„Der radikale Nationalismus ist ein stärkeres Gift als die frühere sowjetische Ideologie“ | Interview mit Philipp Ther

FriedensdemonstrationFoto: Markus Spiske | Unsplash

 

„Der radikale Nationalismus ist ein stärkeres Gift als die frühere sowjetische Ideologie“

Interview mit Philipp Ther

In einem Interview kurz nach Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine haben Sie gesagt, Deutschland sei „aufgewacht“. Woraus sind wir aufgewacht und wer hat sich was vorgemacht?

Russland hat die Ukraine 2022 nicht zum ersten Mal angegriffen, ich erinnere hier an die Annexion der Krim und den verdeckten Einmarsch im Donbas im Jahr 2014. Die Bundesregierung hat, von ein paar schwachen Sanktionen abgesehen, auf die russische Aggression kaum reagiert, am Bau der Ostseepipeline North Stream 2 festgehalten und sich dadurch willentlich noch mehr von russischem Gas abhängig gemacht. Man hat verschlafen, in welche Richtung sich das Putin-Regime bewegt und auch nicht genug auf die östlichen EU-Staaten und ihre Warnungen gehört. Daher wirkte der zweite Angriff Russlands gegen die Ukraine wie ein Weckruf.

Ich habe früh versucht, auf die neue Lage nach dem ersten Krieg gegen die Ukraine aufmerksam zu machen und 2015 in meiner Dankesrede nach der Verleihung des Sachbuchpreises auf der Leipziger Buchmesse eine Spendenaktion für die 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge angekündigt. Das war die größte Fluchtbewegung seit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die zweitgrößte nach dem Zweiten Weltkrieg. Leider hatten damals die Russland- und Putin-Versteherinnen und -Versteher die Oberhand. Angela Merkel gehörte nicht zu ihnen, aber sie hat die Entscheidung für North Stream 2 mitgetragen. Ich bin erstaunt, dass sie hier auch heute noch keinen Fehler erkennen und zugeben mag.

 

Mit dem Krieg sei ein neues Zeitalter angebrochen, sagen auch Sie. Welche Konturen hat dieses neue Zeitalter?

Nach 1989 und dem Zerfall der Sowjetunion konnten sich die postkommunistischen Länder und die ehemaligen Sowjetrepubliken im Rahmen ihrer Grenzen frei entwickeln. Im ehemaligen Jugoslawien wurde von 1991 bis 1995 Krieg geführt, um dieses Prinzip zu verankern. Russland setzt seit dem Einmarsch in Südossetien bzw. Georgien von 2008 auf das Recht des Stärkeren und seine militärische Übermacht. Insofern ist das bereits eine länger andauernde Entwicklung. Der gegenwärtige Krieg hat jedoch nochmals andere Dimensionen: Es ist der größte Landkrieg in Europa seit 1945 und es geht um die Vernichtung der Ukraine. Damit nicht genug: Putin hat sich vor kurzem in die Tradition Peter des Großen gestellt. Das bedeutet nichts Gutes für die Baltischen Staaten, in denen russischsprachige Minderheiten leben, die Putin für seine russische Welt („russkij mir“) reklamiert. Darüber hinaus steht immer noch Putins Forderung nach einem Rückzug der Nato aus den seit 1997 beigetreten Staaten, also auch aus Polen, der Slowakei und Rumänien, im Raum. Man kann daher ohne falsches Pathos feststellen: Die Ukraine verteidigt auch die Freiheit der EU. Zum Glück hat man das inzwischen auch in Berlin und Paris begriffen.

Als Historiker denkt man zugleich immer in etwas längeren Zusammenhängen. Nach 1989 haben die Menschen in Europa, und ich schließe hier die in Russland mit ein, von der Pax Americana profitiert, also dem Sieg der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg. Allerdings hat in der Geschichte die Hegemonie einer Großmacht oder eines imperialen Bündnissystems selten lange gehalten. Das napoleonische Europa ging ebenso unter wie das deutsche Mittel- und Osteuropa. Putin hat schon in seiner zweiten Amtszeit den Zerfall der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Er machte den Westen für den Abstieg Russlands verantwortlich und verfolgt schon seit 2005 eine anti-westliche Geschichtspolitik. Daraus folgte ein Revanchismus und nun die blanke Aggression, der man sich politisch und militärisch entgegenstellen muss, sonst geht das immer weiter. Putin schwebt eine multipolare Weltordnung vor, in der ein neoimperiales Russland über den ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion herrscht. Diese multipolare Weltordnung würde ständig neue Kriege, Zerstörungswut und Chaos mit sich bringen, wie die südlichen und westlichen Nachbarn Russlands seit mehr als einem Jahrzehnt am eigenen Leib erfahren haben.

 

In einem Text, der auch im agora42-Blog erschienen ist, unterscheiden Sie zwischen einer „patriarchalen“ und einer „aktiven Solidarität“ der EU-Staaten gegenüber der Ukraine. Welche Variante herrscht derzeit vor?

Ich meinte damit, dass wir zwar den ukrainischen Flüchtlingen helfen, aber zu wenig für die akut bedrohte Ukraine tun. Die offenen Türen und Herzen für die Flüchtlinge sind gut und wichtig, aber sie dürfen zu keiner Ersatzhandlung werden. Mit aktiver Solidarität meine ich, dass man die Ukraine auch militärisch so weit unterstützt, wie sie das von Deutschland und anderen EU-Staaten fordert und sie somit auch als gleichwertigen Partner behandelt.

Auch bei den Flüchtlingen ist es nicht damit getan, Mitleid zu haben und zu spenden, sondern sie bei der Suche nach einem Arbeitsplatz und nach Wohnungen zu unterstützen. Im Mai und Juni sind zwar etwa zwei Millionen Ukrainerinnen zurückgekehrt, weil die Hauptstadt Kyiv und die Zentralukraine nun als relativ sicher gelten. Doch etwa ein Drittel der Flüchtlinge, all jene, die aus dem Süden, dem Donbas oder dem Nordosten von Kharkiv stammen, werden etliche Jahre nicht mehr in ihre alte Heimat zurückkehren können. Russland verfolgt eine Taktik der verbrannten Erde; wenn man die Ukraine schon nicht erobern kann, macht man sie dem Erdboden gleich. Dafür steht symbolisch Mariupol, aber auch viele andere Städte und Dörfer bestehen nur noch aus Ruinen, der Wiederaufbau nach einer etwaigen Befreiung wird viele Jahre in Anspruch nehmen.

 

Vor dem Krieg war davon die Rede, die Ukraine sei ein zwischen West- und Ostorientierung gespaltenes Land. In einem Interview haben Sie gesagt, die Ukraine sei eine „Staatsbürgernation“ – welches Verständnis von Nation herrscht in der Ukraine vor? Hat sich das mit dem Angriffskrieg verändert?

Ich empfand die Rede von der Spaltung der Ukraine schon immer als übertrieben. In manchen Regionen wird mehr russisch, in anderen mehr ukrainisch gesprochen, die meisten Menschen sind sowieso zweisprachig. Spricht man im Falle Belgiens oder Kanadas deshalb von einem „gespaltenen“ Land? Als Argument für eine Spaltung wurde auch immer wieder das unterschiedliche regionale Wahlverhalten herangezogen. Doch trifft das nicht ebenfalls auf große EU-Staaten wie Deutschland und Italien zu? Blicken wir auf die Wirtschaft der Ukraine: Der Handel mit Russland und gemeinsame Produktionsketten waren im Osten viel wichtiger als im Westen. Nach der Annexion der Krim und dem Einmarsch im Donbas ist die wirtschaftliche Verflechtung mit Russland jedoch stark zurückgegangen.

Ein großes Problem der Ukraine war die starke Zentralisierung, ich habe selbst bei manchen Wissenschaftskooperationen miterlebt, wie Kollegen in Kyiv anrufen mussten, um sich Projekte oder Konferenzen genehmigen zu lassen und die Statthalter zentraler Institutionen in den Regionen wie Platzhirsche auftraten. Doch das hat sich seit 2014 geändert. Die 2019 beschlossene Dezentralisierung und Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf Regionen und Kommunen – Polen war dabei ein Vorbild – ist heute einer der Gründe, warum die Ukraine dem russischen Angriff bislang weitgehend standhalten konnte.

Die beiden Kriege von 2014/15 (der im östlichen Donbas nie ganz aufgehört hat) und von 2022 (wann er endet, ist schwer abzuschätzen) haben die Ukraine nun zu einer Staatsbürgernation zusammengeschweißt, in der es nicht mehr so sehr darauf ankommt, ob man zuhause russisch oder ukrainisch spricht, sondern wie man zur Demokratie und zum Putin-Regime steht.

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Die Publizistin Masha Gessen hat das Putin-Regime als postkommunistischen „Mafia-Staat“ beschrieben. Teilen Sie diese Charakterisierung? Wie konnte sich dieses Regime etablieren?

Diesen Begriff hat schon zuvor der Politologe Balint Magyar in einem klugen Buch über Viktor Orbán und die ungarische Regierungspartei Fidesz eingeführt. Auf Putins Regime passt es noch etwas besser, weil es gezielt Gewalt, Folter und Mord einsetzt, auch im Ausland. Außerdem ist das Regime ähnlich wie eine Mafia strikt hierarchisch organisiert und hat alle wesentlichen Ressourcen des Landes mitsamt den Oligarchen unter Kontrolle gebracht. Die kleinen Spielräume für kritische Print- und Online-Medien und für freie Unternehmer, die man wirtschaften ließ, solange sie sich nicht in die Politik einmischen, sind seit dem Februar 2022 abgeschafft. Nun wird bedingungslose Gefolgschaft verlangt, ebenfalls wie bei einer Mafia. Allerdings sollte man einen Unterschied nicht übersehen: Die Mafia hat noch nie benachbarte Staaten angegriffen und in Schutt und Asche gelegt.

 

Sie haben ein Buch über den neoliberalen Umbau des Ostblocks nach dem Ende des Kalten Krieges geschrieben. Darin beschreiben Sie, die ökonomische „Schocktherapie“, die gerade auch in Russland zu einer nachhaltigen Delegitimation der Demokratie geführt hat. Wurden dadurch die Grundlagen für das System-Putin gelegt?

Die Russländische Föderation hat in den 1990ern zwei ökonomische Schocks erlebt, erst durch die Reformen Anfang der 1990er Jahre, die dort allerdings ohnehin nicht so wirkten wie beabsichtigt und auf starken Widerstand in der alten Nomenklatura stießen, dann 1998 durch die Rubelkrise, in der zahlreiche Banken zusammenbrachen und erneut viele Menschen verarmten. Dazwischen lag eine Depression, deren Ausmaß man mit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren in Deutschland vergleichen kann. Die Demokratie konnte sich unter diesen Rahmenbedingungen nicht entwickeln, stattdessen entstand eine ökonomische Oligarchie, die schließlich auch das politische System vorformte. Das war die Grundlage für das System Putin. Viele Russen sehnten sich nach einem starken Mann, der das Chaos beendet, den Staat stabilisiert und die verhassten Oligarchen unter Kontrolle bringt. In seiner zweiten Amtszeit setzte Putin dann auf einen klar anti-westlichen Kurs.

 

In der Diskussion ist oft eine Engführung der Analysen auf Putin wahrzunehmen – es sei Putins Krieg und Putin müsse gestoppt werden… Versperrt diese Verengung nicht die notwendige Analyse der strukturellen Bedingungen des Regimes in Russland? Wäre das Problem wirklich gelöst, wenn Putin als Person entmachtet werden würde?

Ich glaube nicht, dass es so bald zu einem Putsch kommen wird, denn nur so ließe sich Putin entmachten. Es ist auch schwer vorherzusagen, ob sein Nachfolger weniger nationalistisch und imperialistisch agieren würde. Ich fürchte, dass sich ein großer Teil der russischen Gesellschaft aufgrund der täglichen Propaganda in eine mentale Sackgasse bewegt hat. In den 1980er Jahren hat die Niederlage in Afghanistan dazu beigetragen, dass die von Breschnew einbetonierte Sowjetunion in Bewegung kam. Man hat 2020/21 in Belarus und Kasachstan gesehen, wie schnell die jeweiligen Regimes in die Defensive kamen. Aber der radikale Nationalismus ist ein stärkeres Gift als die frühere sowjetische Ideologie.

Herr Ther, vielen Dank für das Gespräch.

Philipp Ther (*1967) ist Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien, wo er auch das Research Center for the History of Transformations (RECET) leitet. Zum Thema u.a. von ihm erschienen: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa (Suhrkamp, 2016), Die Außenseiter: Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa (Suhrkamp, 2017).
Buch-Cover: In den Stürmen der Transformation

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