Steuer(un)gerechtigkeit | Julia Sophia Schmid

Graffito "TAX"
Foto: Jon Tyson | unsplash

 

Steuer(un)gerechtigkeit

 Text: Julia Sophia Schmid

Steuern sind laut §3 der Abgabenordnung „Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft“. Steuern sind in erster Linie also Einnahmen, die es ermöglichen sollen, staatliche Aufgaben zu finanzieren. Was aber sind staatliche Aufgaben? Wer definiert sie? Und wer bestimmt basierend darauf die Höhe von staatlichen Einnahmen und somit auch die Höhe von Steuern?

Zu diesen staatlichen Aufgaben zählen üblicherweise die Unterstützung und Bereitstellung von Bildung und Forschung, die Aufrechterhaltung der Infrastruktur oder der Ausgleich von sozialen Unterschieden. Die Frage nach den Aufgaben, die ein Staat übernehmen sollte, und damit einhergehend auch die Frage nach der Höhe der Steuern wurde in der ökonomischen Forschung tendenziell sehr eindimensional betrachtet. In diesem Feld dominierten lange neoliberale Ansichten. Der Dichotomie „Staat vs. Markt“ folgend, versehen mit den bipolaren Attributen „ineffizient vs. regelnd/gut“, schien die Lage klar: Der vermeintlich immer ineffiziente Staat sollte so viele Aufgabe wie möglich dem vermeintlich immer effizienten Markt überlassen – und entsprechend die Steuern senken.

Eine andere Perspektive auf das Thema Steuern eröffnete 2011 eine Gruppe von Wissenschaftler*innen um den französischen Ökonomen Thomas Piketty mit ihrer langjährigen Sammlung und Aufbereitung von Einkommens-, Vermögens- und Steuerdaten. Damit haben sie eine öffentlich zugängliche Datenbank erstellt, die „World Inequality Database“. Aus dieser Datensammlung wird beispielsweise Folgendes sichtbar: Im Jahr 2022 besitzen die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung rund 76 Prozent des weltweiten Vermögens, erhalten 52 Prozent des gesamten Einkommens und sind für fast die Hälfte aller CO2-Emissionen verantwortlich. Die unteren 50 Prozent der Bevölkerung des Planeten besitzt nicht mehr als 2 Prozent des globalen Vermögens. (Schaubilder 1 & 2; Quelle: https://wid.world/document/world-inequality-report-2022/) Indem sie die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute in über 30 Ländern aufzeigen, wollen die Forschenden um Piketty nicht nur einen Einblick in das Thema sich verschärfender Ungleichheit geben, sondern auch Lösungsansätze ausweisen. Einer davon sind Steuern.

Schaubilder 1 & 2

Hatten 1950 in den USA die Superreichen noch 70 Prozent ihres Einkommens an Steuern gezahlt, so zahlten sie 2018 nur noch 23 Prozent. Alle anderen Gruppen zahlen im Durchschnitt rund 28 Prozent ihres Einkommens an Steuern. 2018 haben also die 400 reichsten Menschen in den USA erstmals weniger Steuern gezahlt als die anderen 99,99 Prozent der Bevölkerung. (Schaubild 2; Quellen: https://wid.world/document/world- inequality-report-2022/ & Piketty, Saez und Zucman (2018))

Schaubild 3

Diese Entwicklung hat vor allem zwei Gründe. Zum einen wird Einkommen aus Kapital oft geringer besteuert als Einkommen aus Arbeit, das heißt Steuern auf Vermögen, Kapital und für Unternehmen sind niedriger als Steuern auf Einkommen aus Arbeit, auf Konsum oder Sozialabgaben. Zum anderen hat sich das Phänomen der Steuerflucht und der Steuervermeidung zu einer Art Sport für Reiche entwickelt. Beide Aspekte sind eng verknüpft mit der Rolle, die dem Staat nicht zuletzt von Wirtschaftswissenschaftler*innen zugeschrieben wird. Die neoliberale Politik der 1980er-Jahre brachte weltweit eine Marktgläubigkeit und das Ideal eines Minimalstaats mit sich. Das Mantra „Steuern bremsen das Wirtschaftswachstum“ beherrschte die Politik und die Forschung. Bis heute fehlt jedoch der klare empirische Nachweis des Zusammenhangs zwischen Steuersenkungen für Reiche und positiven Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung, so Thomas Piketty, Lucas Chancel, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman im World Inequality Report 2022. Mit ihren Daten belegen sie, dass die Steuersenkungen zwischen 1980 und 2020 nicht den häufig von neoliberalen Stimmen versprochenen Trickle-Down-Effekt mit sich brachten, dem zufolge der größere Reichtum der Wenigen durch deren Ausgaben und Investitionen zu den unteren finanziellen Schichten der Gesellschaft „tröpfelt“. Vielmehr zeigen sie auf, dass die Steuerentlastung für Reiche und die größere Belastung für Ärmere ein Hauptgrund für die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen weltweit sind. Dieser Trend hat sich in den letzten beiden Jahren während der Coronakrise fortgesetzt: Die weltweit rund 2700 Milliardär*innen konnten allein im Jahr 2020 ihr Vermögen stärker vermehren als in den gesamten vorherigen 14 Jahren. Im gleichen Jahr ist die globale Wirtschaftsleistung um rund 3,3 Prozent eingebrochen und mehr als 100 Millionen Menschen sind zusätzlich in Armut gestürzt. Jeder zehnte Mensch weltweit ist nun extrem armutsbetroffen. Dazu schreibt der Ökonom Marcel Fratzscher: „Es ist also nicht so, als seien die Vermögen der Hochvermögenden durch einen Boom der Weltwirtschaft gewachsen – bei dem die Mehrheit der Menschen eine Teilhabe am steigenden Wohlstand hat –, sondern trotz und auch wegen des Einbruchs der Weltwirtschaft.“ (Schaubild 4; Quelle: https://www.netzwerk- steuergerechtigkeit.de/das-steuersystem-von-saez-und-zucman-mit-einigen-ueberlegungen-fuer-deutschland/)

Schaubild 4
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Diese Entwicklungen hat die Initiative „Millionaires for Humanity“ zum Anlass genommen, die Regierungen aller Länder in einem offenen Brief aufzufordern, Superreiche endlich fair zu besteuern: „Kein Millionär hat jemals ohne Arbeit existiert. Es ist an der Zeit, dass wir genauso besteuert werden wie die Arbeitnehmer. (…) Wir schulden den Menschen, die in diesem globalen Kampf an vorderster Front arbeiten, eine Menge. Die meisten wichtigen Arbeitskräfte sind für die Last, die sie tragen, stark unterbezahlt.“ (https://millionairesforhumanity.org/sign-on-letter/)

Dass es um Verantwortung geht, betonen auch Gabriel Zucman und Emmanuel Saez in ihrem Buch Der Triumph der Ungerechtigkeit von 2019: um die Verantwortung derer, die von der Globalisierung, von Erbschaften oder von vier Jahrzehnten neoliberaler Politik profitiert haben, gegenüber denen, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind und die sich keine hochbezahlten Berater*innen zum Thema „Steueroptimierung“ leisten können. Um die Verantwortung jener, die fordern, dass der Staat ihre Gewinne nicht anrühren, ihre Verluste aber sozialisieren soll.

Es geht aber auch um die Verantwortung von Ökonom*innen, die eine Datenfixierung in den Wirtschaftswissenschaften fordern, aber auf Daten wie aus der „World Inequality Database“ nicht reagieren. Es geht nicht nur um Steuergerechtigkeit, sondern auch um die Verantwortung für Demokratie, für Globalisierung, für den Planeten und die globale Gesellschaft.

„Ungleichheit ist eine politische Entscheidung, keine Unvermeidbarkeit“, so Zucman, Piketty und Co. im World Inequality Report 2022. Sie sind sich dessen bewusst, dass es auch maßgeblich von Politiker*innen und ihrem Willen abhängt, das Problem der Steuer(un)gerechtigkeit anzugehen, ob sie mit ihren Erkenntnissen wissenschafts- und steuerpolitisch erfolgreich sind. Was wir tun können? Wir können Initiativen wie die oben Genannten unterstützen, die beschriebenen Forschungsergebnisse wahrnehmen und sie in der Gesellschaft streuen.

Dieser Beitrag ist in agora42 4/2022 REVOLUTION in der Rubrik FRISCHLUFT erschienen. Darin werden Forschungsarbeiten vorgestellt, die neue Denkräume ausloten.
Julia Sophia Schmid
Julia Sophia Schmid arbeitet am Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Hohenheim und forscht unter anderem zu den Themen Ungleichheit, Gender Pension Gap, politisches Vertrauen und Staatswahrnehmung. Außerdem ist sie im Netzwerk Plurale Ökonomik, bei foodsharing e. V. und in der Stuttgarter Kommunalpolitik aktiv.

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