Illustration: DMBO – Studio für Gestaltung
Wie verrückt ist die Normalität?
Text: Georg Spoo | online veröffentlicht am 28.01.2024
Es gibt wohl kaum einen Begriff, der so schillernd ist wie der der Normalität. Er weckt unzählige Assoziationen und Affekte. Er zieht an und stößt ab. Er wird zur Beschreibung ebenso verwendet wie zur Bewertung. Er bezieht sich auf individuelle Verhaltens- und Lebensweisen wie auch auf gesellschaftliche Zustände und Strukturen. Der Begriff der Normalität ist selbstverständlicher Teil unseres Alltagsverstandes und unserer Alltagssprache – und doch zerrinnt er wie Sand zwischen den Fingern, wenn man versucht, ihn zu greifen.
Das Normale ist das, was derart selbstverständlich ist, dass wir es nicht mehr bemerken, ja, dass es geradezu unsichtbar geworden ist. Etwas, an das wir uns gewöhnt haben, das uns nicht mehr irritiert, das fraglos geworden ist und deshalb auch nicht mehr hinterfragt oder kritisiert wird. Das macht es so schwer, Normalität auf den Begriff zu bringen: Wenn man etwas auf den Begriff bringt, dann macht man es sichtbar und greifbar; Normalität zeichnet sich aber gerade durch ihre Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit aus.
Normalität als Fiktion: Befreiung und Beherrschung
Wenn es aber so schwer fällt zu definieren, was Normalität überhaupt ist, dann könnte man fragen, ob es Normalität überhaupt gibt: Wer oder was ist schon normal? Wird Normalität nicht schon durch die Redeweise vom „ganz normalen Wahnsinn“ ad absurdum geführt? Ist Normalität nicht ein Phantom, eine Chimäre? Demnach wäre eigentlich nichts wirklich normal und Normalität gäbe es streng genommen gar nicht. Dieser Auffassung darf man durchaus sein. Das heißt aber noch nicht, dass der Begriff der Normalität dadurch völlig sinnlos wird.
Vielmehr könnte man Normalität als eine (womöglich willkürliche) Fiktion verstehen, mit der wir uns in der Welt einrichten. Normalität wäre ein Konstrukt, das wir über die Außenseite einer komplexen, vielfältigen, ambivalenten und chaotischen Welt legen, einer Welt, die ständig in Bewegung und im Umbruch ist, in der man immerfort den Boden unter den Füßen verliert und in der permanent etwas Neues entsteht. Normalität wäre dann der Bereich, in dem man wenigstens so tut, als ob alles unter Kontrolle gebracht werden könnte. Normalität wäre demnach kein Fakt, etwas, das es schlechthin objektiv gibt, sondern eine Fiktion. Diese Fiktion ist aber alles andere als eine bloße Täuschung, die wirkungslos bleibt. Im Gegenteil: Sie bringt Wirklichkeit hervor. Normalität ist nicht einfach faktisch gegeben, sondern wird oftmals erst hergestellt: durch Regeln, Ordnungen, Strukturen und Konventionen, durch Ideen und Ideale.
Positiv könnte man also diese Normalitätsfiktionen oder Normalitätsproduktionen als eine notwendige Rahmung einer überkomplexen natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt verstehen; als Regulationsmechanismus, durch den sich die Möglichkeit des Denkens und des Handelns in dieser endlos rauschenden Welt überhaupt erst eröffnet. Normalität wäre dann die Grundlage für Sicherheit, Erwartbarkeit, Planbarkeit, Vertrauen und Zusammenhalt. Mit dieser Perspektive ist völlig klar, warum sich Menschen nach Normalität sehnen. Diese Sehnsucht wird noch nachvollziehbarer, wenn man an Menschen denkt, die entweder an Überarbeitung oder aber an Arbeitslosigkeit leiden, oder gar an Menschen auf der Flucht oder im Krieg. Dann ist sie der Wunsch, ohne ein permanentes Gefühl von Stress, Getriebenheit und Angst zu leben, ein Bedürfnis nach Frieden und Ruhe. Vor dem Hintergrund einer sich in ständigen Widersprüchen und Krisen befangenen Gesellschaft beschwört Theodor W. Adorno in seinem Buch Minima Moralia geradezu eine Utopie der Normalität: „auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen“. Ähnlich beschreibt Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung die Utopie der Normalität als Erfahrung von etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“.
Diese Verbindung von Normalität und Heimat kann aber auch schnell in eine kitschige Behaglichkeit, eine reaktionäre Gemütlichkeit kippen. Sie wird von der politischen Rechten instrumentalisiert und beruht auf Ausgrenzung und Abwehr des Anderen. Damit eröffnet sich ein kritischer Blick auf Normalität: Man könnte sie auch als autoritäre und repressive Zurichtung der Welt verstehen, als einen Bleimantel, der auf der bunten Vielfalt der Dinge liegt und die Energien des Lebens erstickt. Normalität wäre dann etwas, das einengt, Offenheit beschneidet, Konformität erzwingt und Abweichungen sanktioniert. In dieser Hinsicht ist Normalität oft eine Ideologie der Ausgrenzung, der Marginalisierung, Stigmatisierung, Pathologisierung und Unterdrückung. Als „normal“ gilt dann der „gesunde Menschenverstand“, ein „gesundes Volksempfinden“ oder gar der „gesunde Volkskörper“. Hinter dem scheinbar harmlosen Wunsch nach Normalität lauert bisweilen ein dunkles faschistoides Begehren: Das Anormale, das Abweichende, Perverse, Verrückte, Kranke, Schwache oder Fremde soll reglementiert, kontrolliert oder im Extremfall eliminiert werden. So besehen ist Normalität alles andere als eine Utopie. Man müsste vielmehr von einem dystopischen Terror der Normalität sprechen, unter dem Menschen leiden, die aus dem Raster einer auf Jugendlichkeit, Gesundheit, Schönheit, Perfektion, Effizienz, Autonomie und Rationalität getrimmten Gesellschaft fallen, Menschen, die von Sexismus, Rassismus und Antisemitismus betroffen sind. In diesem Sinne schreibt Walter Benjamin in seinem Text Über den Begriff der Geschichte: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist.“
Testen Sie agora42 mit unserem Probeabo!
Sie erhalten zwei Ausgaben für 22€ – sowie unser Heft DAS GUTE LEBEN gratis dazu!
Normalität: Anormalität, Subordination und Normativität
Unabhängig davon, wie man nun zum Begriff der Normalität steht und was man als normal betrachtet: Der Begriff wird rege benutzt. Und er beruht auf bestimmten Voraussetzungen, die man offenlegen muss, wenn man den Begriff der Normalität tiefer verstehen will – sei es in bestätigender, sei es in kritischer Absicht. Im Folgenden geht es deshalb darum, sozusagen hinter die Fassade in das begriffliche Räderwerk des Begriffs der Normalität zu schauen. Es geht um die rein logische Funktionsweise des Begriffs. Dabei sind drei Aspekte von entscheidender Bedeutung: Anormalität, Subordination und Normativität.
Erstens: Normalität ist ein Beziehungsbegriff. Das, was normal ist, ergibt nur dadurch Sinn, dass es in Beziehung zu etwas anderem steht, nämlich zu dem, was nicht normal ist: dem Anormalen. Wenn man sagt, was normal ist, sagt man damit zumindest implizit immer auch, was nicht normal ist – und umgekehrt. Wenn alles normal wäre, würde der Begriff der Normalität seinen Sinn verlieren. Normalität impliziert also erstens Anormalität.
Zweitens: Das Anormale ist dem Normalen nicht einfach gleichwertig entgegengesetzt. Vielmehr impliziert der Begriff der Normalität auch, dass das Anormale dem Normalen in irgendeiner Weise untergeordnet ist. Denn wenn das Anormale dem Normalen gleichwertig gegenüberstehen oder die Überhand gewinnen würde, könnte es gleichermaßen Anspruch auf Normalität erheben; dann wäre das eben das neue Normal. Von Normalität zu sprechen, impliziert also nicht nur Anormalität, sondern außerdem – zunächst rein logisch – die Subordination der Anormalität. In anderen Worten: Normalität impliziert gewissermaßen die Normalität der Normalität.
So besehen wäre Normalität inhaltlich neutral, das heißt an sich weder gut noch schlecht: Normal wäre einfach das, was gegenüber dem Anormalen vorherrschend ist. Entsprechend könnte man Normalität recht harmlos als einen Begriff verstehen, der rein formal das Vorherrschende oder einen statistischen Durchschnitt, Normalverteilungen, Regelmäßigkeiten, das Gewohnte oder Vertraute beschreibt. Und aus dieser Perspektive würde es dann auch offen stehen, gegenüber dem Normalen dem Anormalen den Vorzug zu geben, etwa abweichendem, kreativem, nonkonformem, kritischem oder subversivem Verhalten.
Drittens: So unschuldig wird Normalität aber zumeist nicht verwendet. Mit Normalität wird selten eine bloß faktische Normalität bezeichnet, also etwas, das tatsächlich die Regel ist. Vielmehr knüpfen sich an den Begriff der Normalität normative Erwartungen oder Bewertungen. „Normal“ hängt dann mit der „Norm“ zusammen: Das, was als normal angesehen wird, ist das, was einer bestimmten Norm oder bestimmten Idealen entspricht. Normal ist insofern, was normal sein soll. So besehen impliziert Normalität nicht nur eine faktische Normalität der Normalität, sondern strenger die Normativität der Normalität. Das, was nicht normal ist, gilt dann automatisch als unerwünscht.
So wird der Normalitätsbegriff dann auch oft gebraucht: Etwas wird – normativ – selbst dann noch als normal angesehen, wenn es de facto keineswegs der Normalität entspricht. Dieser Gebrauch des Normalitätsbegriffs kann eine gute und eine schlechte Seite haben: Mit einem normativen Normalitätsbegriff kann auf der einen Seite – herrschaftskritisch – der Versuch zurückgewiesen werden, anormale Phänomene und Verhältnisse als normal erscheinen zu lassen. Nehmen etwa prekäre und atypische Arbeitsverhältnisse zu und werden tatsächlich normal, kann dies mit einem normativen Begriff von Normalität kritisiert werden („So soll es nicht sein! Eigentlich ist das nicht normal!“) – mit einem Normalitätsbegriff, der nur beschreibend ist oder eine faktische Normalität bezeichnet, ist das dagegen nicht möglich.
Auf der anderen Seite panzern aber auch etwa Rechtspopulisten und Rechtsradikale ihre kontrafaktischen und anachronistischen Normalitätsfantasien mit Normativität: Der Slogan der AfD „Deutschland. Aber normal“ ist nicht als Beschreibung, sondern als Ideal oder Norm gemeint. Es verfängt daher auch kaum, wenn man den völkischen Homogenitätsfantasien der AfD entgegenhält, dass sie die faktische Lebenswirklichkeit und mithin die Normalität vieler Menschen gar nicht treffen, weil man dann eine normative rechtsradikale Normalitätsvorstellung mit einer faktischen Normalitätsbeschreibung verwechselt. Der Normativitätsaspekt von Normalität eignet sich also sowohl zur Kritik als auch zur Verklärung von Herrschaft.
Normalität und Verrücktheit: einfach und dialektisch
An dieser Stelle könnte man fragen: Wenn Normalität ein so schwankender und mehrdeutiger Begriff ist, der zudem Gefahr läuft, in Ideologie abzugleiten, wäre es dann nicht einfacher, auf diesen Begriff ganz zu verzichten? Das ist durchaus eine Möglichkeit. Andererseits gibt es doch auch die genannten Gründe, an diesem Begriff festzuhalten. Neben diesem Patt – den Begriff aufgeben oder an diesem Begriff festhalten – gibt es aber noch eine interessante dritte Möglichkeit, mit dem Normalitätsbegriff umzugehen. Sie findet sich bei Karl Marx, der moderne kapitalistische Gesellschaften als „verrückt“, also als anormal beschreibt. Ohne den Begriff Normalität einfach zu verabschieden, spielt Marx dabei bewusst mit dessen Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen, um ihn zu kritisieren. Indem er das Normale mit dem Verrückten verbindet, stellt er sowohl das Normale als auch das Verrückte infrage. Insofern könnte man Marx’ Begriff von Normalität als einen „dialektischen“ Begriff von Normalität bezeichnen – wie eben umgekehrt auch Verrücktheit dialektisch verstanden wird.
Was bedeutet bei Marx also „verrückt“? Um das zu verstehen, muss man Marx’ dialektischen Begriff von Anormalität oder Verrücktheit von einem einfachen Begriff von Anormalität unterscheiden: Im einfachen Gebrauch dieses Begriffs ist all das anormal oder verrückt, was eben nicht normal ist, das heißt was einer faktischen oder normativen Normalität widerspricht. Inhaltlich kann der einfache Begriff des Verrückten dabei ganz unterschiedlich genutzt werden: So kann es etwa in einem positiven Sinne verrückt sein, einer fest etablierten, aber falschen Mehrheitsmeinung zu widersprechen. Verrückt im negativen Sinne wäre es hingegen, beispielsweise gegen friedliche und solidarische Lebensverhältnisse zu agitieren. Der einfache Begriff des Verrückten kann aber natürlich auch in einem stigmatisierenden oder pathologisierenden Sinne verwendet werden. In allen drei Fällen bedeutet „verrückt“, aus der Normalität im Wortsinne herausgerückt, also „ver-rückt“ zu sein.
Das ist im dialektischen Begriff des Verrückten anders: Verrücktheit bedeutet hier nicht mehr bloß, dass etwas aus dem Bereich des Normalen herausgerückt ist, sondern dass Normalität und Anormalität selbst miteinander vertauscht, also „ver-rückt“ wurden: Das Anormale wird zum Normalen und das Normale wird zum Anormalen. Das Verrückte ist hier nicht mehr das, was dem Normalen entgegengesetzt oder untergeordnet ist, es bezeichnet nicht mehr nur eine Seite des Gegensatzes normal/verrückt. Vielmehr bezeichnet es die Verkehrung des Gegensatzes als Ganzen. Es bezeichnet den Umstand selbst, dass das Anormale normal und das Normale anormal geworden ist. Diese Verkehrung des Ganzen ist das Verrückte. So liegt für Marx das Verrückte des Kapitalismus darin, dass wir Sklaven von Verhältnissen sind, die wir selbst geschaffen haben. Im Kapitalismus verselbstständigen sich die ökonomischen Verhältnisse der Menschen zu einer ihnen fremden Macht der Sachzwänge: „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ (Karl Marx) Unser aller wirtschaftliches Handeln wird mit dem „Markt“ zu einer rätselhaften Macht, die man mal „beruhigen“ und mal „stimulieren“ muss. Das Verrückte ist, dass die Produktion von Gütern nicht Mittel zum Zweck ist, sondern selbst zum Zweck wird, dem sich unser Leben als bloßes Mittel unterordnet.
Laut Marx ist der Kapitalismus also verrückt. Die Pointe seiner Kritik dieser Verrücktheit ist, dass er nicht etwa eine vermeintliche oder tatsächliche Normalität gegen eine Anormalität ins Spiel bringt. Vielmehr wird die Normalität durch ihre Vertauschung mit der Anormalität als solche fragwürdig. Sie führt sich gewissermaßen selbst ad absurdum. Damit ist die dritte Möglichkeit, von der am Anfang dieses Abschnitts die Rede war, keine Möglichkeit, die außerhalb des Begriffspaares Normalität/Anormalität liegt, sondern sie entwickelt sich aus der Selbstverrückung und Selbstauflösung der Normalität. Normalität ist ein vieldeutiger und widersprüchlicher, ein flimmernder Begriff. Dieses Flimmern der Normalität wird von Marx nicht erstickt, sondern weiter angefacht, in der Hoffnung, dass sie irgendwann explodiert: „Man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“ ■
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Ausgabe 3/2023 NORMALITÄT in der Rubrik TERRAIN erschienen. Darin werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
Georg Spoo hat über die Kritik des Idealismus bei Kant und Fichte promoviert und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg. Von 2022 bis 2023 war er Gastwissenschaftler an der Columbia University in New York City. Von ihm herausgegeben: Transformationen des Politischen. Radikaldemokratische Theorien für die 2020er Jahre (zus. mit Lucas von Ramin / Karsten Schubert / Vincent Gengnagel).
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Karl Marx: Das Kapital. Besonders das Kapitel: „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“. Hier bringt Marx die Verrücktheit des Kapitalismus auf den Punkt. Ein sicherlich nicht ganz leichter Text.
ROMAN
Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (Konkret Literatur, 2002). Ronald Schernikau macht die alltägliche Verrücktheit der Normalität sichtbar.
FILM
Der Rausch von Thomas Vinterberg (2020). Ein gemeinschaftliches Experiment normalisiert die Ver-rücktheit und ver-rückt die Normalität – mit befreienden sowie fatalen Folgen.
Diese Ausgaben von agora42 könnten Sie interessieren:
-
3/2023 NORMALITÄT
11,80 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb -
1/2023 ZUSAMMENBRUCH
11,80 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb -
1/2017 KAPITALISMUS
9,80 €inkl. 7% MwSt.
zzgl. Versandkosten
Lieferzeit: 3 - 5 Tage
In den Warenkorb