Postwachstum im Globalen Süden? Keine einfache Frage! | Lisa Habigt

Klimagerechtigkeits-ProtestFoto: Lawrence Makoona | unsplash

 

Postwachstum im Globalen Süden? Keine einfache Frage!

Text: Lisa Habigt | NELA. Next Economy Lab

Blickt man auf die Datenlage ist die Notwendigkeit einer Abkehr vom Wirtschaftswachstum im Globalen Norden unstrittig. Unsere Lebensweise lässt sich nicht mit den planetaren Grenzen vereinen und eine ausreichende Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch ist nicht in Sicht. Gleichzeitig hat beispielsweise in den USA Wirtschaftswachstum kaum noch einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit der US-Amerikaner*innen. Für den Globalen Süden stellt sich die Situation allerdings fundamental anders dar. Hier sind die Ressourcenverbräuche geringer und Wachstum kann vielfach noch das Versprechen einer Verbesserung der Lebensumstände erfüllen. Welche Relevanz können also Postwachstumsansätze im Globalen Süden entfalten? Diese Frage stellt sich insbesondere im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit, die mit ihrem neokolonialen Erbe zu kämpfen hat. Hier besteht beispielsweise die Gefahr, dass Postwachstumsansätze aus dem Globalen Norden dem Globalen Süden aufgenötigt und damit neokoloniale Strukturen reproduziert werden. Im November 2022 haben wir uns in unserem Seminar „Rethinking Development Cooperation“ der Frage gewidmet, wie Postwachstum in der Entwicklungszusammenarbeit gedacht werden kann. Dieser Artikel zeichnet die Gedanken und Erkenntnisse aus dem Seminar anhand der Argumentation der drei Redner*innen nach.

Dem kolonialen Erbe begegnen

Entwicklungszusammenarbeit zielt auch heute noch darauf ab, Geld und Expertise unter Aufsicht des Globalen Nordens in den Globalen Süden zu leiten. Damit bestimmt das Verständnis von Problemen und Lösungen aus dem Globalen Nordens die Vorgänge im Globalen Süden und es werden koloniale Strukturen reproduziert. Dabei sind wir blind für das Wissen und die Fähigkeiten der Menschen um die es geht, kritisiert die Ökonomin und Aktivistin Lebohang Liepollo Pheko. Sie zitiert hierzu ein häufig verwendetes Gleichnis aus der Entwicklungszusammenarbeit: „Gib einem Mann einen Fisch, und du nährst ihn für einen Tag, lehr einen Mann zu fischen, und du nährst ihn ein Leben lang.“ Auf den ersten Blick scheint diese Aussage universelle Zustimmung zu verdienen, doch Pheko merkt an, dass der Mann weder danach gefragt wird, ob er fischen möchte, noch ob er vielleicht schon etwas anderes kann oder andere Tätigkeiten für sinnvoller hält. Zudem wird die Möglichkeit der individuellen Versorgung durch Fischerei einfach als gegeben angenommen. Was ist aber, wenn der See oder Meeresabschnitt, den der Mann befischen würde, bereits gemeinschaftlich befischt wird und eine private Aneignung von Fischen die Versorgung der anderen Gemeinschaftsmitglieder gefährden würde?

Wir müssen uns eingestehen, dass wir mit vielen unserer Annahmen in der Entwicklungszusammenarbeit trotz guter Absichten die Perspektiven des Globalen Südens unbewusst ausblenden. Anstatt Annahmen über Probleme und Lösungen zu machen, sollten wir mehr zuhören und die Perspektiven der Menschen aus dem Globalen Süden annehmen. Dies gilt auch in Hinblick auf Postwachstum. In der Debatte dominieren – meist theoretische – Perspektiven aus dem Globalen Norden, wodurch uns viele gelebte Alternativen zum Wirtschaftswachstum im Globalen Süden, die die Arbeit der Entwicklungszusammenarbeit inspirieren können, bisher entgangen sind. Dadurch schränken wir einerseits die Breite an Lösungsmöglichkeiten ein und laufen andererseits Gefahr, erneut Perspektiven des Globalen Nordens auf den Globalen Süden zu übertragen.

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Ein Pluriversum von Alternativen

Ashish Kothari, Gründungsmitglied der Umwelt-NGO Kalpavriksh, ist es daher wichtig der großen Vielfalt an Alternativen abseits von Postwachstum und Degrowth, wie dem direktdemokratischen Swaraj-Ansatz, das ICCA Konsortium oder dem südamerikanischen buen vivir-Konzept, Sichtbarkeit zu verschaffen. Er spricht anstatt von Degrowth oder Postwachstum lieber von einen Pluriversum an Alternativen. Vor diesem Hintergrund hat er unter anderem die Global Tapestry of Alternatives mitgegründet. Möchte man in der Entwicklungszusammenarbeit das Wachstumsparadigma hinter sich lassen, muss man diese und ähnliche Initiativen fördern. Hier betont Ashish Kothari, dass es zur Verbreitung solcher Alternativen nicht darum gehen kann, diese einfach nur zu skalieren oder zu kopieren. Man muss stattdessen ihre Muster verstehen und deren Anwendbarkeit für andere Kontexte prüfen. Zu diesen Mustern zählt Ashish Kothari unter anderem Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit, Selbstverwaltung, Kooperation, Suffizienz und Rechte der Natur.

Den Fokus auf vorhandene Strukturen legen

communitycconomies.orgFür die Verbreitung dieser Muster in der Entwicklungszusammenarbeit ist es notwendig vorhandene Strukturen vor Ort zu erkennen und zu stärken, anstatt neue einführen zu wollen. Wie dies gelingen kann, weiß die Geografin Katherine Gibson. Sie kritisiert, dass der Blick der Entwicklungszusammenarbeit immer nur auf Probleme gerichtet ist. Jedes bewilligte Projekt soll mindestens einen Mangel beheben, zum Beispiel Armut bekämpfen oder den fehlenden Zugang zu Bildung beheben. Mit diesem Fokus werden die funktionierenden Strukturen vor Ort übersehen und möglicherweise durch die Eingriffe der Entwicklungszusammenarbeit auch noch beschädigt, wenn etwa aufgrund der Schaffung von formellen Arbeitsverhältnissen der durch alle Gemeinschaftsmitglieder geleisteten unentlohnten Herstellung eines Grundnahrungsmittels nicht mehr nachgegangen werden kann. Für ihre Arbeit zu alternativen Wirtschaftsformen nutzt sie daher das „asset-based community mapping“, aus dem auch die oben abgebildete Kokosnuss hervorgegangen ist. Mit Hilfe dieser Bestandsaufnahme können vorhandene, funktionierende Strukturen sichtbar gemacht werden, die typischerweise außerhalb des auf formale Arbeitsverhältnisse fokussierten Blicks der Entwicklungszusammenarbeit liegen.

Fragend schreiten wir voran

Es gibt also schon viele Ansätze alternativen Wirtschaftens und Methoden, diese sichtbar zu machen, auf denen die Entwicklungszusammenarbeit aufbauen kann. Dennoch kann kein Ansatz und keine Methode als Allheilmittel dienen. Wir müssen uns und insbesondere die Menschen aus dem Globalen Süden immer wieder fragen, inwieweit wir – auch mit guten Absichten, wie Postwachstum – koloniale Strukturen reproduzieren. ■

Das Seminar wurde organisiert von NELA. Next Economy Lab und wurde gefördert durch ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Lisa Habigt ist Nachhaltigkeitswissenschaftlerin mit besonderem Fokus auf die Reproduktion von Herrschaftsstrukturen. Sie beschäftigt sich insbesondere mit der Frage, wie dieser Reproduktion – z.B. durch alternative Ökonomien – entgegengewirkt werden kann. Sie arbeitet bei NELA – Next Economy Lab. NELA beschäftigt sich mit der Entwicklung und Umsetzung regionaler, klimafreundlicher, wachstumsunabhängiger und somit transformativer Wirtschaftsmodelle.

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