handlungen und Prozesse mit Technologien rekonstruiert, überwacht und damit auch die weiteren Pfade und Optionen vorgegeben werden können. Existierende Strukturen von Macht und Herrschaft werden damit reproduziert und potenziell verstärkt. Unternehmen können beispielsweise nicht nur ihren Beschäftigten vorschreiben, was diese zu tun haben. Digitale Technologien erlauben ihnen auch sicherzustellen, dass diesen Anweisungen Folge geleistet wird, was sogar formal selbstständige und im Raum verteilte Arbeitende einschließt.

Zugleich zeigt der Blick auf frühere Entwicklungen, dass lückenlose Kontrolle unmöglich ist und die Überwachten über ausreichend Eigensinn verfügen, um zumindest teilweise ihre Autonomie zu wahren. Digitale Technologien schaffen auch hier neue Handlungsoptionen. Den Ridern stehen zum Beispiel neue digitale Kommunikationsformen zur Verfügung, die sie kreativ nutzen und die es ihnen erlauben, sich miteinander zu verbinden und kollektiv aktiv zu werden. Damit ist das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Arbeitenden und Unternehmen nicht nivelliert und ebenso wenig dessen Intensivierung durch digitale Arbeitsprozesse. Doch kann nicht von einer völligen Ohnmacht der Beschäftigten ausgegangen werden. Bereits Marx und Engels sahen im Kommunistischen Manifest in solchen Erfolgen der Arbeitenden „das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe“, das „befördert (wird) durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen“.

Dieser Beitrag ist in agora42 3/2022 REVOLUTION in der Rubrik TERRAIN erschienen. Darin werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
Heiner Heiland
Heiner Heiland ist Postdoc an der Universität Göttingen. In seiner Forschung hat er verschiedene Formen von Plattformarbeit untersucht und dabei im Rahmen von teilnehmender Beobachtung auch selber als plattformvermittelter Kurier und Grafikdesigner gearbeitet.
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