Das Leben – unausweichlich gemeinsam | Interview mit Rahel Jaeggi

Schriftzug: FreedomFoto: Gayatri Malhotra | unsplash

 

Das Leben – unausweichlich gemeinsam

Interview mit Rahel Jaeggi

Zur Beschreibung des Sozialen verwenden Sie den Begriff der Lebensformen. Was zeichnet Lebensformen aus?

Mit „Lebensformen“ beschreibe ich, ganz ähnlich wie im alltäglichen Sprachgebrauch, eine Reihe sehr unterschiedlicher Formen menschlichen Zusammenlebens. So ist beispielsweise die bürgerliche Kleinfamilie eine Lebensform. Oder es gibt die Lebensform des Städtischen im Gegensatz zu jener der Provinz. Der Lebensformbegriff bezieht sich also – im Gegensatz beispielsweise zum Begriff der Lebensführung – weniger auf individuelle denn auf kollektive Phänomene, also auf sozial geteilte Praktiken.

Dabei ist wichtig sich klarzumachen, dass eine Praxis immer eine soziale Praxis ist. Nicht nur, wenn wir zusammen Fußball spielen, also ganz bewusst ein kooperatives, regelgeleitetes Spiel eingehen, sondern auch, wenn Sie am Schreibtisch sitzen und ein Interview vorbereiten, befinden Sie sich im Raum des Sozialen – in ihrer Rolle als Redakteur, in der Auseinandersetzung mit den Büchern, die sie zur Vorbereitung verwenden etc. Unser individuelles Handeln, unsere individuellen Interessen bewegen sich immer schon innerhalb einer Konstellation von sozial geprägten Möglichkeiten. Selbst wenn ich mich entscheide, Einsiedlerin zu werden, ist das immer noch eine soziale Praxis.

Soziale Praktiken tun sich in bestimmten Konstellationen, Ensembles oder Bündeln zusammen, eben den Lebensformen. Die Lebensform des Städtischen zeichnet sich beispielsweise durch die Praktiken aus, dass der Großstädter U-Bahn fährt, nicht an seinem Wohnort arbeitet, in Etagenwohnungen lebt, öfter umzieht und seine Nahrungsmittel nicht selbst anbaut. Dabei soll „Lebensform“ beiden Dimensionen des Sozialen gerecht werden: einerseits dem Umstand, dass es sich um menschliche Praxis handelt, also dass es darum geht, wie Menschen leben, was sie tun und wie sie es tun. Andererseits sind Praktiken aber so zu verstehen, dass sie nicht einfach nur gezieltes, reflektiertes Handeln beschreiben, sondern dass sie auch ein Muster darstellen, innerhalb dessen man handelt. Praktiken sind Dinge, die sich wiederholen. Etwas, das nur einmal getan wird, ist keine Praxis. Damit charakterisiere ich Lebensformen als „trägen“ Zusammenhang von Praktiken. Sie beruhen auf Gewohnheiten, auf Üblichkeiten. Es handelt sich um Dinge, die man in einer bestimmten Struktur immer wieder so und nicht anders tut und über die man im Zweifelsfall auch gar nicht so genau nachdenkt, die also im Hintergrund bleiben.

 

Sind Lebensformen ebenso geistig-kulturell wie sie sich auch in materieller Form – Städten, Fabriken, Äckern etc. – manifestieren?

Ja, das beinhaltet auch die materiale Dimension. Eine Stadt ist ein gutes Beispiel dafür: Durch die Art und Weise, wie die öffentlichen Räume aufgebaut sind, wird auch bestimmt, was wir in ihnen tun. Man findet eine Struktur vor, innerhalb derer praktische Abläufe ermöglicht oder verhindert werden: Die Begrenzungen durch Mauern und Gebäude, die durch den Straßenverlauf vorgegebenen Bahnungen, die Abgrenzung von zugänglichen und nichtzugänglichen Bereichen. Das geht durchaus auch in die andere Richtung: So eignen sich manchmal Jugendliche Räume an, die gar nicht als öffentliche Räume vorgesehen sind und von denen viele sagen würden, dass es unmöglich ist, sich diese irgendwie anzueignen. Aber die von ihnen angesprochenen Fabriken und Äcker sind natürlich auch ein gutes Beispiel für den „Stoff“, aus dem Lebensformen sind oder um den herum sich diese entwickeln.

 

Warum sprechen Sie nicht einfach von gesellschaftlichen Bereichen wie zum Beispiel der Familie oder der Ökonomie?

Mittels des Lebensformbegriffs kann man Praxiszusammenhänge ganz unterschiedlicher Größenordnung thematisieren: sowohl kleine oder mittlere Einheiten – die Lebensform der bürgerlichen Kleinfamilie – als auch große wie der Lebensform des Mittelalters oder der Moderne. Die bürgerliche Kleinfamilie unterscheidet sich von der feudal bäuerlichen Großfamilie hinsichtlich einer ganzen Reihe von Praktiken: ökonomische Praktiken, Praktiken der Intimität, kulturelle Praktiken. Wenn Lebensformen Ensemble von Praktiken sind, dann sind die Grenzen, die man hier zieht, immer auch davon abhängig, was man gerade thematisieren möchte.

 

Es ist in der Philosophie üblich geworden, sich einer ethischen Bewertung von Lebensformen zu enthalten. Demgegenüber sprechen Sie sich für eine Kritik der Lebensformen aus. Sind Sie der Ansicht, dass das Private in einem viel umfänglicheren Sinn politisch werden muss?

Ja. Ich würde diese Parole aber, so wie die Frauenbewegung der 1970er-Jahre es getan hat, anders formulieren. Es muss nicht politisch werden, das Private ist politisch. Es ist nicht unsere Entscheidung, ob wir das Private politisch machen wollen oder nicht. Unsere individuellen Lebensvollzüge und Entscheidungen sind eingebettet in soziale und politische Strukturen und dadurch motiviert. Sie als privat einzuhegen, ist immer eine künstliche Entscheidung, etwas, das gewissermaßen das Politisch-Sein oder besser Gesellschaftlich-Sein dessen, was man privat tut, ausblendet.

Das heißt nicht, dass das Private und das Politische deckungsgleich sind; aber die Frage, wo die Grenze zwischen beiden verläuft, ist politisch umstritten und historisch variabel, von sehr spezifischen und veränderbaren gesellschaftlichen Konstellationen abhängig. Das Artifizielle der jeweiligen Grenzziehung muss man sich klarmachen, und sich fragen, welche Folgen es hat, bestimmte Dinge auszublenden. Damit meine ich nicht nur die auf der Hand liegenden Fragen des Geschlechterverhältnisses oder der Erziehung, wo es lange hieß: „Das geht niemanden sonst etwas an, in meine persönlichen Angelegenheiten redet mir niemand rein.“ Man sollte sich bewusst sein, dass Dinge nicht naturgegeben, sondern sozial bestimmt und auch sozial veränderbar sind. Auch in Bezug auf wirtschaftliche Fragen werden für die Allgemeinheit folgenreiche Entscheidungen häufig „privat“ getroffen. Und ob das so sinnvoll ist, darüber haben viele ja angesichts der Coronakrise wieder neu angefangen nachzudenken.

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Erzwingt die drohende Klimakatastrophe die Ausweitung des Raumes der politischen Aushandlung?

Die Klimakatastrophe ist ein strukturelles Problem, wo man mit dem bloßen persönlichen Vorsatz, Müll zu vermeiden oder weniger Energie zu verbrauchen oder mal auf eine Reise zu verzichten, nicht viel ausrichten wird. Da tut man so, als ob wir uns nur persönlich läutern müssten. Das wird aber so nicht klappen, da braucht es politische Entscheidungen und veränderte ökonomische und soziale Strukturen und Ressourcen. Aber sicherlich ist es so, dass die umfassende Veränderung von Lebensformen als sozial geteilte Praktiken wesentlich für eine adäquate Reaktion auf die drohende Klimakatastrophe ist. Das Reisen, der Energieverbrauch im Allgemeinen, der Verkehr – das sind alles Dinge, die eingebettet sind in eine Vielfalt von Praktiken und Interpretationen, da sind auch sehr starke Orientierungen, Gefühle und Gewohnheiten im Spiel. Wenn man Strukturen ändern will, muss das auch hier einen Widerhall finden. Da muss man sich dann beispielsweise darüber Gedanken machen, was es eigentlich heißt, eine auf Individualverkehr setzende Gesellschaft zu sein. Was ist damit auch bis hinein ins ganz Persönlich-Habituelle verbunden? Welche Vorstellungen über das Leben, konkret zum Beispiel über persönliche Freiheit und Unabhängigkeit, die ja mit dem Autofahren immer noch stark verbunden sind, kommen hier ins Spiel und blockieren Lernprozesse? Welche Dinge muss man deshalb neu labeln? Mit dem Rauchen ist das ziemlich gut gelungen. Die Vorstellung, dass Rauchen mit Freiheit und Unabhängigkeit zu tun hat, hat sich dahingehend verändert, dass Rauchen fast schon etwas Schmuddeliges an sich hat. Und so könnte man sich vorstellen, dass auch das Autofahren, das Fliegen oder der übermäßige Verbrauch von Verpackungsmaterialien irgendwann als merkwürdige Angewohnheiten angesehen werden. Aber wie gesagt: Generell glaube ich nicht, dass man das Problem auf der Ebene individueller Einstellungen lösen wird. Da wird man schon an die Grundlagen einer auf Wachstum setzenden Ökonomie herangehen müssen. Menschen leben in Strukturen und wenn man diese verändert, verändert man das, was sie tun.

 

Sie schreiben: „Lebensformkritik ist keine Angelegenheit der Polizei.“ Wie sollen wir das verstehen? Wessen Angelegenheit ist sie dann?

Das mit der Polizei bezieht sich auf den Standardeinwand gegen die Kritik von Lebensformen, demzufolge es in einer freien Gesellschaft unser wichtigstes Gut sei, dass wir tun und lassen können, was wir wollen, solange es andere nicht schädigt; und alle weitergehenden Eingriffe Paternalismus sind. Stichwort Veggie Day. Dabei machen sich die Leute aber nicht klar, dass es in ausdifferenzierten modernen Gesellschaften extrem wenige Lebensbereiche gibt, die nicht ohnehin politisch gestaltet sind. Man sagt mir immer schon, wie ich leben soll – dadurch, dass man mir bestimmte Ressourcen bereitstellt oder nicht. Wenn es Kindergärten gibt, dann können Familien Berufstätigkeit entsprechend organisieren, wenn es Fahrradwege gibt, kann ich gefahrlos Fahrrad fahren. Löhne, Arbeitsrecht, Forschungspolitik und so weiter, all das hat Einfluss auf unsere Lebensführung. Und der Fleischkonsum, den der Veggie Day auf etwas hilflose Art eindämmen wollte, wird überhaupt erst möglich durch eine bis zum Bersten subventionierte Landwirtschaft. Von all diesen Bereichen der öffentlichen Infrastruktur bin ich abhängig – sie prägt in einer immensen Art und Weise, wie ich mein Leben führen kann.

Wenn ich sage: Es ist keine Frage der Polizei, dann reagiere ich etwas polemisch auf den Paternalismuseinwand und sage: Es geht nicht um Gebote oder Verbote, wie sie im Bereich polizeilicher Maßnahmen liegen. Die Kritik von Lebensformen betrifft eine gesellschaftliche Auseinandersetzung. Die Argumente, die wir hier austauschen, sind Argumente innerhalb einer demokratischen Auseinandersetzung, die dann in verbindliche kollektive Entscheidungen überführt werden müssen. Im Grunde geht es mir darum, dass wir nicht einfach nur sagen sollten „Jeder so, wie er will“, sondern dass wir miteinander um individuelle wie auch gesellschaftliche Selbstverständigung, um Wahrheitsansprüche oder auch um Rationalitätsansprüche ringen sollten – darum, wie wir das Leben, das eben unausweichlich gemeinsam ist, führen wollen.

 

Wenn unser Leben derart vorbestimmt ist, wo bleibt dann die Freiheit? Ist es nicht so, dass wir uns ohnehin hinsichtlich der wichtigen gesellschaftlichen Angelegenheiten gar nicht frei entscheiden können? Zum Beispiel kann ich keine Partei wählen, die explizit auf wirtschaftliches Wachstum verzichten will. Gibt es also nur noch kleine „Freiheiten“?

Zunächst: Man muss am Begriff der Freiheit festhalten. Ich halte ihn für das zentrale Prinzip nicht erst der Moderne. Sicherlich muss man aber heute feststellen, dass zum Beispiel die Freiheit, zwischen verschiedenen Dingen auf der Ebene des Konsums entscheiden zu können, erkauft wird auf Kosten einer substanzielleren Freiheit; einer Freiheit, die darin besteht, die zugrunde liegenden Fragen – etwa die danach, wie wir und warum wir was produzieren wollen – zu thematisieren, also tatsächlich die Geschicke unseres Lebens selbstbestimmt in die Hand nehmen zu können.

Und natürlich ist Freiheit ein umstrittener Begriff, und das nicht erst seit der Aneignung des Wortes durch die Coronaleugner. In diesem Streit muss man versuchen, Freiheit so zu definieren, dass sie nicht nur in einer leeren Wahlfreiheit oder in der Abwesenheit äußerer Hindernisse besteht, sondern darin, mit anderen zusammen ein sinnvolles und selbstbestimmtes Leben führen zu können – und es auch so führen zu können, dass es die nachfolgenden Generationen nicht schädigt. Das betrifft nicht nur unsere eigene Gesellschaft, denn durch die ausgelagerten Kosten unserer Lebensweise leiden ja weltweit sehr viele Menschen.

Freiheit in diesem Sinne buchstabiert sich als soziale Freiheit aus – mit Augenmerk auf die sozialen Bedingungen, Institutionen und Praktiken, in denen meine Freiheit wirklich wird. Das ist im Kern eine hegelianische Idee. Unsere Freiheit besteht in der gemeinsamen Gestaltung unserer Lebensbedingungen. Es ist Bedingung meiner Freiheit, dass die anderen genauso frei darin sind, diese Bedingungen mit mir zusammen zu gestalten.

(…)

Frau Jaeggi, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Frank Augustin und Eneia Dragomir.

Dieses Interview ist zuerst in agora42 4/2020 SOLIDARITÄT IN PREKÄROTOPIA erschienen.
Rahel Jaeggi, geboren 1967, studierte von 1990 bis 1996 an der Freien Universität Berlin und schloss ihr Studium mit einer Arbeit über die politische Philosophie Hannah Arendts ab. Von 1996 bis 2001 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main am Lehrstuhl für Sozialphilosophie bei Axel Honneth. 2002 erlangte sie den Doktortitel mit einer Arbeit zum Thema „Freiheit und Indifferenz – Versuch einer Rekonstruktion des Entfremdungsbegriffs“. 2009 erfolgte die Habilitation mit einer Arbeit zum Thema „Kritik von Lebensformen“. Seit April 2009 ist Rahel Jaeggi Professorin für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Sozial- und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort zudem seit Februar 2018 das Humanities and Social Change Center.
Publikationen (Auswahl): Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems (Suhrkamp Verlag, 2016), Kritik von Lebensformen (Suhrkamp Verlag, 2013), Sozialphilosophie. Eine Einführung (Verlag C.H. Beck, 2017), Kapitalismus – ein Gespräch über kritische Theorie (zus. mit Nancy Fraser, Suhrkamp Verlag, 2020)

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