Albert Camus und die Ethik des Absurden – von Andreas Luckner

Albert Camus und die Ethik des Absurden

von Andreas Luckner

Manche Texte sind für ihren Anfangssatz berühmt: „Nennt mich Ismael“ (Melville, Moby Dick); andere für ihren Schlusssatz: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr“ (Kafka, Das Urteil) oder „So lebte er hin“ (Büchner, Lenz). Kein Text aber dürfte für seinen Anfangs- wie für seinen Schlusssatz zugleich berühmt sein, mit einer Ausnahme: Albert Camus’ Der Mythos des Sisyphos. Der erste Satz dieses großen Essays von 1942 lautet: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord“; der letzte: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Zwischen diesen beiden Sätzen entwickelt Albert Camus seine Logik des Absurden, in der es schlichtweg ums Ganze geht, das Ganze des Lebens und der Welt, des Daseins. Der noch nicht einmal Dreißigjährige schreibt über diese eher weitläufige und bisweilen dunkle Angelegenheit in einer hellen, klaren Sprache, ganz unakademisch, frech-lebendig und kräftig, weshalb er bis heute der Philosophenzunft suspekt ist. Jeder, der einmal den Mythos des Sisyphos oder andere philosophische Essays gelesen hat, wird bemerken, dass es Camus um ein Denken ging, das in das Leben einzugreifen vermag, um eine Philosophie, die praktisch in dem Sinne ist, dass sie uns zu einem guten Leben verhilft und nicht nur zu einer besseren Theorie über das gute Leben.

 

Sinnlos, das Ganze

Die Grundfrage der Philosophie ist dementsprechend, wie gleich im zweiten Satz des Essays klar wird: Ist das Leben es wert, gelebt zu werden? Alles andere – „ob die Welt drei Dimensionen hat und der Geist neun oder zwölf Kategorien“ – kommt danach. Angesichts der drohenden Absurdität und Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens, des Lebens des Einzelnen wie auch desjenigen der Gattung, muss man aber damit rechnen, so scheint es, dass es auf diese Frage keine positive Antwort gibt. Wenn das Leben sich als sinnlos herausstellt, nun ja, dann könne man sich ja auch gleich umbringen, so der gängige Gedankenreflex. Aber dies wäre freilich nur dann die Konsequenz, wenn der Wert eines Lebens allein in seinem Sinn läge. Eine haltlose These.

Das Klammern an einem biografischen oder historischen Sinn, an einer Handlungs- und Lebensorientierung, am Sinn des Daseins überhaupt ist nach Camus zunächst einmal nur Ausdruck des verzweifelten Versuchs, der grundlegenden Absurdität des Lebens zu entrinnen. Es gibt weitere solche Versuche, hierzu gehört auch und gerade der unter Philosophen verbreitete „geistige Selbstmord“, der Versuch nämlich, über den sich öffnenden Abgrund des Daseins ein tragendes Netz aus Sinnfäden zu spinnen – und auch der Sprung in den Glauben, wie ihn die Existenzdenker Søren Kierkegaard und Friedrich Heinrich Jacobi als unvermeidlich herausstellten, erweist sich angesichts der Absurdität des Daseins als ein Salto mortale der Vernunft in ein Sinn-des-Daseins-Trampolin.

Was den Sinn des Lebens betrifft, gibt uns Camus in nahezu allen seinen Texten, gleich ob philosophisch oder literarisch, folgenden Bescheid: Lasst alle Hoffnung fahren! Aber dies wiederum bedeutet nicht – so Camus’ heller Gedanke in der abgründigen Dunkelheit –, dass das Dasein wertlos wäre, im Gegenteil! Absurdität impliziert nicht Wertlosigkeit: Ein Sinn kann ein Wert sein, muss aber nicht. Wir können, so Camus’ Lektion, auf den Sinn unseres Daseins pfeifen – und wir sollten dies sogar tun, weil die Hoffnung auf einen (irgendwo zu findenden) Sinn uns daran hindert, im Hier und Jetzt zu leben und damit den Eigenwert des Lebens zu erfahren.

Es gibt also gar keine notwendige begriffliche Verknüpfung von „Sinn“ und „Wert“. Man kann sicherlich aus einem sinnerfüllten Leben oder aus unmittelbar sinnhaften Tätigkeiten Wert und Kraft ziehen, denken wir nur an die Erziehung unserer Kinder oder die Rettung eines Menschen in Gefahr (und Camus wäre der Letzte, der das in Frage gestellt hätte). Aber es gibt hier mindestens zwei Dinge, die einen am Wert des Sinnes zweifeln lassen können (ohne dass dies Camus groß ausführen müsste): Erstens kann der biografische oder historische Sinn eines Ereignisses, einer Handlung sich nur im Nachhinein zeigen – sogar Hegel, der große Antipode des Camus’schen Denkens, hätte das so gesagt – und zweitens lässt sich die Sinnfrage in einem immer größeren Rahmen stellen, solange, bis man auf die denkbar größte Absurdität trifft: den fehlenden Sinn des Ganzen. Es ist klar, dass es auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen keine positive Antwort geben kann, denn das Ganze ist vollendet grundlos, ja muss es sein, sonst wäre es nicht das eine Ganze – eine Gedankenfigur, die Camus in seiner Beschäftigung mit Plotin kennengelernt hat. Das Ganze hat weder Sinn noch Grund; wenn überhaupt diese Worte hier gebraucht werden sollen, ist es Sinn beziehungsweise Grund seiner selbst. Der letzte Grund ist ein Un- oder Abgrund, sonst wäre er nicht der letzte. Deshalb: Unsere Existenz ist grundlos und vollkommen zufällig. In uns kommt dieser Abgrund des Seins letztlich nur zu Bewusstsein.

 

Der frühe Camus

Über die beiden Nordafrikaner Plotin und Augustinus schrieb Camus seine Examensarbeit zum Abschluss seines Philosophiestudiums in Algier im Jahre 1936. Holen wir an dieser Stelle ein wenig Biografisches nach: Albert Camus wurde 1913 als Sohn einer spanischstämmigen Mutter und eines aus dem Elsass stammenden Vaters in einem kleinen Weinort an der algerischen Küste geboren, wo der Vater als Kellermeister arbeitete; Camus hat seinen Vater, der im Ersten Weltkrieg in der Marneschlacht fiel, nie kennengelernt. In ärmlichen Verhältnissen wuchs Camus bei der fast taubstummen, analphabetischen Mutter und der gestrengen Großmutter in Algier auf. Schon als Jugendlicher litt Camus an einer Tuberkulose, die er Zeit seines Lebens nicht loswurde und die ihn häufig zu Kuren in Südfrankreich zwang, wo das Klima ihm zuträglicher war als in Algerien oder später in Paris. Während seines Studiums in den 1930er-Jahren an der neu gegründeten Universität in Algier spielte er in mehreren Fußballvereinen. „Alles, was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball“ hat er 1953 in der Vereinszeitschrift des Universitätsfußballclubs geschrieben; natürlich wäre es in ethischer Hinsicht spannend zu erfahren, was genau es wohl gewesen sein mag, was er dort gelernt hat, ob es die Unberechenbarkeit der Bälle gewesen ist, die dort auf ihn zuflogen (er war Torwart), oder die Solidarität der Spieler des für seine vielen unverdienten Niederlagen bekannten Vereins – wir wissen es nicht.

Camus begann zu schreiben, trat der Kommunistischen Partei bei, die er aber nach wenigen Jahren wieder verließ, gründete ein Theater, in dem er eigene Stücke aufführen ließ, arbeitete bei einer Zeitung als Redakteur und ging schließlich 1940 nach Paris, wo er auch seinen ersten Roman Der Fremde fertigstellte, durch den er schlagartig bekannt wurde. In der Folgezeit pendelte er häufig zwischen dem besetzten Frankreich und Algerien, und dort vor allem nach Oran, wo er seine (zweite) Frau zurückgelassen hatte, und schloss dort 1942 Der Mythos des Sisyphos ab.

 

Das Absurde

Schauen wir noch ein wenig hinein in dieses Schlüsselwerk! Camus schreibt dort, dass die Absurdität nur dort entstehen kann, wo es einen „Zusammenstoß des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird“, gibt. Die Absurdität verweist auf einen Anspruch, den wir als Menschen haben und der das Maß aller Dinge ist: Wie kann man angesichts der Absurdität bestehen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren? Dem Absurden zu begegnen heißt, wie wir schon erfahren haben, auf jeden Fall nicht, ihm durch Flucht und Unaufrichtigkeit das Feld zu überlassen, wie dies in den realen oder geistigen Selbsttötungen geschieht. Dem Absurden begegnet man, indem man sich gegen es auflehnt, ihm nicht etwa Sinn, sondern vielmehr Wert abtrotzt. Wir stiften Wert, indem wir auf den Anspruch hören, der sich in uns angesichts des Absurden meldet, wenn wir nur aufmerksam sind. Die revolté, wörtlich die „Umwendung“, die „Zurück“- und „Hinwendung“ zum Leben gibt ihm seinen Wert.

Voraussetzung für einen solchen lebensbejahenden, aber nüchtern-klaren Blick, der aus allen Schriften Camus’ spricht, ist die Aufrichtigkeit (honnêteté). Dieser Camus’sche Begriff authentischen Existierens verweist darauf, dass es uns in den widrigsten, lebensfeindlichsten Umständen möglich ist, ein gutes, menschenwürdiges, ja, sogar glückliches Leben führen zu können. Dies aber nicht etwa dadurch, dass man sich über die Situation beruhigt, sie sich schön macht, redet oder trinkt, sondern im Gegenteil im Hier und Jetzt den Kampf für ein menschenwürdiges Leben aufnimmt. Wichtig hierbei ist das Kämpfen, nicht das Siegen.

Noch mehr: Die Absurditätserfahrung ist nach Camus für einen aufrichtigen Menschen nicht nur unvermeidlich, sondern für ein glückliches Leben sogar notwendig (wenn auch nicht hinreichend): Es gibt kein Glück ohne die grundlegende Erfahrung der Absurdität. Glücklich kann nach Camus nur sein, wer radikal die Grundlosigkeit seines Daseins erfährt und damit eine Nähe zur Welt gewinnt, die es ohne die Absurdität nicht geben könnte: „Glück und Absurdität sind Kinder ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar.“

Damit sind wir bei Sisyphos selbst angelangt, den wir uns ja, nach Camus‘ berühmtem Schlusssatz, als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen, trotz – oder besser: wegen – der Absurdität seines Daseins. Niemand versinnbildlicht besser die Sinn- und Zwecklosigkeit des Daseins als diese mythische Figur, die einen Felsen den Berg hinauf zu wälzen hat, und, kaum, dass sie oben angelangt ist, zusehen muss, wie der Felsen wieder den Berg hinabrollt. Wer würde hier nicht resignieren wollen! Sisyphos aber hat, anders als wir, durchaus einen Vorteil, der auf den ersten Blick wie ein Handicap aussieht: Er ist schon tot. Er büßt die von den Göttern verhängte Strafe für seine Untaten im Hades ab und kann sich der Absurdität weder durch physische noch geistige Selbsttötung entziehen. Dadurch kann er als der absurde Held gelten, uns zum Vorbild. Wo nun, von außen betrachtet, bloße Sinn- und Zwecklosigkeit herrscht, besteht die untilgbare innere Freiheit, die absurde Freiheit des Sisyphos darin, seine Situation zu erkennen und sich die Möglichkeiten, die in ihr liegen, anzueignen: „Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.“ Es ist diese souveräne Selbstaneignung, die Camus für seine Ethik des Absurden interessiert.

 

Revolte, Maß und Solidarität

Dies alles hört sich nun alles einerseits nach stoischer Ethik, andererseits nach Nietzsche an – und ja, Camus war Stoizist und Nietzscheaner. So folgt er Nietzsche und den Stoikern darin, gegen die nihilistischen Tendenzen des Zeitalters (und später in den 1950er-Jahren auch gegen seine eigenen Depressionen) eine lebensbejahende Haltung, eine Liebe zum Schicksal zu entwickeln. Wie Nietzsche in seinem Zarathustra, propagierte er ein „Bleibt der Erde treu!“ – man lese nur einmal die knapp zehn lebensprallen Seiten der frühen Erzählung Hochzeit in Tipasa, dann weiß man, wie ein solcher irdischer Spiritualismus sich ausdrücken kann (den manche mit Materialismus verwechseln). Anders aber als etwa Nietzsche, der mit seiner Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen letztlich alles, auch und gerade so etwas wie Grausamkeit ins Recht setzt, steht Camus’ Ethik des Absurden für eine solche Liebe zum Schicksal ein, der gleichsam ein Maß eingebaut ist. Der willkürlichen Setzung von Werten stellt er die wahre Souveränität durch die absurde Freiheit entgegen, aufgrund der wir auch gegen die Absurdität willkürlicher Wertsetzungen revoltieren.

Anders als Nietzsche und auch noch Scheler behaupteten, ist dieses Revoltieren nicht etwa Ausdruck eines Ressentiments, eines nach Rache suchenden Gefühls, zu kurz gekommen zu sein – im Gegenteil, es ist gerade die Revolte, durch die der Wert des Lebens gegen den Sog der Sinnlosigkeit und Absurdität gestiftet wird. Werte werden (unwillkürlich) gestiftet, nicht (willkürlich) gesetzt. Der „maßlosen“ Ideologie der willkürlichen Wertsetzungen, wie sie nicht selten Nietzsche und den Existenzialisten zugeschrieben werden, setzt Camus hier ein „mittelmeerisches Denken“ entgegen, ein Maß- und Mittehalten, wie es ja auch für die antiken Ethikansätze charakteristisch war. Camus vertritt damit, so könnte man sagen, eine moderne Tugendethik – nur dass an die Stelle der das Maß vorgebenden menschlichen Natur die Leerstelle der Absurdität getreten ist, die uns aber, sofern wir nur aufrichtig sind im Sinne eines authentischen Existierens, wie von alleine den Wert des Lebens erkennen lässt. In der Auflehnung zeigt sich selbst schon ein Maß – welches per se nichts Unmäßiges, Absolutes sein kann, sondern ein Richtiges für das Hier und Jetzt.

Im Paris der 1940er-Jahre traf Camus auf Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Noch vor den beiden schloss sich Camus der Résistance an und wurde später Chefredakteur der Zeitschrift Combat. Aus der anfänglichen Freundschaft wurde spätestens 1951 mit dem Erscheinen des Essaybandes Der Mensch in der Revolte eine Gegnerschaft, in der durchaus auch die nordafrikanische Herkunft und die mangelnde philosophische Kompetenz Camus’, die Sartre thematisierte, eine Rolle spielten. Ob die wechselseitigen Vorwürfe berechtigt sind oder nicht, soll hier nicht entschieden werden. Allerdings: Camus steht für die Revolte, nicht für die Revolution, jedenfalls nicht für die gewaltsame, aber auch nicht für die (sozialdemokratische) Reform. Mit der Revolte geht die Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit einher sowie die Hinwendung zum Leben, des eigenen wie das der anderen. In der wertschaffenden, revoltierenden Umwendung des wie immer auch sinnlosen, aber deswegen niemals wertlosen Lebens liegt unsere absurde Freiheit und damit die Möglichkeit der Verbindung mit Welt und Erde, die Möglichkeit, spontan solidarische und direkt-demokratische Lebensformen zu entwickeln.

In der Revolte, in der Auflehnung und Empörung gegen die in den totalitären Ideologien sich aussprechenden Unmenschlichkeiten im Namen des Menschen liegt daher auch schon ein Weiteres, nämlich die Solidarität mit den konkreten anderen Menschen. „Ich empöre mich, also sind wir“ heißt es in Der Mensch in der Revolte. Ging es im Mythos des Sisyphos – wie auch in den zeitlich korrespondierenden Werken, dem Roman Der Fremde und dem Drama Caligula – um die individualethische Frage der Bedingungen der Wertschätzung des Lebens, wendet Camus sich in seinem zweiten großen philosophischen Essay – sowie auch schon in dem 1947 erscheinenden Roman Die Pest, der ihn vollends berühmt machte – der Frage zu, was die Absurdität für die politische Ethik bedeutet. Er erteilt darin jedweder geschichtsphilosophischer Legitimation von Gewalt, wie sie etwa im Marxismus seiner Zeit – und damit waren natürlich auch Sartre und de Beauvoir gemeint – mit der Rechtfertigung der sowjetischen Gulags offen zutage trat, eine harsche Absage. Camus’ allzeit heftige Ablehnung der Todesstrafe, seine Bewunderung für Gandhi, sein Antinationalismus und sein Eintreten für ein Europa ohne Grenzen werden vor diesem Hintergrund erklärlich – auch seine Position in der Algerienfrage, die ihm viel Kritik eingebracht hatte, weil er, obwohl scharfer Kritiker der französischen Algerienpolitik, dennoch nicht Partei für die von Moskau (und Franco!) gestützte Nationale Befreiungsfront (FNL) ergriff.

Der Mensch in der Revolte ist dabei allerdings nicht, wie die Nachrede Sartres glauben machen wollte, ein „sozialdemokratisches“, das heißt bürgerlich-humanistisches Buch, sondern es ist vielmehr Ausdruck einer libertär-anarchischen Haltung, die auf die Möglichkeiten progressiver Formen menschlicher Solidarität verweist. Camus’ politisch-historische Bezugspunkte für den Mensch in der Revolte sind die Selbstverwaltungs- und Rätedemokratiestrukturen der Pariser Commune oder die des „kurzen Sommers der Anarchie“ im Spanien von 1936. Er plädiert für eine globale Lokalität des Politischen, nicht für Provinzialismus. In wirtschaftsethischer Hinsicht zeichnet sich eine deutliche Nähe zum Anarchosyndikalismus ab, bei dem die Produktionsmittel in den Händen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft und nicht etwa denen des Staates liegen. Es sind Proudhon, Kropotkin und Pelloutier, die hier gedanklich Pate stehen, nicht Marx, Lenin oder gar Stalin. Dieser „linke Antikommunismus“ (Onfray) ist es gewesen, den die moskautreue Pariser Intellektuellenschaft Albert Camus nicht hat durchgehen lassen.

 

Das absurde Ende

Im Jahre 1957 fiel Camus der Nobelpreis für Literatur zu, in einer Phase, die er selbst als eine tiefe Schaffenskrise mit einhergehenden Depressionen und Suizidgedanken beschrieben hat. Von dem Preisgeld kaufte er sich ein kleines Anwesen in seinem geliebten Lourmarin am Fuße des Luberon in der Provence. Wäre das Leben ein Theaterstück, was es freilich nicht ist, hätte man das Ende des Schöpfers der absurden Ethik nicht besser in Szene setzen können: Michel Gallimard, ein Freund und Neffe seines Verlegers, überredete Camus, als Beifahrer in seinem Luxusschlitten, einem übermotorisierten Facel Vega 3 mit 355 PS, nach Paris zurückzufahren, anstatt, wie geplant, mit Frau und den beiden 15-jährigen Zwillingen, mit dem Zug. Kurz hinter Sens platzt ein Reifen, der Wagen prallt gegen eine Platane. Albert Camus ist sofort tot, es ist der 4. Januar 1960. Michel Gallimard stirbt ein paar Tage später im Krankenhaus. An der Unfallstelle findet sich, neben der Zugfahrkarte, das Manuskript von Camus’ letztem, autobiografischem Roman Der erste Mensch, welchen seine Tochter Catherine erst 1974 als Fragment erscheinen lässt. Nach dem Stadium des Absurden und dem darauf folgenden Stadium der Revolte sollte der riesig angelegte Roman, zusammen mit einem Drama über Don Juan und Faust (Arbeitstitel: „Don Faust“) und einem geplanten Essay über das Maß und gegen die Hybris des Menschen – das Nemesis-Projekt – ein letztes Themenfeld literarisch, dramatisch und essayistisch bearbeiten: das Stadium der Liebe.

Daraus wurde nichts mehr. Es schmerzt: „Für einen absurden Menschen ist ein vorzeitiger Tod irreparabel.“


Dieser Artikel von Andreas Luckner ist in der Ausgabe 3/2019 zum Thema SINN erschienen. Weitere Ausgaben zu diesem Thema finden Sie hier: