Neues versuchen statt Altes vermessen | Ein Gespräch über business as unusual | Lars Hochmann & Sebastian Möller

Illustration: Zeichnung von Lars Hochmann und Sebastian MöllerIllustration: DMBO – Studio für gestaltung


Neues versuchen statt Altes vermessen

Ein Gespräch über business as unusual

Text: Lars Hochmann und Sebastian Möller | online veröffentlicht am 30.05.2024

Die katastrophalen Folgen des Klimawandels werden immer spürbarer, die viel beschworene sozial-ökologische Transformation scheint auf sich warten zu lassen. Wer kann wo was ändern? Wo sind die Hebel? Der Wirtschaftswissenschaftler Lars Hochmann und der Politikwissenschaftler Sebastian Möller haben in Organisationen hacken mögliche Tore der Transforamtion markiert. Für Ausgabe 2/2024 von agora42 haben sie sich darüber unterhalten.

Lars: In einer vermessenen Welt scheint alles an seinen Platz gestellt – eindeutig, eingehegt und eingeordnet. Nichts, wofür es keinen Standardprozess, kein geordnetes Verfahren gibt. Sag mal, Sebastian, glaubst du eigentlich daran, dass der jetzt notwendige Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft auf dem Dienstweg gelingt?

Sebastian: Nein, ich glaube, die Probleme sind zu groß und dringlich für den Dienst nach Vorschrift und business as usual. Dieser Modus hat gerade diejenigen Krisen mitverursacht, die wir jetzt unter großem Druck und in kurzer Zeit bearbeiten müssen. Das Gleiche wie bisher zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, ist wenig plausibel. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass viele etablierte Regeln und Routinen uns in Sackgassen führen. Wir verlieren wertvolle Zeit, kreative Energie und ungeahnte Gestaltungsgelegenheiten, wenn wir unreflektiert an Konventionen festhalten.

Lars: Die Krisen der Gegenwart sind auch deshalb so hartnäckig, weil sie uns nicht einfach widerfahren. Wir organisieren sie. Organisationen organisieren die Gesellschaft – und die korrespondierenden Probleme gleich mit. Mit unseren Organisationen ist etwas grundlegend nicht in Ordnung. Wie wir uns versorgen mit alledem, was zu einem gelingen könnenden Leben scheinbar dazugehört, schadet den Menschen innerhalb und außerhalb dieser Organisationen. Die Freiheits- und Lustgewinne bleiben unbenommen. Wir reden jedoch nicht über Nebenwirkungen einer ansonsten intakten Wirtschaft. Wir reden über organisierte Schadschöpfung.

Sebastian: Damit hast du leider Recht, und wahrscheinlich ist den meisten doch längst klar, dass wir nicht mehr lange so weiter machen können wie bisher. Wir überschreiten eine planetare Grenze nach der anderen. Die Temperaturrekorde des letzten Jahres zeigen, dass der Klimawandel sich bedrohlich beschleunigt. Unsere Ernährungssysteme schaden den Ökosystemen, dem Klima, den Landwirt*innen und uns Konsument*innen – also fast allen Beteiligten. Überall macht sich Erschöpfung breit und Fachkräftemangel bemerkbar und unsere Schulen und Hochschulen bereiten junge Menschen nicht gut auf die komplexen Zukunftsaufgaben vor, die wir besser Gegenwartsaufgaben nennen sollten. Die Liste lässt sich problemlos erweitern. Die Zeit für Wandel drängt.

Lars: Dann sind da noch Kriege, Armut und globale Ungerechtigkeiten noch und nöcher. Zweifellos drängt die Zeit. Doch wann war das je anders? Ich denke da an Walter Benjamins Überlegungen zum Begriff der Geschichte. Der Ausnahmezustand, in dem wir leben, sei die Regel, hat er dort notiert. Kopfloser Aktionismus ist für mich keine befriedigende Reaktion.

Sebastian: Irgendwie glaubt vermutlich jede Generation, dass sie vor ganz besonders komplexen Herausforderungen steht. Geschenkt! Bei dem abstrakten Begriff der sozial-ökologischen Transformation denken wir oftmals an die Makroebene, also unsere Produktionsweise und ihre politische Regulierung. Dadurch erscheint die Transformation als etwas, das andere entscheiden und gestalten – und den meisten Menschen bloß widerfährt. Die Gefahr liegt darin, dass wir zwar zu wissen meinen, was geschehen müsste, aber im Lamentieren darüber, dass es nicht geschieht, verharren. Das ist fast schon das Gegenteil von kopflosem Aktionismus, und ich möchte mich davon selbst auch gar nicht freisprechen. Mein Gefühl sagt mir: So kommen wir nicht in eine Gestaltung des Wandels. Wir brauchen nicht die eine große Transformation, sondern viele mittlere und kleine Transformationen in vielen verschiedenen Organisationen. Dafür gibt es kein Rezeptbuch. Wir werden den unterschiedlichen Herausforderungen in ihren Kontexten mit einer fragenden Haltung und experimenteller Vielfalt besser gerecht als mit steuerungsbesessener Einfalt und indikatorengestützter Monokultur. Sozial-ökologische Transformationen brauchen beides: neues und plurales Denken sowie neue und vielfältige Praxis. Ich glaube, dass sich beides gegenseitig ermöglicht und verstärkt.

Lars: Zweifellos; erneut denke ich an Walter Benjamin und sein Plädoyer, dass wir einen anderen Begriff der Geschichte brauchen. Die Denkfigur statistischer Trends vernebelt das Andersmöglichsein. Nach wie vor verbinden wir mit Geschichte rückwärtsgewandt eine Aneinanderreihung von Krisen, Kriegen und Trümmern, all die Miseren, die uns dahin geführt haben, wo wir heute stehen.

Sebastian: Obwohl wir in einer Welt der Kennzahlen und Indikatoren leben, die vermeintlich für Transparenz und permanente Optimierung sorgen, kommt die Gegenwart in unseren Debatten und in unserer Wahrnehmung erstaunlich oft unter die Räder. Key Perfomance Indicators und dergleichen messen schließlich nur das bereits Bekannte und Vorgesehene. Sie können Neues und anderes nicht sichtbar machen. Genau darum geht es aber bei den sozial-ökologischen Transformationen.

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Lars: Was wäre, wenn wir Geschichte nicht retrospektiv, sondern prospektiv begreifen würden? Geschichte nicht als Kette von Kennzahlen der Vergangenheit, die im Anschein objektiver Archivierung daherkommt, sondern als ein Fabrikat des gegenwärtigen Ideenreichtums. Geschichte als etwas, das im Hier und Jetzt entworfen wird. Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft würde unscharf werden. Wir würden uns wieder als aktive, als involvierte, als einen Unterschied machen könnende Subjekte zurück ins Spiel bringen. Wir wären Autor*innen unserer Geschichte, nicht bloß Lesarten zukünftiger Generationen. Um das von dir genannte Ensemble kleinerer und größerer Transformatiönchen zu Wege zu bringen, bräuchten wir in Organisationen Räume für die Erfahrung und die zukunftsgerichtete Reflexion der Erfahrung, dass wir auch anders arbeiten, wirtschaften, leben können. Wo könnten diese Bedingungen und Kontexte herkommen?

Sebastian: Was heißt, wo können die herkommen? Die sind an vielen Stellen bereits im Gange. In vielen Organisationen gibt es kreative und innovative Kräfte, also den gegenwärtigen Ideenreichtum, von dem du sprichst. Oft schlummern sie noch unter Schichten von Alltagsroutinen und zahlengesteuerter Konformität. Oft genug werden aber im Hier und Jetzt erfolgreich Einfallstore für Gestaltung und dahinterliegende Möglichkeitsräume gefunden. Sie öffnen sich selten auf dem Dienstweg, sondern liegen gewissermaßen am Wegesrand oder auf weiter Flur. Um sie zu finden, braucht es Mut, Optimismus und Spürsinn; um sie zu nutzen, gemeinschaftliche Selbstermächtigung und Selbstbefähigung. Wichtige Hebel dafür sind eine lernende, reflektierende und pragmatische Haltung sowie ein starker Gemeinschaftssinn.

Lars: Kennzahlen können helfen, doch KPI-Huberei ist im doppelten Wortsinn vermessen. Jetzt ist die Zeit derer gekommen, die institutionelle Regeln mit den Betroffenen von innen heraus reformulieren, sich also wieder als Geschichtsschreiber*innen zurück ins Spiel bringen. Wenn das nicht nach Vorschrift gelingt oder der Marsch durch die Institution Veränderungen nicht oder nur zu langsam vorsieht, dann müssen wir wohl oder übel lernen, die Regeln zu brechen, die anderes, andere und uns selbst kaputt machen. Die gute Nachricht ist: Innovation bedeutet so oder so einen Regelbruch. Wer Fortschritt will, muss der eigenen Unzufriedenheit Ausdruck verleihen und unsere gesellschaftlichen Organisationen ordentlich durcheinanderrütteln. Institutional hacking ist der future skill der Stunde. Das braucht zuvorderst eine feine Wahrnehmung: Welche Konventionen stehen dem Wandel im Wege? Wo lassen sich Regeln ersetzen, versetzen oder neu setzen beziehungsweise Grenzen ausreizen, dehnen, stauchen oder verbiegen?

Sebastian: Das hängt vom jeweiligen Kontext ab. Vielen Menschen fallen bestimmt ein paar Regeln und Routinen ein, die einer nachhaltigen Arbeitswelt ihrer Ansicht nach eher im Weg stehen. Die Frage ist nun: Wie schaffen wir sie aus dem Weg? Manchmal sind das kleine Eingriffe, wie die Veränderung von Arbeits- und Lernräumen, um kokreative Prozesse zu fördern oder die Verbesserung von zähen Meetings. Interessanterweise führen oft schon kleine Veränderungen zu tiefgreifendem Wandel und setzen neue kreative Energien frei. Neues gemeinsam mit Verbündeten ausprobieren und umsetzen, ohne vorher eine Genehmigung „von oben“ einzuholen, darum geht’s! Manchmal müssen aber auch dickere Bretter gebohrt werden, zum Beispiel Entscheidungsstrukturen, Vergütungs- und Finanzierungssysteme, Arbeitszeitmodelle und Rechtsformen oder gar fehlende sozioökonomische Infrastrukturen. Hier können neue Organisationen helfen, die die Dinge einfach anders machen und damit der Schadschöpfung Alternativen gegenüberstellen. Im Ergebnis werden dann die etablierten Regeln begründungspflichtig – und nicht mehr ihr Bruch.

Lars: Beweislastumkehr – nicht die nachhaltige Praxis muss jeden Handgriff rechtfertigen, sondern diejenigen müssen das tun, die an der destruktiven Praxis festhalten. So kommt Leben in die Transformation! ■

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 2/2024 zum Thema WAS ZÄHLT? in der Rubrik LAND IN SICHT erschienen.
Lars Hochmann und Sebastian Möller sind Herausgeber des Gesprächsbandes Organisationen hacken. Einfallstore in eine nachhaltige Arbeitswelt, der im oekom-Verlag im open access erschienen ist und unter www.organisationen-hacken.de heruntergeladen werden kann. In 23 Gesprächen mit Organisationshacker*innen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft erkundet das Buch unkonventionelle und subversive Tore zur Transformation.
Cover des Buches "Organisationen hacken" von Lars Hochmann und Sebastian Möller

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