Mehr Mitmenschlichkeit wagen! | Carola Hesse-Marx

Ein SpiegelbildFoto: Noah Buscher | Unsplash

 

Mehr Mitmenschlichkeit wagen!

Die psychischen Auswirkungen der Corona-Krise

Text: Carola Hesse-Marx | Gastbeitrag

Weltweit ist die wirtschaftliche Aktivität auf einem Tiefpunkt. Beinahe vollständig heruntergefahren, ist unsere industrielle Gesellschaftsstruktur von einem Moment auf den anderen eingebrochen, körperliche Nähe, wirkliche zwischenmenschliche Begegnungen sind plötzlich gefährlich. Viele Menschen fühlen sich in einen Albtraum versetzt, andere wiederum genießen erstaunt die unverhofft eingekehrte Ruhe. Nach über einem Monat beginnt allmählich das Erwachen aus einer unwirklichen nicht zu fassenden Situation: Der Ruf nach einer Strategie, die uns aus dem (Alb)Traum zurück in den Alltag führen soll, wird immer drängender. Doch in welchen Alltag? Viele Menschen glaubten, wir könnten nach einigen Wochen wieder in unser altes Leben zurückkehren. Nun begreifen wir langsam: Der Mensch hat die Natur nicht unter Kontrolle. Vielmehr ist es umgekehrt: Die Natur hat den Menschen im Griff.

Eine neue Normalität?

Weltweit befinden sich nicht allein die Bevölkerungen, sondern auch die Politiker in einem Ausnahmezustand, sie sind verunsichert. Erstaunlich umsichtig, erstaunlich klug sind die Überlegungen unserer Regierung, was vertretbar, was zu verantworten ist. Ganz aktuell wird diskutiert, wie eine schrittweise Öffnung des Shutdown aussehen könnte. Nicht nur wirtschaftsnahe Politiker fordern einen „Masterplan“ für ein möglichst schnelles Hochfahren der Wirtschaft, als wäre es die Regierung, die dies verhindere. Existenzangst hat viele Menschen erfasst. In dieser Auseinandersetzung macht ein neues Wort die Runde: „Neue Normalität“. Auch wenn man sich schnell davon zu distanzieren sucht (Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) wollte bei Anne Will doch lieber „eine Rückkehr zur Normalität“, nachdem die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) darauf hingewiesen hatte, dass die Einschränkung der Freiheitsrechte, die mit der „neuen Normalität“ verbunden sind, nicht verfassungsgemäß sein könnten). Aber COVID-19 hält sich nicht an Gesetze. Herr Altmaier wirkt einen Moment lang verunsichert: Wieviel Wahrheit ist den Bürgern*innen zuzumuten?

Wir stehen vor der ganz konkreten Frage: Wie sieht unsere neue Wirklichkeit im Moment aus? Wie sieht sie perspektivisch aus? Die Illusion, nach einigen Wochen wieder wie bisher weitermachen zu können, macht einer verunsichernden Erkenntnis Platz. Die Forderung einiger Politiker, man solle nun schnellst möglich zur „alten Normalität“ zurückkehren, kann, so gerne die meisten Menschen dies würden, nicht einfach umgesetzt werden. Ob wir nun diesen Begriff verwenden oder nicht, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, wir müssen begreifen: Die „alte Normalität“ gibt es nicht mehr. Selbst, wenn in nächster Zeit ein Impfstoff entwickelt werden könnte (Wissenschaftler können Vermutungen anstellen, doch klare Fakten liegen nicht vor), werden wir in nächster Zeit mit COVID-19 leben müssen. Wie lange wird diese neue Wirklichkeit andauern? Ein oder zwei Jahre?

Diese Erfahrung, dass wir die Natur keineswegs im Griff haben, sondern die Natur weltweit unsere Zivilisation, wird uns auch nach Corona geprägt haben. Auch wenn wir es noch immer verdrängen möchten, wissen wir es doch eigentlich längst: Die Auswirkungen unseres Lebensstils zeigen sich überdeutlich als „Klimawandel“, oder sagen wir klarer: als dramatische Erwärmung des Erdballs mit seiner für uns Menschen existentiellen Bedrohung. Nun, in der Corona-Krise stehen wir vor der existentiellen Frage: Wie können wir von nun an leben? Wie wollen wir von nun an leben? Es gibt keine Stunde Null. Es hat sie nie gegeben. Wir können aus der Geschichte, aus unseren Erfahrungen lernen. Vorausgesetzt, wir verarbeiten das Erlebte und es wird in uns zu Erfahrung.

Was benötigt man, um mitmenschlich zu werden?

Der Mensch probiert aus, setzt sich mit seiner Umwelt sinnlich-konkret und psychisch auseinander und wird daraus reifer, intelligenter. Wir wissen es: Vor allem schmerzliche, beängstigende Erfahrungen machen uns klüger, reifer – aber nur, wenn wir sie verarbeiten. Verdrängung und Verleugnung führt zur Wiederholung des ewig gleichen Irrtums. Immer wieder denselben Fehler zu begehen, ist zumindest neurotisch, wenn nicht sogar psychotisch, oft einfach aber auch nur eine bestimmte Art von Dummheit. Seien wir also klug! Denn Klugheit benötigt die Menschheit dringend! Wir haben es in der Hand, in der Corona-Krise zu lernen, ebenso, wie in der Krise des Klimawandels. Denn wenn wir uns, unsere Realität, ernstnehmen, verstehen wir, dass weder Corona, noch Klimawandel es zulassen, zur „alten Realität“ zurückzukehren und unseren alten Lebensstil der Unvernunft, der Gier, der Maßlosigkeit wiederaufzunehmen. Wir müssen unserem Leben eine neue Struktur, eine neue Form mit neuen Inhalten geben.

Aber wie kann ein Leben in den nächsten zwei Jahren (oder für lange Zeit?) aussehen? Die Menschen weltweit führen es uns vor Augen: Sie wollen miteinander leben! Sie möchten miteinander essen, trinken, miteinander tanzen, miteinander arbeiten, miteinander lachen, miteinander weinen, sie möchten sich gegenseitig berühren, berührt werden, umarmen. Auch, wenn die Digitalisierung im Moment einen tröstenden Ersatz bietet, wird das Bedürfnis nach echtem Zusammenleben mehr als deutlich. Menschen möchten kein virtuelles Scheinleben, sie möchten ein sinnlich-emotionales wirkliches konkretes Miteinander – sie möchten Nähe.

Dies zeigt uns dieser Ausnahmezustand, der uns nun auf uns selbst zurückgeworfen hat, indem wir nicht mehr vor uns selbst davon laufen können, obwohl wir schon so lange darin geübt sind, unseren existentiellen Mangel an Geborgenheit, mit rauschhaftem Konsumieren und geldgieriger Machtanhäufung zu kompensieren – es kann nicht gelingen. Wir haben unseren Mangel nicht wahrgenommen, er wurde durch das rauschhafte Getriebensein übertüncht. Was die Corona-Krise nun offenbart: Die Menschen haben das ständige Konkurrieren satt! Sie haben den destruktiven globalen Machtkampf satt! Es ist richtig, die Kinder wollen gerne zurück in die Schulen. Aber es ist auch wahr, dass sie sich von der Schule erholen! Denn viel zu häufig ist Schule identisch mit Angst vor dauerndem Konkurrenzkampf um Noten. Kinder möchten lernen, Kinder lernen ohnehin ununterbrochen! Kinder und Jugendliche würden gerne wieder in der Schule sein, wenn sie dort miteinander lernen dürften und nicht permanent gegeneinander bewertet würden. In einer Leistungsgesellschaft geht das nicht anders? Oh doch! Denn man wird gescheiter und produktiver ohne Angst im Nacken. Dasselbe gilt für Eltern: Sie möchten weder nur arbeiten noch nur zuhause sein. Sie möchten arbeiten und mit ihren Kindern zusammenleben dürfen, Zeit für sich selbst und für ein Miteinanderleben haben, anstatt sich nur die Türklinke in die Hand zu geben. Das ist es, was Familien, Ehen, Beziehung zerstört. Denn auch Eltern sind ohne destruktiven Stress, hervorgerufen durch Existenzangst, kreativer und produktiver. Und: Warum müssen wir ständig in der Welt umherfliegen – getrieben von der Angst, etwas zu verpassen? Wer Überflüssigem hinterherjagt, verpasst sein eigentliches Leben.

Wir könnten in der Corona-Krise eine existentielle Erfahrung machen, die uns reifer sein lässt für die weitere Gestaltung unseres Lebens: Es könnte die Erkenntnis sein, dass nicht Konkurrenz und Wettkampf unser Leben froh macht, sondern das Miteinanderleben. Denn es macht den Menschen eben nicht ein Hauen und Stechen, ein gegenseitiges Auffressen und Besiegen zum Homo sapiens. Dies ist ja vielmehr das Gesetz des Dschungels! Was den Menschen zum Homo sapiens machen könnte, ist seine potentielle Möglichkeit, sich mit dem Anderen zu identifizieren, das eigene Selbst in ihm zu erkennen. Eine Katze kann sich nicht mit einer Maus identifizieren, nicht mit ihrer Angst, nicht mit ihrem Leid. Der Mensch könnte es, wenn er seine phylogenetisch mögliche Empathiefähigkeit entwickeln würde. Die Identität der Katze ist genetisch festgelegt: Sie ist getrieben, die Maus zu fangen, sie kann sich nicht dagegen entscheiden. In der Evolution hat sich in der Menschheitsgeschichte die Notwendigkeit der Entwicklung der Spiegelneuronen als intelligente Überlebensmöglichkeit herausgebildet. Aus gutem Grund: Denn der Mensch wird als Frühgeburt geboren. Kein anderes Säugetier ist so lange und so absolut auf die Fürsorge des Anderen, des Muttertiers angewiesen (auch die anderen höher entwickelten Säugetiere nicht, die deshalb ebenfalls sehr soziale Fähigkeiten ausbilden, wie beispielsweise die Elefanten). Aber nur der Mensch kann und muss Introspektions- und Reflexionsfähigkeit entwickeln. Er muss sich fragen, Wer bin ich? Und das tut er explizit seit der Antike, seit Heraklit! Seit der Moderne muss er sich zudem fragen: Wer will ich sein? Damit untrennbar verbunden ist die Frage: Wie kann ein sinnvolles Leben für uns Menschen aussehen? Wollen wir uns nun aus Angst vor der Natur, (auch vor unserer inneren Natur, sprich vor unseren inneren Dämonen), zu einem Homo technicus entwickeln? Ohne eigene innere Stimme, seelenlos, virtuell? Und wollen wir wirklich die ökonomische Version das Gesetzes des Dschungels fortführen: im Turbokapitalismus gnadenlos neoliberal die Gewalt des Stärkeren austoben? Ohne jegliche Moral und ohne jeden humanistischen Anspruch? Dies berührt wesentlich die Frage: Wie kann Wirtschaft dem Menschen dienen? Dass es bisher noch umgekehrt ist, führen uns ebenso die langfristigen Folgen des Klimawandels vor Augen, wie die menschenverachtende Schere zwischen arm und reich.

Was benötigt ein Menschenkind, um mitmenschlich zu werden? Diese Frage wurde zu lange gesellschaftlich ignoriert, obwohl wir so viel wie niemals seit Menschengedenken über die Psyche wissen! Wie Zwischenmenschlichkeit aussieht, entscheidet unsere Psyche. Schauen wir einmal genau hin, wie ein zwischenmenschliches Leben beginnt.

Die Identität des Menschen

Alle menschlichen Organe entwickeln sich im Mutterbauch, sie nehmen nach der Geburt nur an Größe zu. Einzig das menschliche Gehirn und die menschliche Psyche entwickeln sich im menschlichen Individuum erst postnatal in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Beides entwickelt sich innerhalb menschlicher Beziehungen und ist nur so wenig genetisch festgelegt, weil sowohl Gehirn als auch Psyche innerhalb der Evolution auf Lernen, d.h. sinnlichem Begreifen und Erfahren ausgerichtet sind. Somit ist der Mensch das unsicherste und verlorenste Wesen auf diesem „Stern“, denn er weiß nichts aus sich selbst heraus. Der Mensch ist damit psychisch aber auch das flexibelste und anpassungsfähigste Wesen. Das macht ihn zum gefährdetste und aus diesem Grund potentiell auch zum gefährlichsten, destruktivsten Wesen – für sich selbst und für seine ihn umgebende Umwelt und Natur.

In unserer bekannten Welt ist der Mensch das einzige Lebewesen, das keine von der Natur aus genetisch festgelegte Identität besitzt, wie dies etwa bei einem Affen oder Hund der Fall ist, die unhinterfragt ihr Sein als natürliches Wesen vollziehen, ja: vollziehen müssen. Mit seiner Bewusstwerdung steht der Mensch der Natur gegenüber – und bleibt dennoch gleichzeitig ein Teil von ihr. Die Entwicklung der Spiegelneuronen war hierbei evolutiv entscheidend (eine detaillierte wissenschaftliche Ausführung würde den Rahmen dieses Textes sprengen). Feststeht: Im Vergleich zu anderen Säugetieren ist der Mensch phylogenetisch gezwungen, sich seine Identität selbst zu schaffen, das heißt, seinem Leben einen Sinn zu geben. Dies ist identisch mit der Entwicklung seiner Bewusstwerdung seines Selbst und von der Welt. Es bedeutet, dass die einzige Identität des Menschen die ist, alles werden zu können. Seine absolute Anpassungsfähigkeit ist seine positive Möglichkeit, aber eben auch seine Not: Denn der Mensch wird psychisch nur durch Identifikation mit einem Menschen zum Menschen.

Kein Tier, außer dem Menschen, ist fähig, seinen eigenen Lebensraum zu zerstören. Die Natur hat uns nun jäh unsere Grenzen vor Augen geführt. Der Mensch fürchtet die Gewalt der Natur seit Menschengedenken. Seit dem Aussterben der Dinosaurier hat der Mensch in Jahrmillionen der Evolution die Rolle der Dinosaurier übernommen. Mit der Entwicklung seiner menschlich herausragenden Intelligenz hat die Menschheit es so weit gebracht, dass sie nun in der Lage ist, sich selbst auszulöschen. Wir stellen fest: Wir stehen mitnichten über der Natur, wir sind Teil der Natur. Auch, wenn wir dies noch so sehr verleugnen. Aber wir ahnen es längst: Die Natur wird weiterleben, sie braucht uns Menschen nicht.

Der Homo sapiens hat die Natur, auch wenn er dies lange glaubte, trotz aller großartigen Errungenschaften bisher nicht bezwingen können. Nun zeigt uns ein unsichtbar kleiner Krankheitserreger, wie gewaltig die Natur ist. Nicht allein die unvorstellbaren, unfassbaren Kräfte der Vulkane, der Tsunamis, der Tornados, sowie das nun immer deutlicher wahrnehmbare gewaltige Ausmaß der Klimakatastrophe zeigen uns Menschen, wie winzig und wie ausgeliefert, wie abhängig wir von der Natur sind. Angesichts der Klimakatastrophe erleben wir, wie unfassbar zerstörerisch der Mensch ist, indem er sich zu lange der selbstherrlichen Illusion hingab, über die Natur zu herrschen.

Wir müssen jetzt entscheiden

Die Menschheit steht an der Schwelle der Gestaltung seines Selbst und seiner Umwelt, gegen oder mit der Natur. Wir sollten es nicht länger verdrängen, sondern die Verantwortung übernehmen, indem wir genau hinhören, genau hinsehen, genau hinspüren, was uns und unserer Umwelt wirklich fehlt, was wir wirklich brauchen, was uns wirklich freut, glücklich oder traurig macht, was die Natur schützt und was uns vor der Naturgewalt schützt. Wir sollten unsere Entscheidung jetzt bewusst fällen, denn unsere Lebenshaltung hat gravierende, nachhaltige Folgen, wie wir dies anhand der Klimakatastrophe und nun in der Corona-Krise sehen: Der Mensch hat den Lebensraum vieler Arten zerstört, natürliche Grenzen überschritten.

Wir müssen jetzt entscheiden: Wie kann menschliches Leben aussehen? Wollen wir gegen die Natur leben oder mit ihr? Wollen wir mitmenschlich leben oder in ständigem Konkurrenzkampf? Wollen wir aus Angst vor der Natur in einer virtuellen Scheinwelt leben, nachdem wir unsere wirkliche Welt zerstört haben? Bisher überließen wir uns selbstherrlich der Größenphantasie, der Mensch könnte ohne Konsequenzen tun und lassen, was er wolle.

Denn eines ist klar: Weder Corona, noch die Klimakatastrophe kann von einzelnen Menschen oder Staaten, auch nicht von „künstlicher Intelligenz“ bewältigt werden. Wir müssen unsere menschliche Intelligenz entwickeln und unsere eigene intelligente, kreative, mitmenschliche Stimme erheben. Wird sich Destruktivität oder Kreativität und Mitmenschlichkeit durchsetzen? Der Mensch ist das einzige Wesen, das zu beidem fähig ist und das sich entscheiden muss. Wie auch immer wir uns entscheiden, bewusst oder unbewusst, wissend oder unwissend – wir haben die Verantwortung. ■

Foto von Carola Hesse-MarxCarola Hesse-Marx ist seit 1999 approbierte analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin sowie Gruppenpsychotherapeutin in eigener Praxis in München. Sie ist Dozentin und Supervisorin in verschiedenen Ausbildungsinstituten. Schwerpunkt ihrer psychoanalytischen Arbeit ist die Erforschung der Entwicklung der menschlichen Identität als Ich- und Selbstentwicklung sowie die Erforschung und Behandlung der misslungenen psychischen Ichentwicklung bei schweren narzisstischen und psychotischen Störungen.

Im Mai erscheint ihr Beitrag Kein Ort. Nirgends. Schizophrenie – der Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt (Zeitschrift für Psychotherapie 2020, Bd. 25, Psychosozial Verlag). Zuvor: Zur Entwicklung eines Destruktiven Narzissmus (Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie Nr. 177, 2018, Brandes & Apsel).

Mehr dazu: