Grundeigentum überwinden | Timo Rieg

BaustelleFoto: Erik Zünder | unsplash

 

Grundeigentum überwinden

 Text: Timo Rieg

Slums und Flüchtlingslager, latenter Hunger und latente Existenzangst, die Rodung von Urwäldern und die Plünderung von Bodenschätzen haben eine gemeinsame Ursache, jedenfalls zu einem erheblichen Teil: den Glauben an das Recht auf Eigentum an Grund und Boden bzw. die absolute Verfügungsgewalt über eine Ressource, die jedes Lebewesen benötigt.

Die Groteske begann allerdings nicht mit der ersten Umzäunung eines Grundstücks, die Jean-Jacques Rousseau in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen als Ursache von Verbrechen, Krieg, Mord, Elend und Schrecken ausgemacht hatte, auch wenn diese Stelle allzu gerne zitiert wird. Im „Gesellschaftsvertrag“ begründete Rousseau selbst später gut, warum die Aneignung von Land für den eigenen Unterhalt sinnvollerweise von anderen respektiert wird. Auf dieser Ebene nämlich ging der Mensch mit den natürlichen Ressourcen noch genau so um, wie alle anderen Lebewesen auch. Die Groteske begann, als aus faktischem Besitz fiktives Eigentum wurde. Mit der Möglichkeit, Eigentum an Grund und Boden zu beanspruchen und jede Infragestellung mit Gewalt zu beantworten oder beantworten zu lassen, wurde die Erde zu einer begrenzten Ressource. Lange bevor nicht mehr genug Land für alle da war, behaupteten einige wenige die Verfügungsgewalt über Wald und Flur, Teich und See sowie alles darin, darüber und darunter. Das ist ein, vielleicht der entscheidende kulturevolutionäre Schritt, mit dem der Mensch aus dem globalen Ökosystem ausscherte. Sich ein kleines, lebensnotwendiges Stückchen Erde untertan zu machen (und dabei immer zugleich auch Teil des Refugiums anderen Lebens zu bleiben), ist ein Grundprinzip in der Biosphäre. Erst der sesshaft gewordene Mensch konnte sich mehr Ressourcen aneignen, als er zum Leben brauchte – und wurde dabei selbst mit seinem Hab und Gut zu einer beherrschbaren Ressource.

Wie sie mir, so ich dir

Um von einem permanenten Verteilungskampf – jeder gegen jeden – zu einer möglichst stabilen Kapitalmaximierung zu kommen, brauchte es die Eigentumsbehauptung. Und natürlich eine möglichst weithin akzeptierte Begründung. Diese kennen wir aus allen kleinen wie großen Herrschaftssystemen: Ob Priester oder Lude, König oder Hausherr, die Ressourcensicherung basiert auf der Behauptung, die beanspruchte Sonderstellung diene einer zwingend notwendigen Ordnung. Das Dogma vom Grundeigentum ist so fest in unseren Gesellschaften verankert, dass selbst viele Mieter, die aus dem letzten Loch pfeifen, gegen die Enteignung ihrer Wohnkonzerne sind: Wie sollte das denn funktionieren, wer kümmert sich dann um alles, wer baut denn noch, wer saniert, wenn die Perspektive auf Reichtum aus Grundbesitz fehlt?

Wir akzeptieren, dass alles irgendwem gehört, weil wir selbst jede Chance auf Besitz ergreifen (und uns vom Neid auf andere und anderer auf uns antreiben lassen). Schon Kinder betrachten den aufgesammelten Stock oder Stein als ihren. Er ist keine freundliche Leihgabe der Natur, sondern völlig ihrer Verfügungsgewalt unterworfen. Am Strand, im Zug, auf dem Parkplatz: an „meinem Platz“ hat auch bei Erwachsenen niemand anderes etwas zu suchen. Und wenn wir doch noch jemandem Raum gewähren, unsere Taschen vom Sitz neben uns nehmen, dann ist das eher ein Gnadenakt als eine soziale Selbstverständlichkeit.

Die mit den Eigentumsbehauptungen an Grund und Boden verbundenen Probleme sind gigantisch und verrückt, deshalb auch in zig Gesetzen sowie der Verfassung geordnet und somit quasi zu einer Naturgewalt verewigt: was wir jeweils haben an „Mietpreisbremsen“, „sozialem Wohnungsbau“, „Kündigungsschutz“, „Landschaftsplanung“, soll das jeweils maximal Machbare sein. Was dann noch bleibt an Verbrechen, Krieg, Mord, Elend und Schrecken, gehört zum Leben, das eben allem Fortschritt zum Trotz kein Ponyhof ist.

Die Tragik der Allgemeinheit

Das gigantisch Verrückte, das uns leider schon seit Generationen selbstverständlich geworden ist: Wo immer wir einen Fuß hinsetzen, behauptet jemand, der Untergrund gehöre ihm und deshalb sei er der „Bestimmer“, wie das Kinder so treffend nennen. Wer irgendwo nur verweilen, sein Zelt aufschlagen oder Früchte sammeln möchte, bekommt es mit einem Eigentümer zu tun, und wenn dieser sich abstrakt „Staat“ nennt, was ja keineswegs ein Kollektiv meint, sondern immer noch einzelne Menschen, die gerade irgendein Krönchen aufhaben. Aus der Grundeigentumsbehauptung ergibt sich nicht nur, wie viel wir für die Wohnungsmiete zahlen (oder an der Vermietung unserer Eigentumswohnung verdienen). Aus der Grundeigentumsbehauptung ergibt sich auch, was Grundnahrungsmittel kosten und was der „Coffee to go“, ob auf einem Acker Kartoffeln wachsen oder Biogasmais oder Solarpanele, wo Einkaufszentren und wo Autobahnen gebaut werden, ob der Bolzplatz im Kiez einem Bürobau weichen muss und auf welcher Wiese eine Seniorenresidenz entsteht.

Die Preise für die Nutzung des Bodens richten sich laut kapitalistischer Logik nach Angebot und Nachfrage, bedeuten aber schlicht: Wer gut gezockt hat, gewinnt viel Geld, das letztlich immer die Allgemeinheit zahlt und damit relativ zum Verfügbaren die Armen am meisten. Der Mietpreis eines Ladenlokals liegt schnell 2.000 oder 3.000 Prozent über dem Mietpreis der Wohnung einen Stock darüber. Die Wertsteigerung leistet eigentlich die Allgemeinheit, die dafür gesorgt hat, dass am Ladenlokal genügend Menschen als potenzielle Kunden entlangschlendern, um ihr Geld dort (und nicht anderswo) zu lassen, also umzuverteilen. Allerdings landet dieses Geld eben nicht bei der Allgemeinheit, sondern ganz überwiegend bei demjenigen, der sich Grundeigentümer nennen darf. Und weil in diesen „teuren Lagen“ nicht nur Juweliergeschäfte residieren, sondern zum Beispiel auch die Geschäftsstellen der gesetzlichen Krankenkassen und Parteien, die Sparkassen und Telefonanbieter, Ärzte, Notare und Beratungsstellen, tragen alle Bürger zum Gewinn der Grundbesitzer bei wie einst in der Schuldknechtschaft. In jedem Produkt, in jeder Dienstleistung und in jedem Kulturgut stecken eine ganze Reihe vergütungspflichtiger Grundeigentumsbehauptungen.

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Über Alternativen nachdenken

Neben dem in seiner Tragweite gar nicht zu überschätzenden Anspruch auf Rente erheben Grundeigentümer auch noch Verfügungsgewalt über unsere persönliche und demokratische Freiheit: Sie legen fest, was wir dürfen, müssen und zu lassen haben. Über Balkonbepflanzung oder Haustierhaltung entscheidet nicht der Mieter, sondern grundherrlich (in gewissen gesetzlichen Grenzen) der Wohnungseigentümer. Wie es in einem Bahnhof zugeht, welche Geschäfte es dort gibt und wer überhaupt Zutritt hat, bestimmt die Deutsche Bahn AG. Wie öffentliche Plätze genutzt werden dürfen, regeln reichlich autonom Verwaltungsbehörden (wie gerade die unzähligen „Corona-Verordnungen“ zeigen). All das akzeptieren wir, weil und solange wir an die gute Ordnung durch Eigentumsbehauptungen glauben. Und wir glauben daran, weil wir über Alternativen gar nicht erst nachdenken. Wie wäre es, wenn Grund und Boden allen gemeinsam gehören würde? Wenn Wohnblocks von Genossenschaften der Mieter gemanagt würden? Wenn Land nur genutzt, aber nicht gekauft, verkauft und vererbt werden könnte? Wenn Stadt- und Landschaftsplanung von Gemeinwohl statt Renditeerwartung getrieben würden? Wenn Altenpflege eine Sozialleistung wäre und kein Immobiliengeschäft?

Im bestehenden System wird es jedoch keine Entideologisierung des Grundeigentums geben. Dagegen spricht die schlichte Empirie: Seitdem die Menschen sesshaft geworden sind, herrschen einige wenige von ihnen über die vielen. Und da Herrschaft über große Gruppen immer ein hierarchisches System mit vielen Abstufungen braucht, wird sie in keiner Konfession auf die äußerst praktische Eigentumsbehauptung verzichten. Nur wenn wir die Herrschaft selbst überwinden, können Grund und Boden wieder Gemeingut sein.

Mehr Demokratie wagen

Die attraktive Alternative zum Schreckgespenst Anarchie ist dabei die aleatorische Demokratie (von lat. aleatorius: „zum Würfelspiel gehörig“; zufällig). Aleatorische Demokratie delegiert alle nötigen Beratungen und Entscheidungen an kleine, ausgeloste und nur ganz kurze Zeit zuständige Stichproben der Bevölkerung. Aufgrund ihrer Zusammensetzung können diese Personen bzw. Gruppen (Bürgerparlamente, Bürgerräte, Minipublics oder ähnlich genannt) keine Partikularinteressen durchsetzen, wie sie überhaupt nicht herrschen können. Diese Demokratieform ermöglicht nicht nur verbindliche Regelungen ohne Herrschaft Einzelner über viele, sie ist zudem offen für jede Idee, für jede Lebenserfahrung, jede Perspektive. Deshalb würde aleatorische Demokratie auch weit bessere Regelungen für die Bodennutzung finden, als sie ein einzelner Autor mit noch so viel Zeit und Geistesfutter ersinnen könnte. Sie ist damit – aus heutiger Sicht, mit den bisherigen Erfahrungen – die Antwort auf alle von Herrschaft verursachten Probleme.

Bislang ist in der Zivilisationsgeschichte ein zerbröselndes Herrschaftssystem stets durch ein neues ersetzt worden. Wir sollten uns daher heute mit der Utopie eines herrschaftsfreien Gemeinwesens beschäftigen, um irgendwann eine erste kleine freiwerdende Stelle mit aleatorischer Demokratie zu füllen, experimentell, testhalber, Fortschritt und Aufklärung verpflichtet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich eine solche freie Stelle gerade beim bisherigen Grundeigentum auftut: Verwaiste Dörfer und aufgegebene Industriegebiete, Neubaugebiete im Pfandeigentum der Baukreditbanken oder menschenleere Innenstädte könnten irgendwann und irgendwo für Herrschaft hinreichend unerquicklich werden. Geloste Bürgerräte könnten Lösungen entwickeln, die allen zugute kommen.

Dieser Artikel ist zuerst in agora42 1/2021 WAHRHEIT & WIRKLICHKEIT in der Rubrik HORIZONT erschienen. In der Rubrik HORIZONT geht es um gesellschaftliche Alternativen und um die Möglichkeiten, konkrete Veränderungen herbeizuführen.
Timo Rieg
Timo Rieg ist Diplom-Biologe und Diplom-Journalist und arbeitet als freier Publizist unter anderem für den Deutschlandfunk. Er ist Vorsitzender der Demokratischen Gesellschaft e. V., die aleatorische Demokratie und Deliberation fördert. Sein Buch zum Thema: Demokratie für Deutschland (Berliner Konsortium, 2013).
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Russell Mittermeier, Anthony Rylands und Don Wilson: Handbook of the Mammals of the World, Volume 3, Primates (Lynx, 2013)
ROMAN:
Juli Zeh: Corpus Delicti – Ein Prozess (Schöffling, 2009)
FILM:
Bürger.Macht – Mehr direkte Demokratie? von Sandra Budesheim und Sabine Zimmer (ARD Mediathek, 2020)

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