New Work und (Verantwortungs-)Eigentum hinterfragt: Die versteckten Interessengegensätze der Selbstverwaltung | Rupay Dahm

"Change is Coming" – PlakatFoto: Markus Spiske | unsplash

 

New Work und (Verantwortungs-)Eigentum hinterfragt: Die versteckten Interessengegensätze der Selbstverwaltung

Text: Rupay Dahm | Gastbeitrag

Was alternative Unternehmen von der Philosophie Chantal Mouffes und deutschen Gerichten lernen können.

In Zeiten unterbrochener Lieferketten und sich von Hitzewelle zu Waldbrand spürbar verschärfender Klimakrise wird die Suche nach regional verwurzelten, ressourcenschonenden Wirtschaftsweisen virulenter. So stechen in Berlin dieses Jahr gleich drei Konferenzen hervor, die nicht zuletzt das Privateigentum an Unternehmen und deren Gewinnorientierung in Frage stellen: Nach der Enteignungskonferenz im Mai findet Anfang September eine Konferenz zum sogenannten „Verantwortungseigentum“ und im Oktober der Vergesellschaftungskongress in Berlin statt.

Zu den Eigentumsdebatten kommt hinzu, dass viele Menschen im Lockdown begannen, die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit in Frage zu stellen und sich das wünschten, was die „Generation Y“, also die heute 25- bis 40-Jährigen, schon seit langem fordert: sinnvolle Jobs, mit denen man Gutes bewirkt und sich nicht an einer starren Hierarchie die Zähne ausbeißt. Nicht ohne Grund gehören Bücher über alternative Unternehmensansätze unter dem Stichwort „New Work“ zu den Bestsellern unserer Zeit, etwa Frederic Laloux’s Reinventing Organisations. Auch Mitsprache in selbstorganisierten Teams, demokratische Selbstorganisationskonzepte wie Soziokratie oder Scrum sind gefühlt in aller Munde.

Immer häufiger richtet sich der Blick dabei auch auf genossenschaftliche Alternativen, nicht nur auf dem Wohnungsmarkt. Durch ihre lokale Verwurzelung sind Genossenschaften auf Stabilität und die Bedürfnisbefriedigung ihrer Mitglieder ausgerichtet, nicht auf das maximale Wachstum des Shareholder-Value. Das hat wesentlich dazu beigetragen, dass z.B. Volksbanken oder der spanische Mondragón-Genossenschaftsverbund die vergangenen Wirtschaftskrisen besser bewältigt haben, als börsennotierte Unternehmen der gleichen Branche. Für viele sind die Mondragón-Genossenschaften derweil zu einem leuchtenden Vorbild avanciert: der Verbund aus zahlreichen mitarbeitergeführten Genossenschaften von der Automobilindustrie bis zur Supermarktkette ist das siebtgrößte Unternehmen Spaniens.

Auch in Deutschland setzen immer mehr Unternehmen auf Stabilität statt auf Wachstum. Nicht nur in den Diskussionen um wachstumsunabhängiges Wirtschaften, Rekommunalisierung privatisierter Strom- und Wasserversorgung sowie bezahlbaren Wohnraum spielt die Genossenschaft eine wichtige Rolle. Auch für immer mehr mittelständische Familienunternehmen ist die Genossenschaft eine Option zur Regelung einer nachhaltigen Unternehmensnachfolge geworden. Genossenschaften werden im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition explizit genannt und auch das Land Berlin fördert sogenannte „solidarische Unternehmen“.

Mitgestaltung durch betriebliche Mitbestimmung

Das, was New Work im Arbeitsalltag verspricht – Mitgestaltungsrechte für einen nachhaltigen Zweck – realisiert der Genossenschaftsgedanke auf Ebene der Eigentumsgestaltung. Das wird deutlich am Beispiel des mitarbeitergeführten Krankenhauses Spremberg in Brandenburg, das zwar rechtlich keine Genossenschaft ist, jedoch mehrheitlich der Belegschaft sowie der Gemeinde gehört. Das führte nicht nur dazu, dass sich die Belegschaft für geringere Lohnunterschiede entschied (Chefärzt*innen bekommen weniger als in anderen Häusern), sondern auch generell für einen etwas niedrigeren Tariflohn, um damit einen besserer Betreuungsschlüssel zu finanzieren. Pro Patient*in arbeitet dort also mehr Personal als in anderen Krankenhäusern, was zu zufriedeneren, weil besser versorgten Patient*innen und zu zufriedeneren, weil weniger gestressten Mitarbeiter*innen führt. Dies ist ein direktes Resultat der demokratischen Eigentumsgestaltung, die einen Gegenentwurf sowohl zu privatisierten als auch zu staatlichen Krankenhäusern darstellt: Es geht nicht darum, dass Belegschaften ihre Löhne kürzen sollen, um einen besseren Personalschlüssel zu finanzieren, sondern darum, dass sie derartige Entscheidungen überhaupt treffen können.

Ein Grundprinzip von Privateigentum ist, dass die Eigentümer*in es veräußern kann. Das versucht die Purpose-Stiftung zu verhindern, indem sie Anteile mit Vetorecht an Unternehmen wie Ecosia, dem Kondom-Hersteller Einhorn oder dem alternativen Mobilfunkanbieter WeTell hält. Dadurch sollen die Unternehmen nicht mehr verkäuflich sein, sondern „sich selbst gehören“ in „gebundenem Vermögen“. Gewinne sollen ausschließlich ins Unternehmen fließen, statt in die Hände externer Investor*innen. Eigentum unverkäuflich zu gestalten und damit der Spekulation zu entziehen ist schon seit Jahrzehnten das Ziel etwa der Stiftung Trias oder des Mietshäuser Syndikats, wenn es um Wohnraum geht. Der Gesetzesentwurf der Purpose-Stiftung für eine neue Rechtsform mit „gebundenem Vermögen“ wurde bereits zwischen Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner diskutiert. Tatsächlich gehören die Unternehmen aber  nicht sich selbst (das ist nur bei Stiftungen der Fall), sondern den Gründer*innen. Auch sagt das „gebundene Vermögen“ noch nichts über die Mitbestimmung der Belegschaft aus. Und dies ist ein Knackpunkt bei der nachhaltigen Gestaltung von Unternehmen. Denn kaum jemand hat ein größeres Interesse an Stabilität und Wohlergehen des Betriebes als diejenigen, deren Lebensunterhalt davon abhängt.

Bei allen New Work- und „Purpose“-Konzepten wird bisher selten eine erweiterte Mitbestimmung diskutiert. Dabei liefert insbesondere die Montanmitbestimmung ein fantastisches Beispiel: 1951 wurde in der Bundesrepublik die Mitbestimmung der Arbeitnehmerseite in den Unternehmen des Bergbaus sowie der eisen- und stahlerzeugenden Industrie eingeführt, um Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu vermeiden und eine besondere Art von Nachhaltigkeit zu garantieren. Hintergrund dieser Regelung war die Rolle der deutschen Schwerindustrie im Zweiten Weltkrieg. Dadurch, dass Vertreter*innen von Belegschaft und Gewerkschaften paritätisch in Aufsichtsräten und Vorständen mitentscheiden, sollten weitere Kriege verhindert werden. Auf der Suche nach nachhaltigen Wirtschaftsweisen ist das etwas altbacken klingende Montanmitbestimmungsgesetz erstaunlich aktuell.

Wenn ein Unternehmen nun demokratisch organisiert ist, braucht man dann überhaupt noch Gewerkschaften im Betrieb? Gegen wen soll man streiken, gegen die eigene Vollversammlung? Wozu braucht man noch einen Betriebsrat, wenn man die Führung einfach abwählen kann?

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Unauflösliche Interessengegensätze

Auch Volksbanken sind Genossenschaften. Die Mitarbeiter*innen haben aber grundsätzlich nichts zu sagen, weil sie, auch wenn sie Mitglieder sind, eine verschwindende Minderzahl darstellen. Daher sind hier Betriebsräte und Gewerkschaften keinesfalls fehl am Platz. In Berlin-Wedding will eine neue Supermarktgenossenschaft eine Alternative zum nicht nachhaltigen Lebensmittelhandel schaffen. Prinzipiell ist das eine klassische Konsumgenossenschaft, in der die Kund*innen das Sagen haben, nicht die Mitarbeitenden. Im Internet findet man harte gewerkschaftliche Kritik an Supermarktgenossenschaften in den USA: die Mitarbeiter*innen würden unter dem Deckmantel von Nachhaltigkeit noch schlimmer ausgebeutet als woanders. Hier zeigt sich ein Interessenkonflikt, wo man ihn nicht unbedingt erwartet.

Tatsächlich bestehen selbst in einer optimal demokratischen Arbeiter*innengenossenschaft Interessengegensätze fort, allen voran jener zwischen Wirtschaftlichkeit einerseits und guten Arbeitsbedingungen andererseits. Die Mitarbeiter*innen wählen zwar eine Geschäftsführung, die beides gleichermaßen im Blick haben soll. Wenn ein und dieselbe Person aber dauerhaft zwei gegensätzliche Positionen vertreten soll, funktioniert das selten gut. Genau deswegen gibt es im Strafrecht nicht nur neutrale Richter*innen, sondern auch Verteidigung und Anklage. Zwar wirkt es manchmal wie im Theater, wenn die Staatsanwaltschaft auf lebenslang und die Verteidigung auf Freispruch plädiert. Die Inszenierung der Interessengegensätze veranschaulicht aber, die unterschiedlichen Perspektiven im Spannungsfeld eines unauflösbaren Interessengegensatzes und ermöglicht dadurch ein fair ausgehandeltes Ergebnis.

Aus Verbraucherschutzperspektive besteht, insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge, die Befürchtung, in mitarbeitergeführten Unternehmen könnten die Verbraucher*innen zu kurz kommen: Entscheidet die Belegschaft eines selbstverwalteten Wasserwerks selbst über ihre Löhne, könnte das die Kosten für Verbraucher*innen erhöhen. Auch wenn der Lohnverzicht der Mitarbeiter*innen im Krankenhaus Spremberg zeigt, dass die Belegschaft durchaus das Wohl der Patient*innen im Blick hat, offenbart sich hier wieder der gleiche Interessenkonflikt, wie in der Supermarktgenossenschaft. Wer hat das letzte Wort bei der Entscheidung über Löhne und die Preise: die mitarbeitenden Genossenschaftsmitglieder oder die Kund*innen?

Interessengegensätze bestehen in demokratischen Betrieben immer auch zwischen Individuum und Kollektiv. Ausgehend vom Modell des homo oeconomicus, will jede Person, dass die anderen möglichst produktiv sind und selbst möglichst wenig arbeiten. Auch wenn Genossenschaftsmitglieder kooperative Werte verinnerlicht haben, kann es dennoch zu Konflikten kommen: Das Kollektiv will, dass Kund*innen auch samstags bedient werden, ich aber möchte das Wochenende frei haben. Beide Positionen sind völlig legitim, aber gegensätzlich. Im mitarbeitergeführten Unternehmen kann sich der Konflikt dadurch verschärfen, dass ich meinen Antrag auf Sonderurlaub nicht nur mit meiner Vorgesetzten klären muss, sondern das gesamte Plenum darüber entscheidet. Eine Person muss sich gegenüber allen anderen durchsetzen. Vielleicht wäre ein Betriebsrat doch nicht so schlecht?

Wie kann dieser Interessengegensatz aufgelöst werden? Gar nicht. Er kann nur vertuscht oder auf unterschiedliche Weisen ausgehandelt werden. So gehört das mitarbeitergeführte Krankenhaus Spremberg zur Hälfte der Kommune: diese vertritt gegenüber der Belegschaft die Interessen der Region und der Patient*innen. Die taz-Genossenschaft wiederum gehört zwar tausenden Leser*innen, die wenigen Dutzend Mitarbeiter*innen gegenüber stehen. Die Leser*innen/Mitglieder haben aber wenig zu sagen, weil der Vorstand laut Satzung mehrheitlich von der Mitarbeiterversammlung gewählt wird, ein ausgeklügeltes System der Machtbalance. In Berlin-Wedding wiederum müssen alle Mitglieder/Kund*innen der Supermarktgenossenschaft ab und an Arbeitsschichten übernehmen und erfahren dadurch die Arbeitsbedingungen am eigenen Leibe.

Gegenspieler*innen, keine Feind*innen

Interessengegensätze können nicht im herrschaftsfreien Diskurs aufgelöst werden, sagt auch die Philosophin Chantal Mouffe. Stattdessen müssen sie in temporären Kompromissen immer wieder neu ausgehandelt werden. Das setzt voraus, dass sich die gegensätzlichen Positionen gegenseitig respektieren, wie gegnerische Fußballteams, oder wie Verteidigung und Anklage. Das spricht für einen austarierten institutionalisierten Dualismus: Also doch Betriebsräte und Gewerkschaftsgruppen in der Genossenschaft? Macht es wirklich Sinn zwei Gremien zu wählen, die sich dann in einem künstlichen Rollenspiel gegenüberstehen? Klingt experimentell, gibt es aber schon lange, wo man es nicht unbedingt erwartet: an den deutschen Gerichten, die, zur Gewährleistung einer unabhängigen Justiz, selbstorganisiert sind. Die Richter*innen wählen einerseits ihr eigenes Präsidium, welches die Arbeitgeberfunktionen wahrnimmt und Richter*innen z.B. in eine andere Kammer versetzen kann. Gleichzeitig wählen sie einen „Richterrat“, der die Rolle des Betriebsrats wahrnimmt, und zum Beispiel die betroffene Richterin vor einer unfairen Versetzung schützen kann.

Auch in der agilen Selbstorganisationsmethode Scrum gibt es zwei einander gegenüberstehende Rollen: die product owner*in hat auf die Wirtschaftlichkeit und Kundenzufriedenheit zu achten, während die scrum master*in das Wohl der Teammitglieder im Blick behält. Nicht ohne Grund warnt die IG Metall in einer Broschüre davor, dass diese Rollen keinesfalls von der gleichen Person ausgeübt werden sollen oder die scrum master*in zugleich weisungsbefugte Vorgesetzte sein soll, wie es leider oft der Fall ist. Denn dann werden die Interessen der Mitarbeitenden der Wirtschaftlichkeit systemisch untergeordnet.

Auch eine Vergesellschaftung von Wohnraum, Supermärkten oder Industriebetrieben wird Konflikte nach sich ziehen, die in fair geregelten Bahnen ausgefochten werden müssen. Demokratie im Unternehmen löst viele, aber nicht alle Probleme. Interessengegensätze bleiben bestehen – sie müssen austariert und transparent ausgehandelt werden.

Rupay Dahm hat Politik und Jura studiert, forscht und schreibt über Wirtschaftsdemokratie, berät Kollektivbetriebe und Genossenschaften im Gründungsprozess, bei der Rechtsformgestaltung und Organisationsentwicklung und vertritt Arbeitnehmer*innen und Betriebsräte als Fachanwalt für Arbeitsrecht.
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