Creativity happens – Eine Kritik der planenden Vernunft | Eduard Kaeser

PlanFoto: Sven Mieke | Unsplash

 

Creativity happens

Eine Kritik der planenden Vernunft

Text: Eduard Kaeser

Wir kennen das Phänomen der Budget-Explosion; die realen Kosten eines Projekts übertreffen fast immer die geplanten. In der Regel gibt man einer unzureichenden Voraussicht die Schuld, aber im Grunde ist das unfair, oder vielmehr: überschätzen wir die voraussehende, planende Vernunft. Wie der kluge Stratege Helmuth von Moltke einmal bemerkte, überlebt ein Plan nie den Erstkontakt mit dem Feind. Und die Realität, das sind nur Erstkontakte.

Hier ein Beispiel aus den 1950er-Jahren. Im damaligen Ost-Pakistan wurde eine riesige Papierfabrik gebaut, die Kanaphuli Paper Mills. Der Plan sah die großen Bambuswälder der Provinz Chittagong Hill Tracts als Rohmaterial vor. Aber dann erfolgte der „Erstkontakt“ mit der Wirklichkeit. Der Bambus blühte und starb ab – ein etwa alle 50 Jahre wiederkehrendes Ereignis. Toter Bambus eignet sich nicht zur Papierherstellung. Höchst aufschlussreich war nun die Reaktion auf diese Krise. Die Betreiber der Fabrik fanden rasch eine Lieferkette für Bambus aus anderen Orten, nämlich über das verästelte Flussnetz des Landes, des heutigen Bangladesch. Zudem initiierten sie ein Forschungsprogramm zum Studium schnell wachsender Bambusarten und weiterer geeigneter Hölzer. Mit dem Ergebnis, dass der ganze Betrieb auf der Basis einer Rohmaterialvielfalt viel besser funktionierte als vorausgedacht. Hätte also der Plan der Papierfabrik nicht in eine missliche Lage geführt, wären ihre Betreiber nie auf alternative Lösungen gestoßen.

Die verbergende Hand

Das Beispiel stammt von einem der originellsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, von Albert O. Hirschman. Hirschmans Folgerung ist einfach: So wie wir die planende Vernunft überschätzen, so unterschätzen wir unsere kreativen Vermögen. Und daraus folgert er: „Weil wir (…) unsere Kreativität unterschätzen, ist es wünschenswert, im ungefähr gleichen Ausmaß auch die Schwierigkeit von (…) Aufgaben zu unterschätzen; wie wenn wir uns durch den Trick dieser beiden Unterschätzungen dazu überreden würden, Probleme anzupacken, an die wir uns sonst nicht wagen würden (…). Weil wir anscheinend auf der Spur einer unsichtbaren Hand sind, die zu unserem Nutzen Schwierigkeiten vor uns verbirgt, schlage ich (als Namen des Prinzips) ‚Die verbergende Hand‘ vor.“

Das Prinzip – eine Verbeugung gegenüber Adam Smith – klingt zunächst einmal verdächtig nach der Apologie eines Unternehmertums, wie wir es vom Silicon Valley her sattsam genug kennen. Die dortigen Techno-Hasardeure werden ja nicht müde, uns Megaprojekte in schreienden Leuchtfarben auszumalen, und die „verbergende Hand“ über die Folgen der Realisierung zu halten: etwa „Superloop“, eine Schnellbahn zwischen Los Angeles und San Francisco, welche die Passagiere mit nahezu Schallgeschwindigkeit (~1200 km/h) befördert, Raketentourismus und Weltraumkolonialismus, das „Enhancement“ des Menschen durch künstlich intelligente Prothesen, um nur drei der überspannten Techno-Projekte zu nennen.

Tatsächlich traute Hirschman dieser trickreichen Risikofreudigkeit, oder vielmehr ihrem Potenzial zum Happy End, sehr viel zu. Menschen wagen sich an Probleme im Glauben, sie lösen zu können. Sie entdecken, dass sie schwieriger als erwartet sind, aber, weil sie nun schon mittendrin stecken, nehmen sie die Weiterungen wohl oder übel in Angriff und haben manchmal Erfolg. „Kreativität überrascht uns immer“, schreibt Hirschman, „deswegen können wir uns nie auf sie verlassen, und wir trauen uns nicht, an sie zu glauben, bis sie passiert. Mit anderen Worten, wir würden nie bewusst Aufgaben übernehmen, deren Erfolg von einzutretender Kreativität abhängt. Aus diesem Grund können wir unsere Kreativität nur dann in vollem Umfang ins Spiel bringen, wenn wir Aufgaben falsch einschätzen (…), als routinehafter, einfacher, freier von notwendiger Kreativität.“

Die hinterhältige Hand

Aber das Prinzip ist uns nicht immer gnädig gesinnt. Boshaft könnte man es als Verherrlichung eines unrealistischen Optimismus bezeichnen. Wie der bekannte amerikanische Rechtswissenschaftler Cass Sunstein moniert, hat die verbergende Hand eine gutartige und eine bösartige Seite. Letztere verdeckt Hindernisse und Schwierigkeiten in Situationen, wo die Kreativität nicht oder zu spät auftaucht und dadurch den Missstand nicht zu retten vermag. Noch schlimmer: Es gibt auch die hinterhältige Hand, etwa dann, wenn man ein Projekt anstößt, von dem man weiß, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit in den Sand gesetzt wird.

Sunstein und der dänische Wirtschaftsgeograf Bent Flyvberg machten denn auch in einer empirischen Studie mit einem großen Sample klar, dass in den meisten Projekten nicht die gutartige verbergende Hand lenkt. Die Leute würden veranlasst, „weiterzufahren, ungeachtet der Hindernisse und der Inkompetenz (…) Hirschmans Enthusiasmus für Happyends hat ihn zu einer missgeleiteten Vorstellung der ökonomischen Entwicklung geführt. Die verbergende Hand ist gewöhnlich bösartig“. Der amerikanische Politologe James C. Scott listet in seinem Buch Seeing Like a State eine nicht gerade ermutigende Vielzahl von „gut gemeinten“ Projekten auf, die in Desaster mündeten; etwa urbanistische Megapläne à la Corbusier oder soziopolitische Pläne wie die totale Maschinisierung des Sowjetstaates à la Lenin.

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Dialektik von Plan und Zufall

Und dennoch: Man kann das Prinzip der verbergenden Hand als eine Kritik der planenden Vernunft, als eine allgemeine Dialektik von Plan und Zufall interpretieren. Anders gesagt: Wer nicht geplant und gezielt sucht, findet oft mehr. In diesem Geist hat ein anderer Ökonom, der Brite John Kay, ein verwandtes Prinzip formuliert: das Umweg-Prinzip oder Prinzip der Obliquität. „Oblique“ bedeutet „schräg“ oder „schief“. Das Prinzip lautet: Wenn du es mit einem komplexen Problem zu tun hast, suche nicht unbedingt Lösungen, die direkt vor deinen Augen liegen, sondern suche Wege schräg zum direkten Weg, mache sogar Umwege. In diesem Sinn sind Unternehmen häufig profitabler, wenn sie nicht optimalen Profit, Sportler*innen erfolgreicher, wenn sie nicht den Rekord, Künstler*innen origineller, wenn sie nicht Originalität, Techniker*innen innovativer, wenn sie nicht Neues anstreben. In seiner Autobiografie schrieb der Philosoph John Stuart Mill über das Glück: „Bloß diejenigen sind glücklich, (…) welche ihren Sinn auf etwas anderes als das eigene Glück gesetzt haben (…). Während man so auf etwas anderes abhebt, findet man das Glück unterwegs.“

Karte und Gelände

Mit Prinzipien dieser Art ist das allerdings so eine Sache. Sie arbeiten eng mit der Komplizin Fortuna zusammen. Manchmal funktionieren sie, viel öfter jedoch nicht. Sie sind überdies nicht eine Aufforderung zu plan- und ziellosem Vorgehen. Sie bringen nur eine häufig gemachte Erfahrung auf den Punkt: Absicht und Ergebnis einer Anstrengung stehen in einem schiefen Verhältnis zueinander. Das liegt zum einen daran, dass Absichten oft verschlungen und nicht ganz transparent sind; zum anderen, dass direkte Wege eigentlich nur auf Karten existieren. Aber wie es so schön heißt: Die Karte ist nicht das Gelände. Die reale Welt – das sind Umwege, sprich: ungedeckte Versuche, kurzfristige Entscheidungen, begrenzte Optionen, unerwartete Hindernisse und ungeplante Funde. Umwege ersieht man nicht aus Karten. Und weil viele Umwege existieren, existieren in der Regel auch viele Lösungsmöglichkeiten. „Es gibt keine Alternativen“ ist einer der dümmsten Sprüche der Menschheitsgeschichte.

Wir befinden uns in den ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts in einer historischen Komplexitätskrise. Die Erfahrungen des Klimawandels, der irreversiblen ökologischen Eingriffe, der unerwarteten Nuklearkatastrophe von Fukushima, der unvorhergesehenen Kollapse von Finanzinstitutionen, jüngst der Pandemie dürften uns allmählich vor Augen führen, dass die Welt vertrackter ist, als sie auf den Karten und Agenden einer planenden Vernunft erscheint. Wie der Philosoph Alfred N. Whitehead einmal bemerkte, sollte das Motto eines Planers lauten: Suche Einfachheit, aber misstraue ihr. Genau dies drücken die genannten Prinzipien aus: Unterschätze nicht die Kapriolen eines komplexen Problems; erst auf Umwegen lernst du es richtig kennen, weil Umwege auch die Imagination stärken. Wenn es um komplexe Probleme geht, dann ist planende Vernunft oft exakt das Hindernis, das zu überwinden sie sich einredet. ■

Dieser Text ist zuerst in agora42 1/2022 AUFKLÄRUNG erschienen.
Eduard Kaeser studierte theoretische Physik, anschließend Wissenschaftsgeschichte und Philosophie an der Universität Bern. Er publiziert über Themen zwischen Wissenschaft und Philosophie. Neueste Publikation: Die Erde ist eine Keimträgerin (Schwabe Verlag, 2021).
Blog: http://kaeser-technotopia.blogspot.com/
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed (Yale University Press, 1998, nur English)
ROMAN
Ich würde die (Re-)Lektüre von Voltaires Candide empfehlen.
FILM
Fitzcarraldo von Werner Herzog (1982)

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