Foto: Tim Hüfner | unsplash
Tanzende Verhältnisse
Die Weltethos-Idee und die Suche nach dem Kapital der Veränderung
Text: Bernd Villhauer
Bei der Suche nach Expert*innen für Kapital werden wohl nur wenige auf den britischen Schriftsteller und Mathematiker Lewis Carroll und den schweizerischen Theologen Hans Küng kommen. Beide können aber hilfreich sein, um eine bestimmte Form von Kapital zu beschreiben: Jene Kraft, die es den Menschen erlaubt, ihre Verhältnisse zu revolutionieren.
Was sieht Alice im Wunderland und hinter den Spiegeln? Es lohnt sich, die Geschichten über das kleine Mädchen, das innere und äußere Erfahrungen der psychedelischen, der linguistischen und der erkenntnistheoretischen Art macht, neu zu lesen. Das kann uns helfen, eine Seite von „Wirtschaft neu denken“ besser zu verstehen. In diesem Text stelle ich deswegen Lewis Carroll (1832–1898) neben Hans Küng (1928–2021) und erkläre beide zu Kapitalexperten. Warum und wozu?
Beide rücken vertraute Phänomene in eine neue Ordnung des Denkens und Beschreibens – und beide sind bürgerliche Revolutionäre, im besten Sinne bürgerlich und im besten Sinne revolutionär.
Die Welt von Alice und die Welt hinter den Spiegeln
Von Lewis Carroll können wir mehr über Disruption und Kreativität lernen als in 1000 Agility- und Innovationsratgebern. Lewis‘ Protagonistin Alice tritt aus ihrer Traumwelt in einen Welttraum und dort, in der Parallelwelt, sind die Dinge radikal anders. Hier werden nicht nur die Verhältnisse innerhalb einer beschriebenen Welt neu geordnet, sondern eine ganz neue Welt beschrieben.
Warum sollten wir einen Blick in die Kaninchenhöhle werfen? Parallelwelten und Spiegeluniversen verweisen uns auf unsere Denk- und Sprechmöglichkeiten, wobei sie die folgenreiche Frage stellen: „Könnte nicht alles anders sein?“ Die unmöglichen Wesen in Alices Welt, die Vermischung und gegenseitige Veränderung von sprachlichen und gegenständlichen Wirklichkeiten erweitert unser Repertoire in vielerlei Hinsicht. Damit haben die Erzählungen Carrolls eine Eigenschaft, die auch für utopische und dystopische Erzählungen wesentlich sind: Das Fremde enthüllt das Vertraute.
Der Begriff der „disruptiven Technologie“ geht auf den US-Ökonomen Clayton M. Christensen zurück, der damit an eine Denkfigur Joseph Schumpeters anknüpft: Die „schöpferische Zerstörung“, mit der Innovationen gemeint waren, die alte Wirtschaftsstrukturen zerstören und neue schaffen. Aus dem engeren Bereich der technischen Neuerungen herausgelöst, werden Disruptionen als „bahnbrechende Innovationen“ verstanden, durch die neue Märkte entstehen und sich bestehende Marktgefüge radikal verändern, bis hin zur Verdrängung ehemals marktführender Unternehmen.
Wehe, wenn sich Deine Wünsche erfüllen …
So wie einem einzelnen Menschen großes Unheil widerfahren kann, wenn dessen oder deren Wünsche wahr werden, so bedeutet der Versuch der Verwirklichung von Utopien auch meist Katastrophales. Die Millionen von Toten, die als Opfer des Kommunismus oder des Faschismus in den Geschichtsbüchern stehen, sowie die vielen zerstörten Leben im Umfeld religiöser Beglückungsunternehmen bezeugen das. Auch wenn das Diktum des österreichischen Philosophen Karl Popper (1902-1994), „Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle“, oft nur Vorwand für Denkfaulheit und Konformismus ist – er beschreibt die gefährliche Seite des utopischen Denkens doch recht gut.
Die utopische Erzählung soll aber auch gar nicht zur Realität werden, sie soll unseren Blick auf die Realität ändern. Utopien und Dystopien verwirklichen sich nicht, sie eröffnen – entgegen markiger Ankündigungen der PR-Abteilungen von Verlagen – auch keinen „Blick in die Zukunft“, sondern schärfen unsere Wahrnehmung und eröffnen dadurch Handlungsoptionen. Sie sind Teil eines realistischen Blicks auf die Welt in ihrer Gesamtheit, aber eben eines Realismus auf vielen Ebenen, eines magischen Realismus. Sie bringen die Menschen zum Staunen und erst dadurch die Verhältnisse zum Tanzen, manchmal sogar die ökonomischen.
Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass jede Utopie gleichzeitig eine Dystopie ist und umgekehrt. Deutlich wird das beispielsweise in Aldous Huxleys Brave New World, wo die Beschreibung der wissenschaftlich durchorganisierten eugenischen Kastengesellschaft (mit bedingungslosem Grundeinkommen an Drogen und Sexualität) durchzogen ist von echter Begeisterung für die Möglichkeit, Schmerz, Einsamkeit und Sinnleere aus dem Leben zu verbannen. Schon Thomas Morus‘ Utopia, das namengebende Grundwerk der Gattung, verschränkt die Freuden der Ordnung und Gerechtigkeit mit dem Schrecken der Überwachung und dem Zwang zur Konformität. Es wird sich keine Utopie finden lassen, die nicht einzelnen Leserinnen und Lesern mit Recht Angst macht. Urhoffnungen und Urängste kommen oft im Verbund.
Der Begriff Eugenik meint Vorstellungen und Maßnahmen, die auf die vermeintliche genetische Verbesserung menschlicher Populationen abzielen. Die (pseudo-)wissenschaftliche Vorstellung der Eugenik wurde durch den Briten Sir Francis Galton geprägt. Aufbauend auf der Theorie der „natürlichen Zuchtwahl“, die sein Cousin Charles Darwin aufgestellt hatte, entwarf Galton eine „Theorie“ der aktiven menschlichen Zuchtwahl, um die Vererbung erwünschter Eigenschaften zu fördern und jene unerwünschter zu verhindern. Darwin lehnte ein solches Konzept vehement ab. Die Popularität der Eugenik stieg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit und führte zu rassistischen Praktiken wie der Sterilisation als „minderwertig“ wahrgenommener Gruppen oder rassistischer Ehegesetze. Die mörderische „Rassenhygiene“ Nazi-Deutschlands brachte die Eugenik nachhaltig in Verruf.
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Küngs Utopien und Dystopien für die Wirtschaft
Der Theologe Hans Küng legte in seinen zahlreichen Arbeiten keine Utopie oder Dystopie im klassischen Sinne vor. Aber seine Weltethos-Idee hat utopisches Disruptionspotenzial und eröffnet neue Erkenntnismöglichkeiten über den wirtschaftenden Menschen. Kurz gesagt, sucht Küng nach den Werten und Orientierungen, die weltweit gelten und die für alle Menschen wichtig und handlungsleitend sind – ganz gleichgültig, welchen kulturellen oder religiösen Hintergrund sie haben. Küng will beschreiben, wie auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeiten die globalen Probleme angegangen werden können: ein Weltethos für die Lösung von Weltproblemen.
Dabei hat er vor allem zwei Ebenen im Blick: Erstens die Grundlegung und Flankierung internationaler Rechtssysteme. Schön und gut, so Küng, wenn rechtliche Normen auch international die Menschen zu gutem Verhalten verpflichten. Aber das genügt nicht! Wenn sie nur dem Buchstaben des Gesetzes folgen, dann werden sie bald nicht einmal mehr diesem Buchstaben folgen, von seinem Geist ganz zu schweigen. Eine lebendige Rechtskultur ist gehalten und gestützt durch eine ethische Ordnung, ein Verständnis von Gut und Böse, ein Ethos des Miteinanders. Sonst ist sie nicht lebensfähig. Keine Weltordnung ohne Weltethos!
Und zweitens müssen diejenigen, die Verantwortung tragen, eine Haltung entwickeln, die den globalen Herausforderungen angemessen ist. Zur Führungskultur gehört ein spezielles Ethos der Führung, das humanistischen Werten verpflichtet ist. Dazu macht Hans Küng Vorschläge für die Entwicklung von unternehmerischen Ethiken, die an das Predigen vor dem Thron oder die alten „Fürstenspiegel“ erinnern. Die Mächtigen müssen weise oder doch wenigstens selbstkritisch werden und ihr Ethos muss ihre Wirkungsmöglichkeiten widerspiegeln. Keine Weltmarktakteure ohne Weltethos!
Für den Kapitalbegriff vermutlich interessanter ist der Blick auf die strukturellen Fragen und nicht die persönlichen Haltungen oder ethische Selbstermächtigung von echten und scheinbaren Eliten. Wie genau aber sieht die Beziehung zwischen Kapital und Ethos aus?
Ethisches Kapital
Bei Karl Marx steht das Kapital im Mittelpunkt der verändernden Kraft der modernen Wirtschaft. Es bedient sich der Bourgeoisie zur Revolutionierung aller Verhältnisse. Dieser revolutionären Energie wird in der Marx‘schen Geschichtserzählung eine zweite revolutionäre Energie entgegengestellt, nämlich die des Proletariats. Das Kapital ist also als bewegende Kraft behandelt, nicht als tote Masse.
Wir tun Marx nicht unrecht, wenn wir seine Analysen auch als Wirtschaftsutopien lesen. Wie alle Utopien identifizieren sie Fehlstellen in der Realität der Gegenwart. Als solche Fehlstellenanzeige bleiben sie gültig, zum Beispiel indem sie fragen: „Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ oder „Was sind die Quellen der Innovation?“. Gesucht wird nach wie vor das bewegende Zentrum, aus dem heraus sich die ökonomische Dynamik entfaltet.
Was wäre, wenn wir auch im ethischen Bereich nach diesen bewegenden Zentren, den Quellen der Veränderung suchen würden? Kämen wir nach einigen Ausflügen durch das Spiegelreich Lewis Carrolls bei einem Ethos-Begriff wie Küng ihn formuliert an, der gleichzeitig die immer schon wichtigen und gültigen Eigenschaften der Menschen umfasst – wie ihre Veränderungsfähigkeit und ihren unbändigen Drang, den nächsten Schritt zu tun?
Ob das gegenwärtige Wirtschaftssystem mit dem Begriff „Kapitalismus“ richtig beschrieben ist oder nicht – viel hängt für die Zukunft jedenfalls davon ab, was wir als „Kapital“ begreifen und ob wir den Begriff umfassend verwenden. Ein erweiterter Kapitalbegriff, der das Imaginäre und Innovative wirtschaftlicher Entwicklung mit den Potenzialen des Menschen zusammenbringt, wird auf die bürgerlichen Revolutionäre Carroll und Küng nicht verzichten können. ■
Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 4/2021 KAPITAL in der Rubrik HORIZONT erschienen. In Rubrik geht es darum, wie sich andere gesellschaftliche Wirklichkeiten denken sowie konkrete Veränderungen herbeiführen lassen.
Bernd Villhauer ist Geschäftsführer des Weltethos-Instituts an der Universität Tübingen. Nach einer Lehre studierte er Philosophie, Altertumswissenschaft und Kunstgeschichte. Im Anschluss an seine Promotion in Philosophie war er im Verlags- und Medienbereich tätig sowie Dozent an verschiedenen Universitäten. Er schreibt an einer Einführung zu „Finanzmarkt und Ethik“ und ist Kolumnist von agora42 (Finanz & Eleganz).
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