Zukunft für alle – Wege zu neuen Wirtschafts- und Lebensweisen | Nina Treu & Kai Kuhnhenn

Pappschild "FIGHT FOR A BETTER TOMORROW""Foto: Thomas Spiske | Unsplash

 

Zukunft für alle – Wege zu neuen Wirtschafts- und Lebensweisen

Text: Nina Treu & Kai Kuhnhenn

Wenn wir auf den Zustand des Planeten schauen, dann stellt sich die Frage: Wohin steuern wir? In der zweiten Corona-Welle, angesichts des Erstarkens von Rechtspopulist*innen und Autokraten, welche die Klimakrise und gefährlich steigende Ungleichheiten vorantreiben, werden existenzielle Probleme offensichtlich. Gleichzeitig finden sich weltweit Menschen zusammen, um gegen Rassismus, für Klimagerechtigkeit und Umverteilung zu kämpfen. Es ist ein Schwanken zwischen vermeintlicher Normalität, dystopischen Zuständen und demokratischem Aufbruch. Vieles scheint möglich, aber wenig ausgemacht. Wie können wir diese Offenheit nutzen, um den Weg in eine bessere Zukunft einzuschlagen?

Damit dies eine Zukunft für alle wird, müssen wir die Zusammenhänge der sozialen, ökologischen und demokratischen Probleme erkennen. Sie sind alle Teil unseres herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Daher können sie nicht isoliert gelöst werden, sondern müssen in ihrer Grundstruktur angegangen werden. Doch leider scheint es einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Um aus diesem Käfig der Alternativlosigkeit auszubrechen und den Mut zu entwickeln, die aktuellen Zustände zu überwinden, müssen wir unserer Vorstellungskraft Flügel verleihen. Alte Wahrheiten und unsere Lebens- und Wirtschaftsweisen hinterfragen und groß denken. Es ist an der Zeit, uns existenziellen Fragen zu stellen: Wie wollen wir leben? Und wie kommen wir dahin?

Eine andere Wirtschaft …

Dem hat sich das Konzeptwerk Neue Ökonomie in seinem Projekt Zukunft für alle gewidmet. Zusammen mit knapp 200 Vordenker*innen aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen wurde eine Utopie für das Jahr 2048 entwickelt. Hier stellen wir die wichtigsten Vorschläge vor. Ganz zentral: Der Umbau der Wirtschaft.

  1. Der Markt wird in allen wesentlichen Bereichen zurückgedrängt. Angefangen bei Wasser, Energie, Nahrungsmitteln und Wohnraum setzt sich in immer mehr Sektoren die Vorstellung und Praxis durch, dass die meisten Dinge nicht am Markt gehandelt werden sollten, sondern materielles Grundrecht der Menschen sind. Der verbleibende Markt wird mit strengen Regeln auf ein gemeinwohlorientiertes Wirtschaften festgelegt.
  2. Anstelle des Marktes treten soziale Garantien. Sie sorgen dafür, dass jede Person angstfrei leben kann, und ermöglichen gesellschaftliche Teilhabe für alle. Die sozialen Garantien stehen jeder Person zu, unabhängig von und zusätzlich zu weiterem Einkommen. Was die Garantien genau umfassen, wird demokratisch festgelegt und variiert nach Region. Viele Regionen haben sich auf zwei Bestandteile der Garantien geeinigt: umfassenden Zugang zu öffentlich hergestellten Infrastrukturen (für Bildung, Kinderbetreuung, Wohnraum etc.) sowie ein bedingungsloses Grundeinkommen für weitere Bedürfnisse (zum Beispiel Kleidung, Café-Besuche, Kulturveranstaltungen).
  3. Die Produktion wird einerseits auf öffentliche Betriebe verlagert, andererseits auf selbstorganisierte Alternativen. Der öffentliche Verkehr wird zum Beispiel meist durch vergesellschaftete Betriebe organisiert, während sich im Bereich der Landwirtschaft solidarische Landwirtschaftsprojekte durchgesetzt haben. In manchen Gegenden bilden sich auch größere Netzwerke von Beitragsökonomien, das heißt Wirtschaftsformen, in der alle nach ihren Möglichkeiten beitragen, ohne die heute so übliche Tauschlogik und Geld.
Das agora42-Probeabo

Testen Sie agora42 mit unserem Probeabo!

Sie erhalten zwei Ausgaben für 20€ – sowie unser Heft GESELLSCHAFTLICHER WANDEL? gratis dazu!

… und Wirtschaftsstruktur

Da diese Wirtschaft 2048 ein anderes Ziel hat – nämlich Grundbedürfnisse und kulturelle Bedürfnisse zu befriedigen –, ist sie grundlegend anders strukturiert als noch in den 2020er-Jahren.

Sorgearbeit, also das Kümmern um junge, kranke, alte Menschen steht im Zentrum des Wirtschaftens. Entsprechend wurde der Care-Sektor – Pflege, Medizin, Gesundheitsversorgung und Erziehungsarbeit – stark ausgebaut. Sind diese Bereiche heute durch schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne gekennzeichnet, wird in der Zukunft klar sein, dass sie die Basis jeder Gesellschaft sind. Dementsprechend werden viel mehr Menschen in diesen Bereichen tätig sein, und die Arbeit wird gesellschaftlich hoch anerkannt, befriedigend und dort, wo sie als Lohnarbeit organisiert ist, gut entlohnt sein. Auch Kultur und Bildung werden einen hohen Stellenwert haben.

Andere Bereiche werden wichtig bleiben, so wie Landwirtschaft, Energieerzeugung und Maschinenbau. Auch hier wird dann allerdings anders produziert, nämlich nachhaltig und sozial gerecht. Es werden nur noch solche Produkte hergestellt, die gesellschaftlich als sinnvoll erachtet werden.

Ressourcenintensive industrielle Produktion wird hingegen stark zurückgefahren. Konkret wird es kaum noch Schwerindustrie, Automobilindustrie, Bergbau und Baugewerbe geben. Außerdem werden ganze Industriezweige und Dienstleistungssparten wegfallen, die keinen Beitrag zur Erfüllung wichtiger Bedürfnisse leisten oder einfach überflüssig sind. Dazu zählen Rüstungs-, Werbe- und Versicherungsindustrie sowie große Teile der Finanzwirtschaft. In den Bereichen, wo sich Menschen demokratisch dafür entscheiden, wird die Produktvielfalt eingeschränkt. Geplanter Verschleiß und schnell wechselnde Wegwerf-Moden wird es nicht mehr geben. In anderen Bereichen wird sich durch die dezentrale Wirtschaftsstruktur wegen regionaler Besonderheiten bei Ressourcen und Bedürfnissen sowie Kultur und Tradition eine viel größere Vielfalt entwickeln, zum Beispiel beim Bauen.

Die Wirtschaftsstrukturen werden zukünftig deutlich regionaler sein als früher – die meisten Dinge werden in der eigenen Region und in einem Umkreis von maximal 200 Kilometern produziert, und nur wenn unbedingt notwendig werden Güter über längere Strecken transportiert. Überregionalen Handel treiben nur kooperative Organisationen – dazu zählen von den Mitarbeitenden kontrollierte und geführte Betriebe, Verbraucher- und Produzent*innen-Kooperativen, vergesellschaftete und öffentliche Unternehmen, globale Netzwerke von solidarisch-verwalteten Gremien, technisch-wissenschaftliche Kooperativen und viele mehr.

Diese grob skizzierte Welt ist dabei nicht ohne Widersprüche, sondern eine Übergangsphase mit Elementen des Vergangenen und des Neuen. Wir glauben nicht daran, dass die Transformation so funktioniert, dass ein Masterplan entworfen wird und zu einem bestimmten Stichtag alles umgestellt wird.

Der Weg dorthin

Bleibt die Frage, wie wir dahin kommen. Die erste Antwort darauf lautet: Wir sind schon da!

Menschen erproben an vielen Orten veränderte Institutionen, Infrastrukturen oder Organisationsformen jenseits von Markt und Staat. Diese Freiräume – von der Solidarischen Landwirtschaft über den selbstorganisierten Kinderladen bis hin zu Genossenschaftsbetrieben – sind Labore, in denen andere Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens eingeübt werden. Sie entstehen innerhalb und trotz der alten Strukturen – nehmen aber ein zukunftsfähiges Gesellschaftssystem im Kleinen vorweg. Freiräume verändern Menschen und unsere Wünsche, stellen Lernräume dar und sie können in Kombination mit anderen Strategien qualitative Veränderungen sozialer Systeme nach sich ziehen.

Eine zweite Strategie setzt bei heutigen Strukturen, Institutionen und Gesetzen an und versucht, diese schrittweise zu verändern. Wenn diese politischen Reformen dabei über das aktuell vorherrschende Gesellschaftssystem hinausweisen und weitere Transformationen begünstigen, lassen sie sich als revolutionäre Realpolitik beschreiben. Am Beispiel der Mobilität lässt sich dieser Unterschied gut darstellen: Die Förderung von privaten Elektroautos zementiert Strukturen des motorisierten Individualverkehrs, die mit enormen sozialen und ökologischen Kosten (zum Beispiel Unfälle, Straßenbau, Ressourcenverbrauch) verbunden sind. Die Förderung des ÖPNV oder der Ausbau von Fahrradwegen hingegen ermöglicht den Umstieg auf ein zukunftsfähiges Mobilitätsmodell. Weitere Beispiele für revolutionäre Realpolitiken sind eine Verringerung der Erwerbsarbeitszeit, radikale Umverteilung von Einkommen und Vermögen, zum Beispiel durch Steuern, kommunale Mitbestimmung oder ein Grundeinkommen.

Einer dritten Strategie schließlich geht es darum, Gegenmacht aufzubauen. Denn andere Wirtschaftsstrukturen von unten zu entwickeln und grundlegende Reformen zu erreichen braucht nicht nur Mehrheiten in der Bevölkerung, sondern auch die konkreten Mittel, Ressourcen und die gesellschaftliche Macht, um die dafür notwendigen Veränderungen durchzusetzen. Grundlegende Gesellschaftstransformationen sind nur möglich, wenn sich die vielfältigen Akteur*innen – von den Medien über Parteien bis hin zu ökonomischen Pionier*innen – zusammenschließen, um zukunftsweisende Bündnisse zu schmieden und Diskurse zu verschieben. Also eine Weltsicht zu verbreiten, die für eine Zukunft für alle jenseits von Herrschaftsverhältnissen steht, und diese gemeinsam zu erkämpfen: inklusiv, feministisch, anti-rassistisch, dekolonial, ökologisch, demokratisch, erreichbar. Hierfür müssen wir uns auf den Straßen, in den Betrieben, Krankenhäusern und Parlamenten für grundlegende Veränderungen in den Köpfen und in den zwischenmenschlichen Beziehungen einsetzen.

All diese Strategien müssen dabei an den gesellschaftlichen Entwicklungen ansetzen, die zum jeweiligen Zeitpunkt stattfinden und oft krisenhaft verlaufen. Derzeit zeigt die Corona-Pandemie, wie stark Krisen Gesellschaften verändern – und manchmal auch Möglichkeitsfenster für eine Zukunft für alle sein können, wenn sie genutzt werden. ■

Dieser Text ist zuerst in agora42 1/2021 WAHRHEIT & WIRKLICHKEIT in der Rubrik ZUKUNFT FÜR ALLE erschienen. In der Rubrik ZUKUNFT FÜR ALLE erkundet das Konzeptwerk Neue Ökonomie e. V. Wege zu neuen Wirtschafts- und Lebensweisen jenseits der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft. Das Konzeptwerk Neue Ökonomie setzt sich für eine soziale, ökologische und demokratische Wirtschaft und Gesellschaft ein. Es eröffnet Bildungs- und Austauschräume rund um Themen des sozialökologischen Wandels und will zeigen, dass alternative Wirtschaftsformen schon heute existieren und als Anknüpfungspunkte für diesen Wandel dienen.
Nina Treu
Nina Treu ist Ökonomin und Politikwissenschaftlerin sowie Mitbegründerin des Konzeptwerks. Sie organisiert gerne große Veranstaltungen mit, diskutiert über Strategie und schreibt zu unterschiedlichen Themen rund um gesell- schaftliche Transformation.
Kai Kuhnhenn
Kai Kuhnhenn ist Umweltwissenschaftler und seit 2013 Teil des Konzeptwerks. Er arbeitet im Projekt „Zukunft für alle“ mit und beschäftigt sich sonst mit Wirtschaftswachstum als blindem Fleck der Klimapolitik und Klimawissenschaft.

Diese Ausgaben von agora42 könnten Sie auch interessieren: