Foto: Baumodell | nestbau AG
Die nestbau AG: Geld zum größtmöglichen Nutzen möglichst vieler anlegen
Online veröffentlicht am 07.01.2024
Die gemeinwohlorientierte Tübinger nestbau AG beteiligt sich seit 2010 an der Suche nach Lösungen für das Problem bezahlbaren und nachhaltigen Wohnens in Städten. Der Ansatz: Die „Bürger-Aktiengesellschaft“ sammelt privates Kapitel ein, um damit Projekte zu realisieren, deren Mieten unter dem marktüblichen Durchschnitt liegen und dennoch auch ökologischen Kriterien genügen. Mit einem ihrer neuesten Projekte im Tübinger Stadtteil Pfrondorf möchte die nestbau AG unter wissenschaftlicher Begleitung durch das Karlsruher Institut für Technologie eine Antwort darauf geben, wie die Umnutzung vorhandenen Wohnraums durch „Häusertausch“ stattfinden kann. In Holzbauweise soll Raum für gemeinschaftliches Wohnen für ältere Menschen geschaffen werden, denen die alte Wohnung oder das frühere Eigenheim zu groß geworden sind. Letztere werden frei, beispielsweise für junge Familien mit Kindern – durch Neubau soll also Umnutzung möglich gemacht werden.
NACHGEFRAGT BEI ANNETTE GUTHY VON DER NESTBAU AG:
In Ihrem Unternehmensnamen stecken die Werte, die Sie sich auf die Fahne schreiben: Nachhaltigkeit, Ethik, Sicherheit und Transparenz (N-E-S-T-bau). Wie werden diese Werte in Ihren Projekten umgesetzt?
Die ökologische Nachhaltigkeit bestimmt bei uns schon die Planung der Gebäude. Wir versuchen, durch geschickte Grundrisse die Wohnfläche pro Kopf zu reduzieren, und bauen so in mehrfacher Hinsicht ressourcenschonend. Die benötigte Energie wird zum Teil aus emissionsfreien Quellen gewonnen, und in unserem Haus in Kirchheim unter Teck machen wir erste Erfahrungen mit Mieterstrom. Unser aktuelles Projekt in Pfrondorf ist zudem ein modularer Holzbau aus Fichten und Weißtannen aus dem Schwarzwald. Die soziale Nachhaltigkeit erreichen wir, indem wir unsere Wohnungen grundsätzlich unter dem örtlichen Mietspiegel vermieten und dafür sorgen, dass auch Menschen mit Einschränkungen oder besonderen Bedürfnissen ebenfalls in einem „normalen“ Mehrfamilienhaus leben können.
Ethisch ist unsere Bürger-AG, insofern wir unseren Investor*innen eine ethische Geldanlage anbieten, die auf eine Gewinnmaximierung verzichtet. Der Sinn der nestbau AG ist die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum für möglichst viele Menschen. Deshalb bleiben wir grundsätzlich Eigentümerin der von uns errichteten Häuser und vermieten zu bezahlbaren Preisen, statt so teuer wie möglich Eigentumswohnungen zu verkaufen.
Sicherheit bieten wir unseren Anleger*innen, weil eine Geldanlage in Immobilienaktien risikoärmer ist, da der dahinterliegende Wert keinen großen Schwankungen unterliegt. Weil unser Ziel darin besteht, langfristig bezahlbaren und lebenswerten Wohnraum zur Verfügung zu stellen, investieren wir in die Instandhaltung unserer Gebäude und sorgen so für deren Werterhalt.
Und Transparenz: Da wir aus Überzeugung handeln, teilen wir unsere Informationen offen und transparent. Wir stehen jederzeit für direkte Gespräche bereit und lassen unseren Jahresabschluss seit unserer Gründung freiwillig von einem Wirtschaftsprüfungsunternehmen begutachten. Wer möchte, kann die Jahresabschlüsse seit 2013 einsehen und unser GWÖ-Testat oder die gesamte Gemeinwohlbilanz herunterladen.
Die Rechtsform der Aktiengesellschaft steht nicht im Verdacht, das Vehikel zu sein, mit dem das Gemeinwohl gefördert wird. Genau das ist aber der Grundgedanke der nestbau „Bürger-AG“. Warum haben Sie sich für diese Rechtsform entschieden und keine Genossenschaft gegründet?
Viele denken, dass eine Aktiengesellschaft an der Börse notiert sein muss und profitorientiert arbeitet oder gar verpflichtet wäre, Gewinne zu maximieren. Auch wenn es meist so ist, muss das nicht so sein. Eine Aktiengesellschaft ist von Rechts wegen ihrer Satzung verpflichtet, in der sie ihren Gründungszweck und die Ziele der AG darlegen muss. Die nestbau AG hat sich per Satzung einer „sozial und ökologisch zuträglichen Stadtentwicklung“ verschrieben und ist somit daran gebunden, alle Unternehmensentscheidungen darauf auszurichten.
Im Gegensatz zu den Selbsthilfemodellen wie Genossenschaft oder Miethäuser-Syndikat, die Wohnraum für ihre Mitglieder bauen, errichten wir mit dem Kapital unserer Anleger*innen bezahlbaren Wohnraum für andere. Wir bieten ein ethisches Investment mit gesellschaftlichem Mehrwert als oberstes Investmentziel. Denn in der Entscheidung, wie wir Geld anlegen, liegt auch eine Entscheidung darüber, wie wir leben wollen und welches Leben wir anderen zugestehen. Bei der Gründung der nestbau AG hat uns die Frage umgetrieben, wie man Geld zum größtmöglichen Nutzen möglichst vieler anlegen kann.
In Ihrer Satzung haben Sie festgeschrieben, dass einzelne Aktionär*innen unabhängig von der Anzahl der Aktien höchstens fünf Prozent der Stimmanteile auf sich vereinen können. Warum diese Maßnahme?
Auf unseren Hauptversammlungen ist uns die Mehrheit der Menschen wichtiger als die Mehrheit des Kapitals – deshalb gilt für jede*n eine Stimmrechtsbegrenzung auf maximal fünf Prozent der Stimmen, egal wie viele Aktien jemand besitzt. Diese Regelung sorgt dafür, dass eine Übernahme durch Groß-Investoren oder auch eine Änderung der Satzung, etwa in Richtung Renditemaximierung, praktisch ausgeschlossen ist.
Für das Geschäftsjahr 2021 erschien – auch wieder online abrufbar – die dritte Gemeinwohlbilanz der nestbau AG. Diese Bilanzierung ist mit erheblichem Aufwand verbunden – warum lohnt sich dieser Aufwand Ihrer Ansicht nach dennoch?
Es geht nicht darum, ob sich diese Bilanzierungsform „lohnt“ oder nicht, sondern, ob wir die Werte der Gemeinwohl-Ökonomie teilen und diese als alternatives Wirtschaftsmodell unterstützen möchten. Es ist offensichtlich, dass unsere gegenwärtige Wirtschaftsweise sozial ungerecht ist und unsere Lebensgrundlagen zerstört. Hier möchten wir gegensteuern. Wir wollen mit der Bilanz zeigen, dass gutes Wirtschaften nichts mit Profitmaximierung zu tun hat und dass gemeinwohlorientiertes Handeln in der Wirtschaft auch im jetzigen System möglich ist. Ganz praktisch hilft uns die Gemeinwohlbilanz dabei, zu überprüfen, wie gut wir unsere Werte im Alltag leben. Die größte Wirkung spüren wir spannenderweise auf der Personalseite: Eine Stelle konnten wir explizit aufgrund unser Gemeinwohlorientierung besetzen, zudem erreichen uns regelmäßig Initiativbewerbungen und Praktika-Anfragen, obwohl viele Unternehmen über Fachkräftemangel berichten.
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Die Gebäude der nestbau AG erfüllen hohe Nachhaltigkeitsstandards und sollen dennoch auch erschwingliche Mieten ermöglichen. In der Diskussion ist jedoch immer wieder zu hören, es seien die Bauauflagen, insbesondere ökologische, die das Bauen verteuern und bezahlbare Mieten verunmöglichen würden. Ist das gar nicht der Fall?
Die baurechtlichen Vorgaben sind teilweise wirklich absurd. Wobei es da mehr um sechsfach abgesicherten Brandschutz geht als um ökologische Vorgaben. Denn die ökologischen Maßnahmen zahlen sich langfristig aus – allerdings vorrangig für diejenigen, die in den Wohnungen leben, und nicht für diejenigen, die sie bauen. Deshalb hat die „Normal-Baufirma“ tatsächlich wenig Interesse daran, etwas für guten Wärmeschutz zu tun. Denn die Heizkosten zahlen ja die Mieter*innen. Das ist bei uns anders, aufgrund unserer Gemeinwohl-Orientierung.
Uns treffen die hohen Baukosten natürlich auch, vor allem in der Kombination mit den gestiegenen Zinsen. Wir können einen Quadratmeter Wohnraum praktisch nicht mehr unter 5.000 Euro kalkulieren. Was bei einer überwiegenden Fremdfinanzierung und den aktuellen Zinsen dann an Miete herauskommt, hat nichts mehr mit „bezahlbar“ zu tun. Um weiterhin bezahlbaren Wohnraum bauen zu können, brauchen wir also deutlich mehr Eigenkapital als noch vor zwei Jahren. Am besten so viel, dass wir überhaupt keine Bankdarlehen benötigen. Denn dann – und nur dann – lassen sich auch in der aktuellen Situation bezahlbare Mieten und ökologisches Bauen realisieren.
Wir sehen die nestbau AG als zivilgesellschaftliche Organisation und glauben, dass die Bürger*innen in einer lebendigen und resilienten Demokratie nebst Freiheit auch Verantwortung haben. Wohnen ist die soziale Frage unsere Zeit, deshalb muss sie sozialgerecht gestaltet sein. Die Gesellschaft braucht hierfür Lösungen. Die nestbau AG zeigt auf, wie man verantwortungsvoll in die Zukunft und in den sozialen Frieden investieren kann.
Für das oben bereits erwähnte Projekt in Pfrondorf wurde Ihnen das Grundstück nach Erbbaurecht für einen langen Zeitraum überlassen. Inwiefern ist darin die Zukunft nachhaltigen und sozialgerechten Bauens zu sehen?
Für unser aktuelles Projekt, dem „Neschtle“ in Tübingen-Pfrondorf, haben wir ein Grundstück von einer Aktionärin in Erbbaurecht erworben. Als Zweckbestimmung ist im Erbbauvertrag notiert, dass wir die auf dem Grundstück entstehende Nutzfläche nur als Wohnraum und unter gemeinwohlorientierten Gesichtspunkten vermieten dürfen. Somit garantiert dieser Vertrag soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, zumal dort keine zusätzliche Fläche versiegelt wird, da das „Neschtle“ auf dem Baufeld des ehemaligen Elternhauses der Aktionärin entsteht.
Generell kann das Instrument des Erbbaurechts sehr hilfreich sein, denn es ermöglicht den Grundstückseigentümer*innen eine Zweckbindung über viel längere Zeit, als das mit anderen Instrumenten, etwa mit Dienstbarkeiten, möglich wäre. Vor allem Kommunen müssten dieses Instrument viel mehr nutzen, um ihren Einfluss auf den Wohnungsmarkt zu vergrößern. Sie bräuchten dazu allerdings Weitsicht und einen langen Atem, denn kurzfristig springt für den Haushalt bei einem Verkauf an einen Bauträger natürlich mehr heraus.
Das Stichwort „Suffizienz“ taucht in mehreren Beiträgen des Blogs der nestbau AG auf. Was bedeutet Suffizienz in Hinblick auf das Problem erschwinglicher Mieten und lebenswerter Städte und wie verwirklicht die nestbau AG diese Idee in ihren Projekten?
Wenn wir das Pariser Klimaabkommen ernst nehmen, geht es nicht ohne Suffizienz – auch im Wohnsektor. Suffizienz bedeutet weniger Ressourcenverbrauch bei gleichem Komfort. Eine gute Suffizienz-Politik optimiert den jeweiligen Sektor, ohne neue Ressourcen in Anspruch zu nehmen. Es geht also um eine Verteilung knapper Ressourcen und um die Umverteilung der Zugänge zum Beispiel zu Wohnraum. Theoretisch haben wir in Deutschland genügend Wohnraum. Tatsächlich ist der aber oft falsch verteilt. Hätten wir eine aktive Suffizienz-Politik im Wohnsektor, könnten wir durch die Aktivierung der ungenutzten Wohnflächen im Bestand auf sehr viel Neubau verzichten und somit Wohnen sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger gestalten. Ob und in welchem Umfang ein ressourcenschonendes Leben möglich ist, hängt aber stark von kulturellen Leitbildern und der Infrastruktur ab.
Unser gemeinschaftliches Wohnmodell für Senior*innen in Pfrondorf punktet durch flächensparende und intelligente Grundrisse, vor allem aber durch die Optimierung von Wohnraum im Bestand. Durch unseren barrierefreien Neubau kann das zu groß gewordene Haus in der nebenan liegenden Einfamilienhaussiedlung aus den 1970er-Jahren wieder belebt werden. Mit unserem „Neschtle“ setzen wir den in den Medien viel zitierten „Haustausch“ real um und verbessern die Lebensumstände aller Beteiligten.
Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 1/2024 FREIHEIT in der Rubrik LAND IN SICHT erschienen.
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