„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“ – Zum drohenden Sinnverlust einer arbeitsfixierten Gesellschaft | Jacob Schmidt

Darstellung von Arbeit an einer FassadeFoto: Ilse Orsel | unsplash

 

„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“

Zum drohenden Sinnverlust einer arbeitsfixierten Gesellschaft

Text: Jacob Schmidt

Das Bier gibt es zum Feierabend, die ausgelassene Party am Ende der Woche, den entspannten Urlaub nach mühevollen Monaten des Schuftens. All die schönen Dinge werden in unserer Gesellschaft an eine Bedingung geknüpft: Arbeit. Doch was geschieht, wenn uns die Arbeit ausgeht?

Letztens unterhielt ich mich in einer geselligen Runde mit einer mir bis dahin unbekannten Frau. Recht schnell wurde ich gefragt: „Und was machst du so?“ Nun, wie sollte ich antworten? „Ich habe gerade meine Promotion eingereicht, warte jetzt auf die Verteidigung und suche nebenbei einen Job“, sagte ich, um nicht sagen zu müssen: „Ich bin arbeitslos.“ Ich tat, was man so tut, wenn einem etwas unangenehm ist, und fragte zügig zurück: „Und du?“ Sie arbeitete als Ingenieurin. Nach dem Studium und nach zahlreichen Reisen sei sie nun in einem Nine-to-five-Job angelangt. „Gefangen?“ Sie verneinte – es mache schon Spaß. Um dann anzumerken, irgendwie frage sie sich nur manchmal, für was und wozu sie da eigentlich arbeite. Sie produziere ein Teil für ein Produkt, das für irgendetwas hilfreich sei, obwohl sie nicht mal wisse, ob dieses Irgendetwas überhaupt sinnvoll sei. „Ja, verstehe ich“, schob ich dazwischen, „da fragt man sich natürlich schon, was der Sinn der eigenen Arbeit ist.“ Das wurde ihr dann anscheinend zu viel und so entgegnete sie flink: „Naja, was heißt schon Sinn? Das muss doch jeder für sich selbst beantworten.“

Es ist in der Tat schwierig geworden, über so etwas wie Sinn zu sprechen. Das liberale Paradigma der Moderne setzt auf eine Subjektivierung oder Privatisierung von Sinnansprüchen. Die Frage nach dem guten Leben ist, wenn sie gestellt wird, nur vom und für das Individuum selbst zu beantworten. Vermeintlich! Denn gerade das Thema Arbeit zeigt, wie stark diesem Selbstverständnis zum Trotz normative Strukturen konstitutiv für unsere Gesellschaft sind.

Es ist schwierig geworden, über so etwas wie Sinn zu sprechen.

Bevor es ans Eingemachte geht, sei kurz vorweggesagt, was ich mit „Sinn“ meine. Im Anschluss an die Philosophin Susan Wolf spreche ich von „Sinn“ als Gleichzeitigkeit von einer „subjektiven Anziehung“ und einer „objektiven Attraktivität“ – also davon, dass eine Situation gegeben ist, in der die innere Überzeugtheit vom eigenen Tun mit der Wertschätzung dieses Tuns durch andere Personen zusammenfällt. Sinn, so verstanden, entsteht etwa dann, wenn ein Mensch freudig und leidenschaftlich malt und zugleich Kunst in der entsprechenden Referenzgruppe als wertvolles Gut angesehen wird. Bei einer Pluralisierung von Lebensformen, wie sie in der Moderne zu beobachten ist, folgt daraus eine konfliktreiche Spannung zwischen unterschiedlichen Lebensformen und den ihnen zugrunde liegenden Wertüberzeugungen. Während etwa in der hippen Berliner Bar ein über drei Tage langsam gebrühter Kaffee Ausdruck eines genussvollen und besonderen Lebens ist und der engagierte Barkeeper, meist mit langem Bart, damit einer sinnvollen Tätigkeit nachgeht, können andere darüber nur den Kopf schütteln – etwa die Person, die gerade von einem asketischen Meditationsretreat die Straße entlanggelaufen kommt (auch wenn sie eigentlich gelassen damit umgehen sollte). Sinnansprüche sind also in der Moderne heterogen, aber keineswegs nur subjektiv. Sie verweisen stets auf gesellschaftliche Annahmen und Paradigmen.

Zur Arbeit verdammt?

Eines dieser Paradigmen ist die moderne Arbeitsfixierung. Ich möchte behaupten, dass wir in unserer Gesellschaft arbeiten müssen, arbeiten sollen und arbeiten wollen. Durch diese Gemengelage, durch das je spezifische Zusammenfallen des Müssens, Sollens und Wollens entsteht sinnerfülltes Arbeiten – oder eben das Gegenteil: unerfüllte Arbeit, Arbeitslosigkeit und/oder Sinnverlust.

Das Müssen als gesellschaftliches Arbeitsgebot tritt einem am hartnäckigsten im Zustand der Arbeitslosigkeit entgegen. Arbeitslosigkeit wird in unserer Gesellschaft nicht positiv bestimmt – wie schon das Wort „arbeits-los“ anzeigt: Sie ist ein Zustand, den es zu überwinden und als Zwischenzeitliches zu überstehen gilt. Darum fällt es mir auch so schwer, mich als Arbeitsloser zu outen (und wenn ich es ab und an tue, fühle ich mich wie ein Revolutionär!). Der temporär-defizitären Bestimmung gemäß heißt die entsprechende Anlaufstelle denn auch „Agentur für Arbeit“ und nicht „Agentur für Arbeitslose“. Und nicht umsonst wird dem Status „arbeitslos“ der Status „arbeitssuchend“ vorangestellt. So muss man sich beispielsweise drei Monate vor der erwarteten Arbeitslosigkeit bereits als „arbeitssuchend“ melden. Fast 100.000 Menschen arbeiten in dieser Agentur dafür, andere bei der „Arbeitssuche“ mithilfe von „Maßnahmen“ zu unterstützen. (Meine obige Antwort – „und nebenbei suche ich einen Job“ – zeugt also bereits von der gelungenen Framing-Arbeit der Agentur!) In einer industriellen Gesellschaft ist es die Bestimmung eines jeden, sofern er kann, zu arbeiten.

Dieses Arbeitsdiktat manifestiert sich in zahlreichen gesellschaftlichen Institutionen und Praktiken. Mehr noch: Die gesamte Gesellschaft scheint darum zentriert zu sein. Erziehung, Frühförderung, Schule, Studium und Praktika bereiten uns darauf vor, arbeiten zu gehen. Wir werden zur Arbeit hin sozialisiert. Auch unser Wohlfahrts- und Sozialstaat ist strukturell auf Arbeit angewiesen. Deshalb wird allenthalben Vollbeschäftigung nostalgisch vermisst, im politischen Handeln angestrebt oder im Wahlkampf versprochen. Der objektive Sinn oder die Funktion dieser gesellschaftlichen Arbeitszentrierung ist es, die Maschine am Laufen zu halten. Oder, wie in der Kapitalismuskritik in Anschluss an Max Weber gern formuliert wird: Die sozialstaatlichen Erziehungsanstalten formen Menschen, derer er, der Kapitalismus, bedarf.

Nicht zu arbeiten oder nicht arbeiten zu können, evoziert daher nicht selten Sinnkrisen. So zeigt etwa die einflussreiche Sozialstudie Die Arbeitslosen von Marienthal (1933) den Einfluss von Arbeitslosigkeit auf das Schwinden von Vitalität und das Hervortreten von Resignation. Dafür mag zunächst die Destrukturierung des Alltags verantwortlich sein. Letztlich lässt sich der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Sinnverlust aber nur verstehen, wenn der gesamtgesellschaftliche Imperativ „Du sollst arbeiten“, der das gute mit einem arbeitsamen Leben gleichsetzt, berücksichtigt wird. Dem institutionalisierten Müssen steht also ein kulturell-moralisches Sollen zur Seite.

In einer industriellen Gesellschaft ist es die Bestimmung eines jeden, sofern er kann, zu arbeiten.

Am provokantesten hat diesen kulturellen Imperativ Paul Lafargue, Enkel von Karl Marx, in seinem Pamphlet Das Recht auf Faulheit (1880) an den Pranger gestellt. Er sieht die moderne Arbeiterklasse in Tradition einer protestantischen Arbeitsmoral von einer eigentümlichen Arbeitssucht befallen. Das Lob der Arbeit und die Verteufelung der Faulheit, des Nichtstuns und des Nichtsnutzes sei in Folge dieser Arbeitssucht zum Zentrum des modernen Programms eines gelingenden Lebens geworden.

In Sprichwörtern kommt die Kultur der Arbeitsfixierung in geronnener Form zum Ausdruck. Etwa: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“ Das hier formulierte enge Abhängigkeitsverhältnis von Arbeit und Vergnügen zeigt sich auch in der Arbeitslosigkeit: Da die Bedingung des Vergnügens fehlt – die Arbeit –, erscheint die freie Zeit nicht als Muße, sondern als zähe Masse. Es gibt keine sakrale Zeit des Feierabends mehr, denn nur nach „getaner Arbeit ist gut ruhen“.

In dieses institutionalisierte Müssen und kulturelle Sollen ist nun das subjektive Wollen gestellt. Es kann aus anthropologischer Perspektive durchaus argumentiert werden, dass Menschen tätig sein wollen. Das hat etwa Hannah Arendt in ihrem Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben hervorgehoben. Dieser Wunsch nach Tätigsein wird jedoch in der Moderne durch den Filter der Erwerbsarbeit gepresst. Wenn wir heute von Arbeit sprechen, dann meinen wir nicht jegliches Tätigsein, sondern Tätigkeiten, die entlohnt werden. Dabei ist dieser Entlohnungsfilter historisch kontingent: So ist etwa die Pflege als Dienstleistung erst in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger Sektor der Lohnarbeit geworden, während sie in früheren Zeiten vom familiären Kreis oder der Dorfgemeinschaft ohne Lohn ausgeführt wurde. Entsprechend der modernen Verschiebung hin zu entlohnten Tätigkeiten besteht der subjektive Sinn, arbeiten zu gehen, für viele Menschen nur noch darin, Geld zu verdienen.

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Mehr Sinn durch Kreativität?

Zur Hochzeit der Industrialisierung etabliert, geriet die Sinnstiftung durch den Verbund aus Arbeiten-Müssen, -Sollen und -Wollen seither immer wieder an ihre Grenzen. Zum einen wurde im Zuge eines steigenden Umweltbewusstseins, etwa angesichts der drohenden Klimakatastrophe, die „objektive Attraktivität“ – also die gesellschaftliche Wertschätzung – der Arbeit fragwürdig, denn warum sollte man es schätzen, wenn durch industrielle Produktion massenhaft schädliche Klimagase in die Luft gejagt, Gewässer und Böden zugemüllt und vergiftet oder überlebenswichtige Ressourcen verbraucht werden, wenn also an dem Ast gesägt wird, auf dem wir sitzen? Zum anderen eliminierte die Basis der Industrialisierung – die Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Arbeitssphäre, wie sie im fordistischen Fließband zum Ausdruck kommt – die Freude an den Tätigkeiten selbst. Das Fließband und das monotone Schlagen der Uhren im Büro zeitigten vielmehr Sinnverlust und Langeweile. Dementsprechend beklagte auch die marxistische Tradition die „entfremdete“ Arbeit, und Max Weber spricht in diesem Zusammenhang von einem „stahlharten Gehäuse“.

Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, weshalb heute allenthalben von „sinnvollen Jobs“ gesprochen wird. Damit sind zumeist Jobs gemeint, die entweder einen Nachhaltigkeitsbezug haben (so etwa auf dem Jobportal GoodJobs.eu zu finden) oder aber Jobs, in denen man sich kreativ selbst verwirklichen kann, anstatt monotonen und mechanischen Tätigkeiten nachzugehen.

Diese Transformationen der gegenwärtigen Sinnstrukturen ändern aber nichts daran, dass auch diese vermeintliche Kreativität und Selbstverwirklichung durch den Erwerbsarbeitsfilter selektiert wird und dass die Gesellschaft weiterhin auf einem „Wir müssen“ und „Du sollst arbeiten!“ fußt. (Und wir sollten uns selbst nichts vormachen: Die vermeintlich sinnvolle kreative Selbstverwirklichung harmoniert bestens mit den Anforderungen eines flexiblen, projektbasierten und auf „lebenslanges Lernen“ ausgerichteten Kapitalismus der Gegenwart.)

Jenseits der Erwerbsarbeit

Dabei ist diese gesellschaftliche Arbeitsfixierung höchst problematisch und steht gegenwärtig in einem besonderen Maße unter Druck. Zunächst grenzt sie tendenziell alle Tätigkeiten aus, die nicht zu Lohn führen. Die Erziehungs- und Hausarbeit, die immer noch größtenteils von Frauen durchgeführt wird, findet in den Geschichtsbüchern wenig Beachtung. Zudem sind die, die nicht arbeiten können, von der Philanthropie der Tüchtigen abhängig, müssen auf Hilfe hoffen oder als „arbeitsunfähig“ oder „behindert“ kategorisiert werden, damit für sie nicht gilt: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“

Daneben bedroht der sich gegenwärtig anbahnende Automatisierungsschub den Bedarf an menschlicher Arbeit. Die These, wonach Industrialisierung und Automatisierung große Zahlen an Arbeitslosen produzieren, ist zwar nicht neu und begleitet die Moderne seit jeher. Wenn aber Automatisierungsprozesse vermehrt Dienstleistungsjobs ersetzen, dann wird es tatsächlich eng mit der Arbeit für alle. Es droht ein doppelter Mangel: ein Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften, die die Maschinen programmieren und steuern – und ein Mangel an Jobs für alle anderen. Der an Erwerbsarbeit gebundene Sozialstaat ist dafür nicht gewappnet. Zudem gerät die moderne Konzeption des gelingenden Lebens verstärkt unter Druck. So droht nicht nur vermehrte Armut, sondern auch eine „Klasse der Unbedeutsamen“ (Yuval Noah Harari) und eine Epidemie depressiver Resignation, ausgelöst durch den Verlust von Erwerbsarbeit.

Wenn Maschinen die Tätigkeiten übernehmen, für die wir gegenwärtig noch entlohnt werden, und wenn wir daraufhin nicht in Ungleichheit und Sinnlosigkeit versinken wollen, dann steht eine tiefgreifende gesellschaftliche Verständigung über folgende Fragen an: Welche Alternativen gibt es zu unserer institutionalisierten Erwerbsarbeitszentrierung? Gibt es Möglichkeiten, das gute Leben jenseits der kulturell einverleibten Erwerbsarbeit zu bestimmen? Wie können wir uns selbst verwirklichen, auch ohne dafür einen monetären Lohn zu erhalten?

Leider haben wir für solche Fragen meist keine Zeit – die Arbeit ruft! ■

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 3/2019 SINN in der Rubrik TERRAIN erschienen. In dieser Rubrik werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
Jacob Schmidt
Jacob Schmidt studierte Psychologie und Gesellschaftstheorie in Jena und schloss 2019 seine Dissertation zu den romantischen Quellen von Achtsamkeitspraktiken ab. Er ist derzeit stellvertretender Pressesprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Brandenburger Landtag.
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