Franz Kafka – Experte für die dunklen Gefühle | Peter-André Alt

Porträt von Franz KafkaZeichnungen: DMBO – Studio für Gestaltung

Franz Kafka

Experte für die dunklen Gefühle

Text: Peter-André Alt

Wir alle leben in seiner Welt. „Kafkaesk“ hat man sie genannt, mit einem zuerst im Englischen auftauchenden Attribut, das zum Synonym für Angst, Unheimlichkeit, Bedrohung, Unübersichtlichkeit geworden ist. Auch 93 Jahre nach seinem Tod spricht Franz Kafka mit seinen unausdeutbaren Texten immer wieder neue Generationen von Lesern an. Zahlreiche Autoren ließen sich von seinen Themen und Motiven beeinflussen: Albert Camus und Jose Luis Borges ebenso wie Vladimir Nabokov, Philipp Roth, Paul Auster und Thomas Pynchon, John M. Coetzee und Manuel Vargas Llosa, Peter Weiss und Sibylle Lewitscharoff, Joyce Carol Oates und Jonathan Franzen – um nur einige zu nennen. In merkwürdigem Widerspruch zu seiner globalen literarischen Wirkung steht Kafkas Lebensentwurf als Autor. Nahezu sein gesamtes, knapp 41 Jahre währendes Leben führte er im inneren Bezirk Prags, inmitten einer kulturell vielfältigen, aber topografisch überschaubaren Stadt. Nur selten reiste er – nach Italien, Frankreich, Ungarn. Er heiratete nie, gründete keine Familie, hatte keine Kinder. Er hinterließ keinen irdischen Besitz, sondern nur die „ungeheure Welt“, die er, wie er sagte, „im Kopfe“ hatte. Gestalt geworden ist sie in Texten, von denen zahlreiche – darunter die drei Romane – nur Fragment blieben: un-abschließbare Bruchstücke von Geschichten, die wie Träume erzählt zu sein scheinen.

Der einsame Autor

Käfer1Kafka, der in der Literatur zu unerhörten Höhenflügen fähig sein konnte, sah sich als Gescheiterten. Der studierte Jurist war 15 Jahre lang bis zu seiner krankheitsbedingten Pensionierung in der Prager Unfall-Versicherungsanstalt beschäftigt, ohne jemals Arbeitszeit und literarische Projekte erfolgreich in Einklang bringen zu können. Er wohnte bis weit über das 30. Lebensjahr bei seinen Eltern, obwohl er seinen Vater als furchtbaren Tyrannen wahrnahm, der seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen keinerlei Verständnis entgegenbrachte. Die Frauen liebten ihn, der attraktiv und charmant, klug und ironisch, zartfühlend und elegant war, aber er vermochte es nie, zu einer von ihnen eine dauerhafte Beziehung aufzubauen. Dreimal verlobte er sich – darunter zweimal mit derselben Frau, der Berlinerin Felice Bauer –, doch stets floh er vor den Erwartungen, die die Ehe ihm abverlangt hätte. Literarisch tätig sein konnte Kafka nur in unbedingter Einsamkeit. Was ihm als Autor gelang, das war den Erfordernissen des Alltags abgetrotzt. Zu schreiben vermochte er einzig in der Nacht, wenn alle schliefen und kein Geräusch an sein empfindliches Ohr drang. Dann erwachten die Kräfte der Fantasie in ihm, und jene Bilder, die ihn in Träumen und Halbschlafzuständen ständig verfolgten, wurden Literatur.

Kafka gilt zu Recht als Meister einer unwirklich anmutenden Erzählweise. Zu ihren Bestandteilen gehören Szenen des Schreckens und der Angst, die aus Alpträumen zu stammen scheinen. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie mit höchst realistischen Mitteln entworfen und beschrieben werden. Der Schriftsteller Kafka ist weder Manierist noch Surrealist, sondern ein genauer Beobachter, der die exakte Logik des Traums abbildet. Sie macht in spezifischer Weise aus, dass noch das Irrwitzigste und Verrückteste wie ein Moment der Normalität wirkt. Vom Traum übernimmt Kafkas Erzählen nicht nur die Glaubwürdigkeit und Sachlichkeit, in der das Irrationale erscheint; an den Traum erinnert auch, dass selbst fantastische Ereignisse in seinen Texten niemals kommentiert, geschweige denn erklärt und gedeutet werden.

Der Dichter der Angst

Angst ist ein Leitmotiv in Kafkas Erzählwelt, aber auch ein konstitutives Element seiner psychischen Biografie. Das existenzielle Grundgefühl der Furcht durchzieht bereits die frühen Jahre. „Ich war ein ängstliches Kind“, schreibt der 36-Jährige im November 1919. Zur Quelle seiner Angst wird der Vater Hermann Kafka, den der Heranwachsende als bedrohlichen Diktator wahrnimmt. Er, der Sohn eines Fleischhauers, hatte sich nach entbehrungsreicher Jugend emporgearbeitet zum erfolgreichen Galanteriewaren-Händler, angesehenen Stadtbürger und stolzen Patriarchen. Die frühe Prägung durch den materiellen Mangel wirkte fort in einer ressentimentgeladenen, selbstgefälligen Überlegenheitsattitüde, die den Vater zum unduldsamen Tyrannen werden ließ. „In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt“, so charakterisiert ihn 1919 der Sohn. Die drei jüngeren Schwestern können Franz im Konflikt der Generationen nicht helfen, und sehr früh entscheidet er sich, vor der vermeintlichen Stärke des Vaters zu kapitulieren. Seine Unterwerfung äußert sich darin, dass er alles meidet, was eine Nachahmung des patriarchalischen Rollenentwurfs bedeutet hätte. Bis zum 36. Lebensjahr wohnt Kafka bei den Eltern, auch nach Jurastudium und Promotion, als längst verbeamteter Versicherungsexperte in auskömmlicher Stellung und spärlich publizierender Autor kurzer Prosastücke. Sämtliche Eheprojekte scheitern, ein bürgerlicher Hausstand wird nicht gegründet. Der Sohn bleibt Sohn und arbeitet sich am Vater ab. Noch als 36-Jähriger schreibt er einen hundert Seiten umfassenden Brief an Hermann Kafka, eine Mischung aus Selbstbezichtigung und Anklage, schwingend um ein einziges großes Zentrum: die Angst. Was bleibt, sind die Fluchten in die Imagination, aus denen seine unverwechselbaren Geschichten hervorgehen. Geschichten über die Angst vor fremden Instanzen einer undurchsichtigen Gerichtsbarkeit, vor anonymen Verwaltungsapparaten, vor den Verlockungen des Triebs.

Angst, so erkennt Kafka früh, hat mit der Erfahrung von Ohnmacht zu tun. Das ist die Quintessenz seiner Beziehung zum Vater, die durch Autoritätsanmaßung und Unterwerfung gekennzeichnet ist. Die Rolle des Vaters als Lehnsessel-Tyrann trägt prototypischen Charakter, denn aus ihr leiten sich alle weiteren Ordnungen der Macht her. Die Macht muss nicht objektiv begründet sein, vielmehr genügt es, wenn nur einer sie anerkennt. Die Macht des Vaters, der eigentlich ein Scheinriese ist, entsteht durch die Subordination des Sohnes. Ähnlich verhält es sich mit politischen und sozialen Systemen, in denen Hierarchien keineswegs auf objektiver Autorität beruhen. Genau dieses Phänomen wird Kafka in seinen Romanen – vor allem im Process – in suggestiven Bildern zum Ausdruck bringen. Dass das, was Angst auslöst, bei näherer Betrachtung lächerlich und unwürdig, banal und ordinär sein kann, gehört zu den irritierendsten Seiten der Romanhöllen, die Kafka uns hinterlassen hat.

Käfer3Eine weitere Quelle der Angst, neben der Erfahrung väterlicher Macht, bildet für den Heranwachsenden die Sexualität. Den aufkeimenden Trieb empfindet Kafka als bedrohlich, weil er das Denken beherrscht und in seiner Dynamik nicht kontrolliert werden kann. Über die Erfahrung der ersten Liebesnacht mit einer Verkäuferin, die den jungen, sehr attraktiven Studenten offensiv angeflirtet hatte, berichtet er 17 Jahre später in einem Brief an Milena Pollak, sie habe für ihn Glück und Schmutz zugleich bedeutet. Der Trieb aber steht nicht still, er regt sich immer wieder, und gerade das macht ihn unheimlich und unverständlich. Ganz ohne detaillierte Kenntnis der Freudschen Psychoanalyse, die exakt diese unerschöpfliche Energie der Libido hervorhebt, beschreibt Kafka den Trieb als einen bedrohlichen Herren, der uns wie ein unbeherrschbares Pferd in unbekannte Gefilde davontragen kann. Als „Angst“ und „Sehnsucht“ bezeichnet er in seinem Brief an Milena Pollak die beiden bestimmenden Impulse, die ihn mit der sexuellen Erfahrung verbinden. Das Gefühl des Schmutzigen wird ihn nie loslassen, und es ist kein Zufall, dass der Liebesakt in seinen Romanen an unsauberen Orten – in unreinen Betten, zwischen alten, staubigen Bürorequisiten, in Bierpfützen – stattzufinden pflegt. Die Sehnsucht aber ist nicht zu unterdrücken, sie bleibt wach und meldet sich immer wieder in ungebrochener Stärke zurück. Kafkas irrlichternde Erzählung Ein Landarzt wird genau davon handeln: in Bildern, die aus den Dunkelkammern unserer Schreckträume stammen, schildert sie, wie ein Arzt in unbehauster, winterlicher Gegend zu einem fernen Patienten gerufen und durch einen unheimlichen Stallknecht mit einem großrädrigen Wagen und zwei wilden Pferden ausgestattet wird, die ihn wie im Flug zu seinem Ziel tragen. Den Kranken, den er dort vorfindet, kann er jedoch nicht heilen, denn er trägt eine tödliche Seitenwunde, an der er zugrunde gehen muss. Die enttäuschten Verwandten legen den machtlosen Arzt ins Bett zum Patienten: Er scheint selbst ein Kranker, der ohne Rat und Wissen ist. Der Trieb des Menschen, der durch die fremden Pferde verkörpert wird, führt uns zur Erkenntnis unserer Ohnmacht, zur Einsicht in unser Unglück. Dass auch der Arzt nur ein anderer Kranker ist, gehört im übrigen zu den wichtigsten Befunden der Psychoanalyse, deren Programmatik Kafka mit einer Mischung aus Respekt und Verärgerung zur Kenntnis nahm: Respekt, weil ihre Trieblehre sich mit seinen eigenen Beobachtungen sexueller Konditionierung deckten; Verärgerung, weil er ihren Therapieanspruch für einen falschen Ansatz hielt, der die viel umfassendere existenzielle Krankheit des Menschen, seine Unbehaustheit und Ich-Enfremdung nicht heilen konnte.

Eine dritte Quelle der Angst, die Kafkas Geschichten speist, ist die permanente Selbstbeobachtung. Wer sich unaufhörlich observiert und seine inneren Regungen überwacht, der gerät in einen Kreislauf der Angst, aus dem er sich nicht mehr befreien kann. Das hatte schon Sören Kierkegaard, der Psychologe unter den Philosophen des Nachidealismus, ausdrücklich betont – Kafka las seine Texte mit Bewunderung, weil er ihre literarischen Qualitäten besonders schätzte. Zur Selbsterkenntnis, so formuliert er im Winter 1917/18, ist jeder Mensch aufgerufen. Aber die Umsetzung dieses Auftrags darf nicht zur Selbstbeobachtung geraten, die der Welt des Bösen angehört. Die Schlange des Paradieses verlockt die ersten Menschen bekanntlich zu einem Akt der Gehorsamsverweigerung gegenüber Gott, der zum Verlust der Unschuld und zur gesteigerten Selbstwahrnehmung führt. Die Scham nach dem Sündenfall ist das erste Resultat einer Selbstspaltung, die nicht mehr geheilt werden kann. Und die Selbstbeobachtung des verunsicherten Menschen mündet demnach auch nicht in die Therapie des großen Risses, der unsere sinnliche von der geistigen Erfahrungswelt trennt. Sie erzeugt vielmehr tiefe Lebensunfähigkeit, die permanente Angst vor dem eigenen Ich, seinen unbewussten und seinen bewussten Seiten. Was Kafka im Winter 1917/18, erstmals konfrontiert mit der Diagnose seiner sieben Jahre später tödlich endenden Tuberkulose-Erkrankung, in der winterlichen Einsamkeit des Dorfes Zürau fern von Prag niederschreibt, ist eine Philosophie der Angst, die aus dem Sündenfall abgeleitet wird. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieser Philosophie, dass der jüdische Autor, der erst in seinen letzten Jahren einen Zugang zum Glauben der Vorväter fand, das Zentrum seiner Angst-Lehre über die Auseinandersetzung mit christlich-biblischen Themen entwickelt.

Die Lungen-Erkrankung, die im Spätsommer 1917 diagnostiziert wird, macht Kafka auf fast paradoxe Weise frei. Er lässt sich vom Dienst beurlauben, zieht zu seiner jüngsten Schwester Ottla aufs Land, löst sich von seiner Verlobten Felice Bauer und arbeitet an einer Serie von aphoristischen Lebensbetrachtungen. Hier, an der Schwelle zum Tod, findet Kafkas Denken zu seiner letzten, mutigsten Konsequenz. Selten wurden die Grundlagen unserer seelischen Erfahrung, die Erfordernisse der Moral und die Widersprüche menschlichen Freiheitsanspruchs schärfer und kompromissloser dargestellt als in den Zürauer Aphorismen. Die intellektuelle Härte, mit der Kafkas Reflexionen operieren, resultiert aus dem Grundgefühl, nichts mehr verlieren zu können. „Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört Halt zu sein“, heißt es diesbezüglich. Max Brod, der Prager Freund seit gemeinsamen Studientagen, hat schon 1937 daran erinnert, dass Kafka im Alltag zu äußerst mutigen Entscheidungen fähig war, beim Rudern und Radfahren sportliche Risiken suchte und Lust an der Gefahr zeigte. In dem Moment, da die Krankheit ihn mit der Endlichkeit seines Lebens konfrontiert, fallen die letzten Barrieren. Kafkas Denken entfernt sich nun von allen gesellschaftlichen Wertvorstellungen, es schwingt um eine letzte Grenze, wo alle Unterscheidungen zwischen Moral und Unmoral, zwischen Wahrheit und Lüge kollabieren: „Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“

Räume und Alpträume

Kafkas Texte faszinieren ihre Leser, weil sie mit einem ebenso einfachen wie komplexen Kunstgriff arbeiten – sie übertragen Phänomene der seelischen Welt auf soziale oder politische Systeme. Am Leitmotiv der Angst lässt sich dieses Verfahren sinnfällig zeigen. In seinen 1912 entstandenen Erzählungen Das Urteil und Die Verwandlung hat Kafka Fantasien von Schuld und Strafe entfaltet, die ihren unvergesslichen Ausdruck in den bildmächtigen Darstellungen zwischenmenschlicher Beziehungen finden. In den frühen Texten ist die Familie der Ort, wo Selbstvergessenheit und Verdrängung, Egozentrik und Angst des Menschen sichtbar werden. Die Familie fungiert, in Übereinstimmung mit Kafkas eigenen Erfahrungen, als sozialer Raum, in dem Macht und Ohnmacht gleichermaßen hervortreten. Stets ist es der Vater, der die Rolle des häuslichen Tyranns im wörtlichen Sinn versieht. Er gerät zur Strafinstanz, die über den Sohn urteilt und ihn vernichtet. Nicht der Sohn also schaltet hier, wie im Ödipus-Mythos, den Vater aus, sondern dieser umgekehrt seinen jungen, vitalen Konkurrenten im Ringen um die Macht, das Lebensrecht, die Zukunft. Die mörderischen Väter Kafkas mögen äußerlich verfallene Gestalten im Schlafrock sein, aber in ihnen brodelt die ungebremste Gier nach Herrschaft, die sie sogar ihre Söhne töten lässt.

Im Process (1914/15), dem wohl bedeutendsten seiner drei Romane, geht Kafka noch weiter und überführt das Private in eine eigene gesellschaftliche Welt mit beson¬deren Re-geln, Gesetzen und Symbolen. Was der Angeklagte Josef K. erlebt, nachdem er durch die Schergen eines unsichtbaren Gerichtssystems verhaftet wurde, entspricht den Mustern eines Alptraums. Die Quintessenz seiner Geschichte, die mit der Hinrichtung endet, be-steht darin, dass K.’s Schuld vor allem ein Schuldgefühl ist. Von diesem Schuldgefühl und seinen Spiegelungen handelt der Roman. Kafka beschreibt dabei die Psyche seines Helden nicht direkt, sondern versinnbildlicht sie: In den unheimlichen Dachzimmern, wo das Gericht tagt, in den Betten der Advokaten, in Asservatenkammern und Raumfluchten, geheimen Verstecken und Treppenhäusern spiegeln sich Josef K.’s Hemmungen und Ängste, seine unsicheren Verteidigungsversuche und Rechtfertigungszwänge. Orson Welles’ Verfilmung des Romans, die 1962 in die Kinos kam, hat dazu grandiose Bilder von klaustrophobischer Qualität gefunden. Auch wenn Welles’ Adaption nicht frei von Zeitgeist-Elementen bleibt, wie die Anspielungen auf Atom-Phobie und Kalten Krieg zei-gen, gelingt seinem Film in diesem Punkt die perfekte Visualisierung von Kafkas Raumfantasien.

Käfer4Immer wieder wird Josef K. von Frauen abgelenkt, statt sich zu ernsthafter Selbstprüfung durchzuringen. Die Verlockungen des Triebs führen ihn auf Abwege, und permanent entzieht er sich der ehrlichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, sodass er die Bedeutung des gegen ihn laufenden Prozesses niemals erkennt. In der Welt des Romans gibt es nichts, das in einem zuverlässigen Sinn objektiv existiert. Alles besteht nur in Bezug auf das Subjekt, auf Josef K. Das bringt die grandiose Türhüter-Legende zum Ausdruck, die der Geistliche dem Angeklagten zur Veranschaulichung des Gerichtswesens erzählt. „Vor dem Gesetz“, so lautet ihr Anfang, „steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne.“ Das Gesetz ist ein labyrinthisch anmutendes Gebäude, das der Türhüter bewacht. Der Mann vom Lande wartet viele Jahre auf die Erlaubnis zum Eintritt, ohne dass er eingelassen wird. Kurz vor seinem Tod erfährt er durch den Türhüter, dass das Gesetz allein für ihn bestimmt sei und nun, da sein Leben ende, geschlossen werde. Das geheime Gesetz, von dem der Process-Roman handelt ist kein allgemeines Regelungswerk, das für alle Menschen gilt, sondern ein Ausdruck persönlicher Bestimmung. Der Angsttraum der Schuld, der die Geschichte Josef K.’s durchzieht, erweist sich als Reflex einer gescheiterten Selbstfindung. Wie der Mann vom Lande das ihm zugedachte Gesetz verfehlt, so versagt Josef K. bei der Suche nach dem eigenen Ich.

Für immer kafkaesk

Man kann Kafka einen „ewigen Sohn“ nennen. Diese Formel besagt nicht, dass er ein Unvollkommener, im Leben Versagender war. Sie meint etwas anderes: Kafka war ein Schriftsteller, der seine Texte immer im Status des Unvollendeten beließ. Seine Geschichten finden keinen Abschluss, so wenig wie die Träume, aus denen wir plötzlich erwachen. Wohin sie uns geführt hätten, wären wir nicht erwacht, können wir im Licht des hellen Tages unmöglich sagen. Auch die Erzählungen des ewigen Sohnes Kafka werden nicht erwachsen, sie verharren im Stadium des Vorläufigen – das macht sie so beunruhigend und lässt sie, verstörend wie sie sind, niemals altern. Kafkas Texte haben jede Generation neu angesprochen. Sie prägten nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler, Filmregisseure, Philosophen, Architekten, Psychoanalytiker und Theologen auf unterschiedlichste Weise. Kein anderer Autor der Weltliteratur hat eine vergleichbare Flut von Interpretationen ausgelöst. Dieser Strom kann nicht enden, weil Kafkas Texte unabschließbar bleiben. In ihrer Nachgeschichte mischen sich Buchstabe und Kommentar zu einem unvergleichlichen Ganzen, ähnlich wie im Fall des jüdischen Talmud, wo überlieferter Text und Deutung eine spannungsvolle Gesamtheit bilden. Der Autor Kafka schreibt in seiner Kunst diese Form des Talmud fort. Seine großen Erzählungen von Angst und Strafe sind auch deshalb unvergänglich, weil sie jede Generation immer wieder neu an die Grenzen ihrer eigenen psychischen und sozialen Existenz führen.

Peter-André Alt ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zum Thema von ihm erschienen: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie (Verlag C. H. Beck, 2005).
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Dieses Portrait ist in Ausgabe 4/2017 WA(H)RE ANGST erschienen.
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