Zu spät, Kaninchen! | Friederike Gräff

UhrFoto: Eder Pozo Pérez | unsplash

 

Zu spät, Kaninchen!

Text: Friederike Gräff

Keine Zeit zu haben, ist ein Status-Symbol wie ein E-Lastenrad oder ein Haus auf dem Land. Wer Zeit hat, ist suspekt, nicht nachgefragt auf dem professionellen und sozialen Markt. Zeit haben die Punks in der Fußgängerzone, die Alten in den Pflegeheimen und da endet es schon. Jedes Kitakind, das etwas auf sich hält, hat keine Zeit. Aber natürlich stimmt das nicht. Wir haben den guten alten 24-Stunden-Tag – was wir nicht haben, ist unverplante Zeit, Zeit, die keinem Zweck zugeordnet ist.

Ich schreibe diesen Text im Café und gerade sagte die Frau mit Pferdeschwanz am Nebentisch: „Ich will mal wieder Leerlauf“ – als hätte ich‘s bestellt. „Das ist auch genau mein Thema“, antwortet ihr Gegenüber. Die Pferdeschwanz-Frau sagt, dass sie abends unruhig und erschöpft sei, deswegen habe sie angefangen, Sport zu treiben. „Letztlich war ich beim Chor, das hat auch Spaß gebracht. Ich passe auf, dass das kein Leistungsding wird. Da muss noch was passieren, gedanklich.“ – „Vielleicht muss da nichts passieren“, antwortet ihr Gegenüber. Aber dann verliert sich die Gesprächsspur in Richtung Steuererklärung und deren Mühsal.

Die Frau mit Pferdeschwanz muss zurück in die Schule, ihre elfte Klasse hatte als Unterrichtsthema Zeit, Tod oder das Göttliche zur Auswahl und zur Überraschung der Lehrerin hat sie sich für das Göttliche entschieden. Hätte diese Frau nicht praktischerweise neben mir gesessen, hätte ich sie erfinden müssen, als Veranschaulichung eines Dilemmas, das ein First-World-Problem ist, aber bei genauerer Betrachtung vielleicht hinausragt aus dieser Liga, weil es auf einen grundlegenden Irrtum verweist.

Zu wenig Zeit?

Die Klage über Zeitknappheit ist nicht originell. Wer möchte, kann in den Zeitungsarchiven schon in den 60er-Jahren Texte finden, in denen bekümmerte Essayisten feststellen, dass Zeitknappheit eine Modekrankheit und zugleich etwas Typisches für ihre Generation sei. Die Großeltern hätten noch musiziert und lange Briefe geschrieben, schreibt der Jurist Gerd Rinde 1964, und seine Ursachenforschung landet da, wo man sie mehrheitlich heute noch verortet: bei den Kommunikationsmitteln, nur dass er Telefon und Fernsehen statt Internet und soziale Medien im Blick hat.

Klagen über Knappheit kann nur, wer sich der Begrenztheit der Ressource bewusst ist. Die Sorge um Zeit, die ungenutzt verrinnt, ist keineswegs eine Erfindung der Achtsamkeits-Fraktion. „Tue es so, mein Lucilius; rette Dich Dir selbst, sammle und bewahre die Zeit, die Dir jetzt bald geraubt, bald entwendet wurde, bald entschlüpfte“, beschwört Seneca seinen Freund. Zeit ist eine Ressource, auch 64 n. Chr. und jede*r ist aufgefordert, bewusst mit ihr umzugehen. So weit, so schlüssig.

Aber was tun mit der gesammelten Zeit? Und woher kommt die Überforderung der Frau am Nebentisch, die traurig-gereizte Hilflosigkeit, mit der sie nach Leerlauf verlangt, um ihn zeitgleich systematisch zu verhindern?

Ist es eine Frage der Quantität und haben wir mit unseren durchschnittlich 34,8 Wochenarbeitsstunden zu wenig freie Zeit, um wie unsere Großeltern zu musizieren, daneben der Kindererziehung Genüge zu tun, Elternvertreter*in in der Schule zu sein, ohne Haushaltshilfe eine Art Hausstand zu führen und gelegentlich ins Kino zu gehen, aber auch Sport zu treiben, um weniger rasch zu verfallen? Erliegt da ein kleiner, gesamtgesellschaftlich nicht repräsentativer, aber als Peer Group einflussreicher Teil der Gesellschaft schlicht dem Irrtum, die Lebensverhältnisse seiner Großeltern seien übertragbar auf die eigenen, und übersieht dabei, dass doppelte Berufstätigkeit und geteilte Erziehungsarbeit beträchtliche Reibungsverluste bringen und dass man selbst ohne Personal lebt? Und ist es da nicht nur folgerichtig, dass die Erschöpfung der Frauen größer ist als die der Männer, weil die Umverteilung der Lasten eben nicht paritätisch ist, die Frauen aber alle Ansprüche an Funktionieren, Fördern und Präsentieren unerbittlich aufrechterhalten?

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Massaker an den Möglichkeiten

Aber das erklärt nur eine latente Überforderung, es erklärt nicht, warum aus dem, was freie Zeit war, Terror geworden ist, aus einer Verheißung eine Bedrohung. Wieso erinnern wir unsere Eltern als Menschen, die souverän über ihre Zeit verfügten, und sind jetzt, selbst erwachsen, traurige Karikaturen des Kaninchens aus Alice im Wunderland, immerzu „Ich bin zu spät“ rufend, während wir freudlos zum nächsten Termin rennen? Tagsüber verschiffen wir unsere verplanten Kinder zum nächsten Sport-, Musik- oder Malkurs, und liegen sie im Bett, sind wir selbst an der Reihe. Womit eigentlich?

Mit einem Puzzle beliebig zusammensetzbarer Versatzstücke, an denen jeweils nichts auszusetzen ist. Hier eine Lesung oder ein Theaterstück, weil man wissen sollte, was da derzeit verhandelt wird und weil man es den Freunden erzählen kann, dort ein Sportkurs, weil man für den Zustand seines Körpers selbst verantwortlich ist, hier ein Paarabend, weil man für den Zustand seiner Beziehung ebenfalls selbst verantwortlich ist, und dort ein Familienausflug, weil man bleibende Erinnerungen schaffen will. Es ist eine große Betriebsamkeit, aber sie ist seltsam freudlos, weil sie so wahllos wirkt wie einst die Schnäppchenjäger*innen vor den Kaufhäusern, als es noch echte Schlussverkäufe gab. Der aktuelle Termin ist nie genug und deswegen nur einer in einer langen Kette des Ungenügens.

Vielleicht ist die Betriebsamkeit um so größer, je mehr wir daran zweifeln, festen Grund unter den Füßen zu haben. Du bist zu spät, Kaninchen, du weißt es selbst, und du wirst es immer bleiben.

Denn unsere Zeitinvestments werden immer zweifelhaft bleiben und die Rendite scheint ungewiss. „Jede Entscheidung ist ein Massaker an den Möglichkeiten“, hat ein Freund einmal gesagt. Solange es uns nicht gelingt, das hinzunehmen, bleibt die Entscheidung für das Theater vor allem die Entscheidung gegen den Familienausflug und gegen den Fortbestand unserer Gesundheit. Es ist eine Rechnung, bei der wir nur verlieren können: Keine Tätigkeit kann jemals so gut sein wie die Summe ihrer Alternativen.

Die Befreiung des Kaninchens?

Es ist schwierig, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem wir den Irrglauben angenommen haben, das Leben sei die Summe der Möglichkeiten, die uns begegnen und die wir erfolgreich verwirklichen. Als gäbe es kein Gesamtgefüge, in dem Addieren auf einer Seite Subtrahieren auf der anderen bedeutet. Wir wollen eine Aktie sein, die immer steigt, alles andere ist schlechtes Investment. Und unser Leben ist die Fabrikation möglichst vieler wertvoller Erinnerungen, die wir beflissen dokumentieren, als stünden wir am Ende vor Gott mit einem Fotoalbum, das wir ihm zur Prüfung vorlegen.

Dabei ist es ja das Zurückgeworfensein auf das Säkulare, vermengt mit dem Anspruch, das eigene Leben perfektionieren zu können, was aus der Ressource Zeit eine Art russisches Roulette werden lässt. Was ein großes Wort für ein First-World-Problem ist. Das aber das Potenzial birgt, eine grundlegende Wahrheit zu begreifen: dass Möglichkeiten endlich sind. Es ist nicht schönzureden, es liegt eine große Resignation darin, das hinzunehmen. Aber auch eine große Befreiung.

Ich bin froh, dass sich die Frau im Café nicht zu mir umwandte und sagte: „Sie schreiben doch einen Text über sinnvoll verbrachte Zeit, was meinen Sie denn?“ Ich habe keine Antwort und wenn ich Senecas Brief richtig deute, hatte er auch keine umfassende. Er weiß zwar, womit er seine Zeit verbringt, doch das alleine schützt ihn nicht davor, sie zu verlieren. Mir scheint aber, dass in der Wahl der elften Klasse eine Spur liegen könnte. Die suchte sich das Thema aus, das am wenigsten praktischen Nutzen verspricht, und vielleicht ist es das, was das Kaninchen wenigstens auf Zeit befreien kann: ein nutzloses Ziel, bei dem man sich nicht verspäten kann. Aber wer weiß schon, wie weit wir aus unserer Kaninchenhaut können. ■

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 4/2022 ZEIT in der Rubrik HORIZONT erschienen. In dieser Rubrik geht es um andere gesellschaftliche Wirklichkeiten und konkrete Veränderungsmöglichkeiten.
Friederike Gräff, Autorin und Journalistin, ist Redakteurin bei der taz und lebt in Hamburg. Zuletzt von ihr erschienen: Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands (Ch. Links Verlag, 2014); Schlaf. 100 Seiten (Reclam Verlag, 2019).
Von der Autorin empfohlen:
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Erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (dtv, 2005)
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Natalia Ginzburg: Das imaginäre Leben (Verlag Klaus Wagenbach, 1995)
FILM
Die Frau mit den fünf Elefanten von Vadim Jendreyko (2009)

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