Imperial Way of Life | Lia Polotzek

BohrungFoto: Badibanga Roger | Unsplash

 

Imperial Way of Life

Text: Lia Polotzek

Das Konzept der imperialen Lebensweise zeigt auf, wie unser tägliches Handeln und Sein zusammenhängt mit globalen Machtverhältnissen und der Art und Weise wie wir wirtschaften. Was ist die imperiale Lebens- und Produktionsweise? Wie kommen wir von der imperialen zur solidarischen Lebensweise?

Es liegt ein Schleier über den Dingen, die uns täglich umgeben. Über den Autos, dem Kopfsteinpflaster, den Handys, der eigenen Kleidung. Im Alltag wird dieser Schleier nur selten gelüftet. Und doch kennen wir alle das vage Unbehagen darüber, was sich darunter verbirgt und welche Auswirkungen die Dinge in unserem alltäglichen Leben tatsächlich haben. Wir kennen die Bilder von einstürzenden Textilfabriken in Bangladesch und den Minen im Kongo. Wir kennen die Geräusche von Kettensägen im Amazonas. Und wir wissen, dass das etwas mit uns zu tun hat. Aus den Medien und von der Politik hören wir häufig, dass wir anders konsumieren sollen, mehr Bio und fair gehandelt, vielleicht auch insgesamt etwas weniger. Wir sollen unsere Stimme erheben, indem wir mit dem Einkaufszettel abstimmen. Ob sich dadurch ein gutes Leben für alle Menschen schaffen lässt, ist jedoch mehr als fraglich. Denn unter dem Schleier verbirgt sich neben den oberflächlichen Phänomenen der Ausbeutung von Menschen in Minen und Fabriken und der Zerstörung von Regenwäldern noch etwas ganz Anderes: Ungleiche Machtverhältnisse und eine ungerechte Produktionsweise, die wie fest eingeschlagene Pflöcke diese Lebensweise stützen und systematische Veränderungen im Moment fast unmöglich machen.

Um diesen Umstand zu verdeutlichen, haben Ulrich Brand und Markus Wissen das Konzept der imperialen Lebens- und Produktionsweise entwickelt. Es besagt, dass das alltägliche Leben in wenigen globalen Zentren weltweiten Zugriff auf Arbeitskräfte und die Ressourcen der Natur verschafft. So wird in Brasilien Regenwald für Soja abgeholzt, das in der deutschen Massentierhaltung verfüttert wird. In Indien bauen Menschen unter schlimmsten Bedingungen Tee an, der bequem im Supermarkt um die Ecke gekauft werden kann. Da die imperiale Lebens- und Produktionsweise so tief eingeschrieben ist in die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Alltagshandlungen, wird sie als normal und natürlich empfunden.

Es geht hier allerdings nicht um Fragen des Lebensstils. Es geht um Fragen von Macht und Herrschaft und darum, wie sich bestimmte Produktions- und Konsumnormen entwickeln. Es geht außerdem darum, wie diese Verhältnisse akzeptiert und sogar zum Teil der eigenen Identität werden. Durch die Begriffe der imperialen Lebens- und Produktionsweise soll der Schleier gelüftet werden.

Auf Kosten anderer

Die imperiale Lebensweise beruht auf ungerechter Ressourcenverteilung, wird ermöglicht durch menschenunwürdige Arbeit, beutet die Natur aus und führt letztendlich zu einer Spaltung der Gesellschaft. Warum ändert sich also nichts? Der Grund sind die starken Stützen: Zunächst mal ist die imperiale Lebensweise tief verankert in unseren Alltagshandlungen und Wünschen. Wenn wir auf dem Land wohnen, ist es praktisch unmöglich, auf ein Auto zu verzichten, denn der öffentliche Verkehr ist nicht entsprechend ausgebaut. Wenn wir heute gesellschaftlich teilhaben wollen, brauchen wir in vielen Fällen ein Smartphone. Eine weitere Verankerung liegt in den Infrastrukturen der Gesellschaft: Kohlekraftwerke, Flughäfen, Autobahnen und Pestizidfabriken sind längst gebaut und unter den aktuellen Bedingungen teilweise sehr kostenintensiv rückzubauen oder abzuwickeln – selbst dann, wenn der Wille dazu besteht. Das zeigt der Ausstieg aus der Kohlekraft nur zu gut.

Eine weitere Stütze sind die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Institutionen und ihre jeweilige Ausrichtung wie die Welthandelsorganisation, Investitionsschutzabkommen, das Bundeswirtschaftsministerium oder wirtschaftliche Interessensverbände. Wie die aktuelle Debatte um die Freigabe der Patente auf Covid-19-Impfungen zeigt, verhindern sie immer wieder möglichen Wandel hin zu einer solidarischen Lebens- und Produktionsweise.

Ein letzter wichtiger Faktor, weshalb es nicht zu systematischen Lösungen kommt, sind Scheinlösungen. Dies sind Lösungen für real existierende Probleme wie der Klimakrise, die jedoch das Problem nur verschieben oder sogar vergrößern. Beispiele sind Maßnahmen des Geoengineerings, beispielsweise die Idee, der Luft Kohlendioxid zu entnehmen und im Boden zu speichern (Carbon Capture and Storage), also technische Eingriffe in die Kreisläufe der Erde mit vollkommen unabschätzbaren Auswirkungen. Oder die Bioökonomie, die fossile Rohstoffe durch nachwachsende Rohstoffe (beispielsweise „Biotreibstoff“ aus Raps-, Palm- oder Sojaöl) ersetzen will, was jedoch enorme Landnutzungskonflikte zur Folge hat. Ein anderes Beispiel ist der aktuelle Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft, bei welcher enorme Mengen Wasserstoff aus dem Ausland importiert werden sollen, wodurch vor Ort Wasserknappheit verursacht oder potenziell Menschen durch den Bau von riesigen Staudämmen verdrängt werden würden.

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Schlüssel zur solidarischen Lebensweise

Um ein gutes Leben für alle Menschen zu ermöglichen und dabei die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten, gibt es drei Schlüssel: Erstens den Schleier vollständig zu lüften und Interessens- und Machtverhältnisse transparent machen, um so soziale Herrschaft abzubauen. Zweitens das Erproben und die Weiterentwicklung von solidarischen Lebens- und Produktionsweisen, die sich verallgemeinern lassen. Und drittens die Absicherung von solidarischen Lebensweisen, um diese zu institutionalisieren.

Der erste Schlüssel umfasst all jene Abwehrkämpfe gegen Infrastrukturen der imperialen Lebensweise. Das können sowohl Proteste gegen die Abholzung von Wäldern für Autobahnen und Kohlebergbau als auch gegen die Ansiedlung multinationaler Logistikkonzerne oder den Bau von Massentierhaltungsbetrieben sein. Diese bestehen immer auch darin, die Gewinninteressen weniger Eigentümer*innen von Kohle-, Öl- und Gas- sowie Agrar-, Automobil, Chemie- oder Bergbaukonzernen gegen Gemeinwohlinteressen aufzuzeigen, um so auf lange Sicht soziale Herrschaft abzubauen. Auch vor Gerichten Urteile zu erstreiten, wie zuletzt gegen den Ölkonzern Shell in den Niederlanden, kann ein Instrument sein, die imperiale Lebensweise Stück für Stück zurückzudrängen.

Ein zweiter Schlüssel ist das Erproben von Alternativen. Auf diese Weise ist beispielsweise die Energiewende entstanden. So gründete sich in den 1980er-Jahren aus den Anti-Atom-Protesten eine Bewegung von Pionier*innen, die in neu gegründeten und selbstverwalteten Betrieben ausprobierten, wie sich am besten Energie aus Wind und Sonne gewinnen lässt. Das zunächst progressive Gesetz für Erneuerbare Energien sicherte sie institutionell ab. Es gibt jedoch noch viele weitere Formen solidarischer Lebensweisen, die im Moment häufig in den Nischen ausharren. So gibt es schon heute Unternehmungen aus selbstorganisierten Pflegeteams, die die Art, wie Sorgearbeit funktioniert, verändern, indem sie beispielsweise die umsorgten Menschen dabei unterstützen, eigene Netzwerke aufzubauen. Über das Mietshäusersyndikat wird Haus um Haus freigekauft, dem Markt entzogen und gemeinschaftsbasiert verwaltet. Im Verband der solidarischen Landwirtschaft sind mittlerweile mehr als 150 Betriebe organisiert. All dies sind die Keimzellen einer neuen Wirtschafts- und Produktionsweise, die allen ein gutes Leben ermöglichen könnte.

Ein weiterer sehr wichtiger Schlüssel ist es, diese Alternativen institutionell abzusichern, so dass die solidarischen Inseln innerhalb der imperialen Lebens- und Produktionsweise immer größer werden können. Es müssen also neue Infrastrukturen und Institutionen geschaffen werden, die solidarische Lebensweisen ausweiten und absichern. Ein Beispiel könnte die politische Unterstützung solidarischer Wirtschaftsbetriebe durch die kommunale Politik sein. So wäre es möglich, die Wirtschaftsförderung vor Ort so umzugestalten, dass vor allem selbstverwaltete und nicht-gewinnorientierte Betriebe mit demokratischer Binnenstruktur Unterstützung erhalten, statt Jahr um Jahr neue Gewerbeflächen auszuweisen. Ein Staatssekretariat für solidarische Ökonomie im Bundeswirtschaftsministerium könnte die Ausweitung fördern.

Besser für alle

Ein gutes Leben für alle ist nur dann möglich, wenn wir die Machtverhältnisse ändern, die unseren Lebensweisen zugrunde liegen. Die drei Schlüssel Abwehr von strukturell nicht-nachhaltigen Institutionen sowie der Aufbau und die Absicherung von Alternativen können als allgemeine Orientierung dienen, wie die Wende von der imperialen hin zur solidarischen Lebensweise funktionieren könnte. Es wird einige Elemente der imperialen Lebensweise geben, auf die innerhalb der solidarischen Lebensweise getrost verzichtet werden kann: Plastikverpackungen von Obst und Gemüse, Düngemittel und Pestizide auf den Feldern und im Trinkwasser oder auch Gebrauchsgeräte, die nach einem halben Jahr kaputtgehen.

Die neue Lebensweise besteht allerdings keineswegs in Verzicht. Es würde darum gehen, gemeinschaftsbasiert zu wirtschaften, weniger Lohnarbeit zu leisten, sich dafür mehr engagieren zu können und mehr Zeit für Freund*innen, Familie und Naturausflüge zu haben. Einige Pionier*innen machen uns bereits vor, wie dies gehen kann.

Dieser Artikel ist zuerst in agora42 3/2021 DAS GUTE LEBEN in der Rubrik TERRAIN erschienen. In der Rubrik TERRAIN werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
Lia Polotzek
Lia Polotzek ist Referentin für Wirtschaft und Finanzen beim Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und Teil des I.L.A.-Kollektivs. Sie setzt sich für eine sozial-ökologische Transformation unseres Wirtschaftssystems ein und schreibt als Redakteurin regelmäßig für agora42.
Von der Autorin empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Ulrich Brand und Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus (Oekom-Verlag, 2017)
I.L.A. Kollektiv (Hg.): Das Gute Leben für Alle. Wege in die solidarische Lebensweise (Oekom-Verlag, 2019)
FILM
Zeit für Utopien. Wir machen es anders von Kurt Langbein (2018)

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