Menschenwürdiger Wohnraum – Das Mietshäuser Syndikat | Interview mit York Runte, Günter Bergmann und Jan Bleckert

Wandschriftzug: "Die Mieten sind zu hoch"Foto: Jon Tyson | unsplash

 

Menschenwürdiger Wohnraum – Das Mietshäuser Syndikat

Die „Mietenkrise“ gehört hierzulande zu den drängendsten Ausprägungen der multiplen Krise der Gegenwart. Das zeigte im letzten Jahr der große Erfolg der Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen in Berlin. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP will sich mit 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr aus dieser Krise herausbauen – reicht das aus, um die Krise zu lösen?

„Häuser kollektiv aneignen“: Einen Ansatz, bezahlbares und selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen, stellt das 1992 von ehemaligen Hausbesetzer*innen in Freiburg gegründete Mietshäuser Syndikat dar. Das Haus soll dem Kollektiv der Mieter*innen gehören. Sie sollen ihr Hausprojekt als Kollektiv gestalten, sie sollen es aber nicht irgendwann wieder auf den Markt werfen können – das Syndikat kann das sperren. Längst wird das Syndikat über kleine aktivistische Kreise hinaus wahrgenommen und ist enorm gewachsen. Auf seiner Seite werden 171 bestehende Hausprojekte und 15 Initiativen gelistet.

NACHGEFRAGT BEI YORK RUNTE, GÜNTER BERGMANN UND JAN BLECKERT VOM MIETSHÄUSER SYNDIKAT:

Das Modell des Mietshäuser Syndikats hat in den letzten Jahren großen Zulauf bekommen. Was ist das Besondere an dem Modell?

Ganz einfach: menschenwürdiger Wohnraum, das Dach über’m Kopf, für alle – ist der Leitgedanke des Mietshäuser Syndikats und hat in Zeiten grassierender Immobilienspekulation und Renditemaximierung erheblich an Bedeutung gewonnen. Um der Verwertungslogik eine Alternative entgegensetzen, greifen Gruppen auf unser Modell zurück, die ein Wohnprojekt verwirklichen wollen. Mit den Säulen „Selbstverwaltung – Unverkäuflichkeit – Solidarität“ bietet das Syndikat den ideologischen Überbau für mittlerweile über 170 Wohnprojekte in Deutschland.

Herzstück unseres Ansatzes ist ein Rechtskonstrukt: In jedem Projekt sind die Bewohner*innen in einem Hausverein organisiert, regeln über diesen das gemeinsame Zusammenleben und treffen die wesentlichen Entscheidungen. Der Hausverein gründet als einer von zwei Gesellschaftern mit dem Mietshäuser Syndikat eine Haus-GmbH, die Eigentümerin der Immobilie ist. Die Satzung der GmbH enthält eine asymmetrische Stimmverteilung der beiden Gesellschafter: Dem Syndikat wird als einer Art Wächterorganisation lediglich in eigentumsrechtlichen Fragen ein Stimmrecht eingeräumt. Dadurch hat es keinen Einfluss auf den Alltag des Wohnprojekts und tritt nur bei einer wirtschaftlichen Verwertung der Immobilie in Erscheinung – so soll die Immobilie auf Dauer dem Markt entzogen werden.

Ein weiterer sehr wichtiger Bestandteil des Modells ist der Solidartransfer. Dieser Transfer findet zwischen den Projekten sowohl materiell (meistens in Form von Geld, aber auch in Form von Sachspenden und Arbeitskraft) als auch immateriell in Form von Erfahrungen statt.

Der Ansatz des Mietshäuser Syndikats

Oft hört man das Argument, das Einzige, was gegen explodierende Mieten und Wohnungsmangel helfe, sei bauen. Schließen Sie sich dem an?

Diese Sichtweise greift zu kurz und hat mit Blick auf die endlichen Ressourcen einen begrenzten Wirkungszeitraum. Man muss nach den eigentlichen Treibern der hohen Mietpreise suchen. Was macht das Mieten so teuer?

Es ist durch den Wegfall der Wohngemeinnützigkeit, den Verkauf von kommunalen Wohnungsbeständen, den Wegfall der Sozialbindung ohne entsprechenden Nachbau und die Finanzialisierung des Wohnungsmarktes zu einem starken Mangel an bezahlbarem Wohnraum gekommen. Das Bauen ist an der effektivsten Renditemöglichkeit ausgerichtet. Dadurch ist das Gebaute oft teuer, hochpreisig und losgelöst von konkreten Wohnbedürfnissen und Notlagen der Mehrheit der Wohnungssuchenden. Ein weiterer Treiber ist die Spekulation mit Bodenwertsteigerungen. Es ist traurig, dass das Allgemeingut Boden zur unbezahlbaren Ware wird und gleichzeitig das Bedürfnis nach Wohnraum zur Umverteilung von Arm nach Reich führt.

Dem gilt es, Einhalt zu gebieten, und stärker auf die vorhandenen Ressourcen zu achten. So muss zum Beispiel der Wohnungsbestand in alle diesbezüglichen Planungen einbezogen werden, da der Bestand den aktuell bezahlbaren Wohnraum darstellt. Für günstigere Mieten muss das Bauen sowie das Umbauen wieder einfacher werden. Die Architects for Future haben zum Beispiel eine neue „Umbauordnung“ vorgeschlagen, um bezahlbaren Wohnraum in großflächigem Maßstab zu erhalten und auszubauen. Das Mietshäuser Syndikat unterstützt diesen Ansatz.

 

Der Grundansatz des Mietshäuser Syndikats ist es, dem Markt Häuser zu entziehen. Warum ist das notwendig?

Das ist notwendig, um dauerhaft weitere Spekulation zu verhindern. Es ist dem Kapitalismus immanent, alles als handelbare Ware zu nutzen. Das geht mit nicht vermehrbaren Gütern wie Luft, Wasser und Boden jedoch nicht. Darum braucht es Instrumente, welche die Verwandlung von allem in Ware unterbinden.

Öffentlicher Grund sollte nicht mehr verkauft werden. Der Boden sollte in Erbpacht mit entsprechenden Konzepten und zu einem niedrigen Zins vergeben werden, der die Schaffung von bezahlbaren Mietpreisen zulässt. Es bedarf einer Debatte über die Vergesellschaftung von Grund und Boden. Bis dahin, sollten Gewinne aus der Bodenwertsteigerung zu 99 Prozent als Abgabe an die Gesellschaft abgeführt werden. Der gesellschaftliche Nutzen sollte im Fokus stehen, nicht die Rendite. Der Grundsatz „Eigentum verpflichtet“ würde dann endlich wirksam.

Dieser gesellschaftlichen Debatte greift das Modell des Mietshäuser Syndikats mit dem Vetorecht bei Veräußerung vorweg. Mit jedem neuen Projekt verfestigt sich diese Vetomacht und der Diskurs wird weiter in die Gesellschaft getragen. Notwendig wurde dieses Vetorecht, da sogar die Genossenschaften nicht resistent gegen die Verwertungslogiken und die Bodenspekulationen waren.

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Die Mitglieder der Hausvereine bleiben Mieter*innen und werden nicht zu Eigentümer*innen. Ist Eigentum das Problem?

Vor allem Privateigentum ist ein Problem. In Deutschland ist das Eigentumsrecht ein uneingeschränktes Recht. Das Syndikatsmodell spaltet dieses uneingeschränkte Eigentumsrecht an der Immobilie auf in die Verfügung über ihren Gebrauchswert und ihren Kapitalwert. Die Bewohner*innen haben ein uneingeschränktes Verfügungsrecht über den Gebrauchswert der Immobilie. In diesem Punkt unterscheiden sich die Syndikatsprojekte im gelebten Alltag nicht von einem kollektiv organisierten Wohnprojekt mit einer anderen Rechtsform.

Das Verfügungsrecht über den Kapitalwert der Immobilie wird den Bewohner*innen jedoch entzogen. Erfahrungen haben gezeigt, dass sich auch die kollektiven Rechtsformen (etwa Genossenschaften) anpassen, um im kapitalistischen Markt bestehen zu können. Wenn Wohnraum dauerhaft einer kapitalistischen Verwertung entzogen werden soll, dann braucht es ein dauerhaftes Vetorecht einer Wächterorganisation, wie es das Syndikatsmodell vorsieht.

Das Vetorecht kann auch in einem größeren Maßstab unter Beteiligung der Mieter*innen, zum Beispiel in kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, angedacht werden. Damit wäre einer Veräußerung der großen kommunalen Wohnungsbestände, wie in den letzten 20 Jahren geschehen, ein effektiver Riegel vorgeschoben.

 

Zu viele Auflagen würden das Bauen verzögern und verteuern. Im Mietshäuser Syndikat organisierte Hausvereine sind auch Bauträger*innen – teilen Sie diese Beschwerde? Braucht es weniger Auflagen oder sind andere nötig? In welcher Rolle sehen Sie den Staat/die öffentliche Hand?

Die Priorität muss aus unserer Sicht auf bezahlbaren Mieten liegen. Dies kann zum Beispiel damit erreicht werden, dass Kommunen für Wohnbauflächen eine Quote von 50 Prozent für bezahlbaren Wohnraum festsetzen, mit einer sehr langfristigen Bindung sowie durch eine deutliche Erhöhung der Förderung dafür. Auch muss energetisch hochwertig gebaut werden, damit die Warmmieten langfristig günstig bleiben. Von beiden Punkten sind wir leider noch weit entfernt.

Die erwähnte neue Umbauordnung enthält gute Ansätze für pragmatische und gleichzeitig fundierte Lösungen in Fragen der Bauplanung und Genehmigung. Es bedarf größerer gedanklicher Flexibilität des Gesetzgebers, der öffentlichen Verwaltungen, aber auch in der Gesellschaft, weit über das Eigenheimdenken hinaus. Das Bauen muss ganzheitlicher gedacht werden, um nachhaltige Lösungen zu schaffen. Dafür liegen sehr gute Vorschläge auf dem Tisch. So sollten zum Beispiel Clusterwohnungen, eine Mischung aus privatem und gemeinschaftlichem Wohnen, deutlich mehr in die Förderungen einfließen, denn durch sie kann bezahlbarer Wohnraum realisiert werden und sie beinhalten für alle Lebenslagen mögliche (Wohn)Antworten.

 

Verstehen Sie Ihren Ansatz, die Hausvereine nicht nur in die Lage zu versetzen, die Häuser zu erwerben, sondern sie auch zu verwalten und zu gestalten, als einen Beitrag zur Thematik, wer den Lebensraum Stadt gestaltet?

Natürlich. Die Projekte beteiligen sich aktiv an den Stadtentwicklungsprozessen in ihrem Viertel und in den Stadt- und Gemeinderäten. Dabei kämpfen sie mit anderen gemeinwohlorientierten Gruppen zusammen für mehr bezahlbaren Wohnraum. Leider realisieren die Kommunen und Länder den sozialen Wohnungsbau kaum noch. Daher fordert das Mietshäuser Syndikat bessere Rahmenbedingungen und höhere Förderung für die Ansätze, bezahlbaren Wohnraum in Selbstorganisation zu schaffen. Dies geschieht in einigen Bundesländern bereits, wie zum Beispiel in Hamburg mit der Aufnahme des Syndikats in die Landeswohnraumförderprogramme, in München mit der Gleichsetzung des Syndikats mit Genossenschaften in Fragen der Förderung oder in Baden-Württemberg mit der Zusicherung der Unterstützung von Projekten im Koalitionsvertrag. Das kann aber nur ein Anfang sein.

Neben den Projekten wirken auch die regionalen Anlaufstellen des Syndikats in wohnungspolitischen Debatten auf unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Ebenen mit. Dies reicht von der Teilnahme an Veranstaltungen bis hin zur Mitgestaltung von Bundesgesetzen, wie dem Kleinanlegerschutzgesetz.

Allen Beteiligten des Mietshäuser Syndikats ist klar, dass es ohne eine öffentliche Diskussion keine Veränderung geben wird. Aus unseren Reihen wird immer wieder die Frage: „Wem gehört die Stadt?“ gestellt und mit den Verantwortlichen darüber gestritten werden. In diesem Sinne: Paläste für alle!

Vielen Dank für das Gespräch.

Dieser Beitrag ist in agora42 2/2022 RESILIENZ in der Rubrik LAND IN SICHT erschienen.

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