Foto: unsplash
Um die Welt zu retten, HIER klicken!
Text: Christiane Schulzki-Haddouti | online veröffentlicht am 07. September 2023
Für jedes Problem gibt es eine Lösung, oder nicht? Medien, Politik und Wissenschaft halten sich in Krisen gerne an organisatorisch-technische Lösungen – doch das wird ihnen das Nachdenken über weitere gesellschaftspolitische Kurskorrekturen nicht ersparen.
Das Corona-Virus fordert weltweit Opfer. Noch bevor das öffentliche Leben in weiten Teilen verlangsamt oder gänzlich stillgelegt wurde, wurde in Deutschland bereits diskutiert, mit welchen technischen Lösungen man Infektionen besser verfolgen und eindämmen könnte. Digitale Immunitätspässe, Corona- und Quarantäne-Apps sowie deren regulatorische Begleitung bestimmten dann monatelang die öffentliche Debatte, während einfache analoge, unmittelbar wirksame Schutzmaßnahmen wie Gesichtsmasken trotz akutem Materialmangel über Wochen weniger Aufmerksamkeit erfuhren.
Auch bei vielen Wortmeldungen in der Debatte um den Klimawandel könnte man meinen, dass präventive Maßnahmen vor allem ein Problem für Ingenieur*innen und Techniker*innen seien. Oft heißt es: Für jedes Problem gebe es eine Lösung – man müsse sie nur entwickeln, hochskalieren, fertig. Schweine und Rinder müssen nicht mehr geschlachtet, denn Fleisch kann synthetisch hergestellt werden – demnächst kommt es vielleicht aus dem 3D-Drucker in der Küche. Wasserstoff-Tanks sind noch zu schwer für Linienflugzeuge, aber hey, es gibt schon Sprit aus CO2-fressenden Algen.
In der Corona-Krise wie in der Klimakrise geht es darum, rasch wirkende Maßnahmen zu finden, damit sich die Krisen nicht zu Katastrophen entwickeln. Weil Technik- und Wissenschaftsjournalisten gern über neue (vermeintliche) Lösungen berichten und das Publikum positive Geschichten mag, kann ein Kreislauf des Überoptimismus in Gang kommen, der gründliche Problemanalysen verdrängt.
Von der technischen Lösung „zutiefst überzeugt”
Für die Annahme, man könne alle Probleme technisch lösen, gibt es im Englischen eine griffige Bezeichnung: „solutionism“. Dieses Vertrauen in die Allmacht der Technik ähnelt magischem Denken: Glaubt man nur fest genug daran, wird sich sogar die zivilisationsbedrohende Klimakrise schon irgendwie bewältigen lassen, ohne viel zu verändern. FDP-Chef Christian Lindner lässt sich als ein politischer Protagonist dieser Haltung ausmachen. So sagte er: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wenn wir unseren Erfindergeist wecken, wir in der Lage sind, klimaneutral zu leben und zu wirtschaften ohne diese harten Freiheitseinschränkungen.“
Geprägt wurde der Begriff „Solutionism“ von Evgeny Morozov in seinem Buch To Save Everything, Click Here. Darin nahm er das Silicon-Valley-Denken aufs Korn, wonach es für jedes politische, wirtschaftliche oder ökologische Problem eine digitale Lösung gäbe. Dabei werden die sozialen, wirtschaftlichen oder ökologischen Probleme, die mit denkbaren technischen Lösungen einhergehen, regelmäßig ignoriert. Noch gibt es keine deutsche Übersetzung des Begriffs, „Technikgläubigkeit“ kommt ihm wohl noch am nächsten.
In seinem Leitfaden für effektive Klimakommunikation warnt das Center for Research on Environmental Decisions an der US-amerikanischen Columbia University ausdrücklich vor der Solutionism-Falle: So könnten zwar Menschen für das Klima-Thema begeistert werden, indem Lösungen aufgezeigt werden. Doch Kommunikator*innen riskierten Rückschläge, wenn sie Lösungen befürworten, die weder dem Ausmaß, noch dem Zeitrahmen des Problems entsprechen. So könnte beispielsweise ein Hinweis auf die Kernfusion einzelne Menschen demotivieren, selbst auf der individuellen Ebene tätig zu werden oder sich für realistischere Energieoptionen politisch einzusetzen.
„Paradigmatische Kurzsichtigkeit“ sogar in der Nachhaltigkeitsforschung
Nicht nur unter Journalist*innen und Politiker*innen, auch unter Nachhaltigkeitswissenschaftler*innen lebt der Solutionism. Eine aktuelle Literaturanalyse von Adi Kuntsman und Imogen Rattle kommt zu dem Ergebnis, dass bei aller Technikskepsis in der wissenschaftlichen Nachhaltigkeitsszene auch dort der Glaube an die digitalen Technologien („digital solutionism“) ungebrochen ist. Die Forscher*innen untersuchten vier Literaturdatenbanken zu wissenschaftlichen Beiträgen aus den Jahren 2008 bis 2017, die sich mit der Rolle digitaler Techniken in Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen befassen. Dabei filterten sie 78 einschlägige Beiträge heraus:
- 17 Beiträge befassten sich mit der Frage, wie digitale Tools für Ressourcen-Management, digitale Modellierungen oder Überwachungsprozesse im Energie- und Wasserbereich sowie Abfall- und Recyclingbereich möglicherweise noch besser eingesetzt werden können. Zwar adressieren einige Beiträge den Energieverbrauch der digitalen Systeme, sehen diese aber gleichzeitig als Teil der Lösung.
- 32 Beiträge bezogen sich auf die Rolle digitaler Geräte und Inhalte in Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen in der Bildung, wobei nur ein einziger Beitrag en passant das Problem von Elektronikschrott erwähnte.
- Nur 4 von 21 Artikeln, die sich mit Fragen des nachhaltigen Konsums befassten, diskutierten den Einfluss der digitalen Medien kritisch: So wurde erwähnt, dass eine höhere Konsum-Nachfrage auch höhere Umweltkosten durch Transport verursachen könnte oder dass Angebote für „ethischen Konsum“ impulsives Online-Shopping sogar noch verstärken könnten.
- 19 Artikel befassten sich ausschließlich mit der Frage des elektronischen Abfalls und konzentrierten sich damit auf den materiellen Aspekt des Digitalen. Dabei fokussierte sich ein Teil der Beiträge auf die Frage der Regulierung von Recycling, ein anderer auf Fragen des Produkt-Designs und Möglichkeiten der Wiederaufarbeitung. Die meisten Beiträge gingen schlicht davon aus, dass mit verbesserten Marktmechanismen mehr Nachhaltigkeit zu erreichen sei.
Kein einziger Artikel aber sprach sich für eine Reduktion digitaler Lösungen, also für Suffizienz aus, im Sinne eines möglichst geringen Rohstoff- und Energieverbrauchs. Falls auf Gefahren oder Bedenken bezüglich der Umweltschäden der digitalen Kommunikation hingewiesen wurde, unterbreiteten die Wissenschaftler*innen lediglich Vorschläge, wie man mit präziseren Tools, weiterer Forschung, kritischem Denken oder besserer Bildung Lösungen finden könnte.
In ihrer Untersuchung kommen Kuntsman und Rattle daher zu dem Schluss, die analysierte wissenschaftliche Literatur sei mit ihrer „schwindelerregenden“ Bevorzugung digitaler Lösungsansätze von einer „paradigmatischen Kurzsichtigkeit“ geprägt. Diese basiere auf dem allgemeinen Glauben an die Kraft der Technologie und des technologischen Fortschritts, in dem jede neue Erfindung das Versprechen trage, „besser zu werden“. Umweltprobleme würden nach wie vor als technologische, aber nicht als soziale Probleme angesehen. Damit würde der Mythos einer „nachhaltigen Informationsgesellschaft“ aufrechterhalten und gleichzeitig der Mythos des Digitalen als „spielerischem“ Retter von Nachhaltigkeitserwartungen bedient.
Testen Sie agora42 mit unserem Probeabo!
Sie erhalten zwei Ausgaben für 22€ – sowie unser Heft DAS GUTE LEBEN gratis dazu!
Rebound-Effekt: Wenn Technik auf Menschen trifft
Technik spielt im Nachhaltigkeitsdiskurs eine zentrale Rolle, seitdem die ehemalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland 1987 ihre Vorstellungen von einer nachhaltigen Entwicklung in einem Bericht für die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen festhielt. Den IT-Technologien beispielsweise wird im Brundtland-Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ nachgesagt, die Produktivität, die Energie- und Ressourceneffizienz sowie die Organisationsstrukturen von Industrien verbessern zu können.
Der Bericht zeigte sich optimistisch, dass man mit technologischem Fortschritt Umweltschäden mildern könne, die durch Wirtschaftswachstum verursacht werden. Folglich könnte man das Wachstum mit entsprechender Unterstützung durch Politik und Regierung so gestalten, dass es der Umwelt nutzen könne. Dieser einflussreiche Bericht verheiratete damit die Vorstellung von Nachhaltigkeit mit dem Glauben, Technik löse die größten Probleme. Im Grunde handelte es sich dabei um einen politischen Kompromiss: In reicheren Ländern kann so die unbequeme Diskussion umgangen werden, dass die gesamte Wirtschafts- und Lebensweise nicht nachhaltig ist und man eventuell um Einschränkungen des Wohlstands (oder dem, was viele darunter verstehen) kaum herumkommen wird.
Nicht zuletzt zeigten die letzten Jahre, dass ein reines Solutionism-Denken zu kurz greift, weil Rebound-Effekte technische Effizienzgewinne immer wieder auffressen. Nur zwei bekannte Beispiele: Die Automotoren wurden immer effizienter, was den Spritverbrauch für schwere Geländewagen derart absenkte, dass sie auch für den normalen Stadtverkehr attraktiv wurden. LED-Glühbirnen verbrauchen um ein Vielfaches weniger Energie, sodass viele Verbraucher sie einfach länger brennen lassen. Dass die jetzt notwendige Reduktion von CO2 zwingend mit einem verminderten Ressourcenverbrauch einhergehen muss, ist eine Botschaft aus der Wissenschaft, die in der Politik wie auch in den Medien noch gern ignoriert wird. Lieber hält man sich an die im Brundtland-Bericht vorgegebene Kompromissformel und damit an den Glauben an die Transformationskraft tatsächlicher oder künftiger technischer Lösungen.
Klimapolitik und technische Zukunftsmusik
In den Medien wie in der Wissenschaft, aber auch in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft herrscht eine technikgläubige Grundhaltung. Selbst Klimaforschung und -politik setzen inzwischen zu einem Gutteil auf Solutionismus: Szenarien großer Organisationen wie etwa die der Internationalen Energie-Agentur IEA oder auch des Weltklimarats IPCC kalkulieren mit künftigen Lösungen: Für ihr 2,0°-Szenario „IEA 2DS“ rechnet die IEA fest mit dem Einsatz von nicht-existierenden technischen Großlösungen zur CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS). Weil Unternehmen das IEA-Szenario nutzen, um ihre individuellen Klimaschutzziele zu definieren, wirkt sich dieses Solutionism-Denken auch auf heutige Unternehmensentscheidungen aus. Die Bundesregierung macht es im Übrigen nicht anders: Das Bundes-Klimaschutzgesetz rechnet ebenfalls mit CCS-Techniken, um die Klima-Zielvorgaben für 2050 zu erreichen.
Kurskorrekturen
Eine Fokussierung auf technische Lösungen kann den Blick auf die Dringlichkeit und das Ausmaß der Krise verstellen: Das Problem des Klimawandels und die nötigen Emissionsminderungen sind inzwischen so groß, dass es nicht mehr genügt, irgendeine einzelne Lösung zu finden und großtechnisch einzusetzen. Längst müssen praktisch alle denkbaren Lösungen reflektiert, systematisch und mit Nachdruck weiterentwickelt werden – wobei mit Blick auf eine zunehmende Ressourcenknappheit einfache, sparsame und robuste, nicht aber unbedingt die marktgängigen Lösungen bevorzugt werden müssten. „Der Markt“ wird es nicht regeln, wenn er weiterhin Umweltkosten externalisiert und künftige Klimarisiken nicht berücksichtigt.
Über technische Lösungen zu reden, ist sicherlich attraktiver als sich mit komplexen gesellschaftlichen Problemen zu befassen. Gleichzeitig bestärkt das Reden über Lösungen den Eindruck, dass sie bereits zur Verfügung stehen und dass unbequemere Veränderungen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise nicht nötig sind. Technische Lösungen können jedoch nur assistierend, nicht aber per se problemlösend wirken. Die Kurskorrektur fängt nämlich erst einmal in den Köpfen an. ■
Dieser Text ist zuerst in agora42 3/2020 CORONA & DIE ZOMBIEWIRTSCHAFT erschienen.
Christiane Schulzki-Haddouti ist zweifache Mutter, schreibt als freie Journalistin über soziotechnische Fragen der Informationsgesellschaft, lehrte an verschiedenen Universitäten journalistische Recherche und erforscht digitale soziale Innovationen und kooperative Technologien in BMBF-geförderten Projekten. 2006 gründete sie das Whistleblower-Netzwerk mit und brachte 2018 mit Kolleg*innen das Projekt „KlimaSocial“ bei Riffreporter.de an den Start.
Von der Autorin empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
C. Otto Scharmer und Katrin Käufer: Von der Zukunft her führen. Theorie U in der Praxis. Von der Egosystem- zur Ökosystem-Wirtschaft (Carl-Auer Verlag, 2017).
Faszinierende Lektüre über die systematische Adressierung unterschiedlicher Bewusstseinsschichten gesellschaftlicher und ökonomischer Verfasstheit.
ROMAN
Jane Mayer: Dark Money. The Hidden History of the Billionaires Behind the Rise of the Radical Right (Doubleday Publishing, 2016).
Spannend wie ein Roman, aber feinster investigativer Journalismus.
FILM
Democracy – Im Rausch der Daten von David Bernet (2015).
Für mich interessant, weil ich viele Akteure aus der eigenen Arbeit kenne und das Thema „Datenschutz“ seit Jahrzehnten begleite. Am schönsten fand ich, als Jan Philipp Albrecht beschrieb, wie sich der „Tanker“ des Parlaments langsam in Richtung Bürgerrechte zu drehen begann. Diesen allmählichen Bewusstseinswandel zu begleiten, finde ich an meiner eigenen Arbeit am interessantesten.
Diese Ausgaben von agora42 könnten Sie interessieren:
-
2/2022 RESILIENZ
9,80 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb -
3/2020 CORONA & DIE ZOMBIEWIRTSCHAFT
9,80 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb -
2/2017 DIGITALISIERUNG
9,80 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb