Ein anderes Zusammenleben ist notwendig | Frank Adloff

Eine Hauswand mit einem Graffiti: "Get rich or try sharing"Foto: Simon Peel | unsplash

 

Ein anderes Zusammenleben ist notwendig

Text: Frank Adloff | online veröffentlicht am 24.06.2024

Die Coronakrise wie auch die gegenwärtige geopolitische Energiekrise im Zuge des russischen Angriffskriegs haben deutlich vor Augen geführt, wie wechselseitig abhängig die globalisierte Welt ist. Für Wirtschaft und Gesellschaft stellt sich die Frage, wie sie krisenfester gestaltet, wie sie vom Wachstumszwang befreit, wie sie regionaler, demokratischer und gemeinwohlorientierter werden können. Es stellt sich die Frage nach einer neuen Kunst des Zusammenlebens.

Man kann es nicht oft genug betonen: Ökologische Krisen und Katastrophen liegen nicht in einer fernen Zukunft, wir sind mittendrin. Anfang der 2030er-Jahre werden wir wahrscheinlich eine Erderwärmung von 1,5 Grad erreicht haben und steuern derzeit auf eine Welt zu, die eine Erhitzung von deutlich mehr als 2 Grad, vielleicht sogar 5 Grad, erleben wird. Schon ab 1,5 Grad Erderwärmung besteht die Gefahr, dass gefährliche Klima-Kipppunkte ausgelöst werden. Im Mai 2019 warnte der Weltbiodiversitätsrat IPBES in seinem ersten globalen Report, dass in den nächsten Jahren eine Million Pflanzen- und Tierarten aussterben könnten. Diese Entwicklungen stellen für das Überleben der Menschheit eine existenzielle Bedrohung dar.

Angesichts dessen stellt sich die Frage nach den möglichen Zukünften von Gesellschaften zunehmend düsterer dar. Es geht nicht länger allein darum, künftige Beeinträchtigungen zu vermeiden – wie der Nachhaltigkeitsdiskurs suggeriert –, sondern mit massiven Schäden wie Vermüllung, Klimakatastrophen oder Biodiversitätsverlust umzugehen, die bereits vorliegen und zum Teil irreversibel oder nicht mehr zu verhindern sind. So gesehen befinden sich alle Gesellschaften schon längst in einem Stadium der Post-Nachhaltigkeit.

Wie leben in der Katastrophe?

Bisher setzt man in den meisten Gesellschaften und internationalen Foren auf den Pfad einer ökologischen Modernisierung – auf einen grünen Kapitalismus, auf Markt- und technologische Lösungen. Allerdings ist die Bilanz des Versprechens auf einen grünen Kapitalismus mehr als ernüchternd. Denn in den letzten Jahren hat sich an der zerstörerischen Dynamik unserer Wirtschaftsweise nichts geändert. Marktorientierte Instrumente wie der Emissionshandel oder Nachhaltigkeitszertifikate haben den Klimawandel in keiner Weise aufhalten können. Wirtschaftshistorische Studien zeigen, dass es bisher nicht möglich war, den Ressourcenverbrauch global vom Wirtschaftswachstum abzukoppeln. Daher ist Wirtschaftswachstum ökologisch und gesellschaftspolitisch ein falsches Ziel, das aber nichtsdestotrotz weiterhin fest als Leitidee in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft verankert ist.

Der Nachhaltigkeitsdiskurs hat die dem Kapitalismus innewohnende Logik der Ausbeutung von billigen Ressourcen bisher nicht gestoppt, und es ist extrem unwahrscheinlich, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändert. Eine Untersuchung des Exzellenzclusters CLICCS der Universität Hamburg stellt heraus, dass die gebotene komplette Abkehr von fossilen Rohstoffen bis 2050 unter den derzeitigen Bedingungen zwar prinzipiell noch möglich, aber angesichts zu geringer gesellschaftlicher Bemühungen sehr unwahrscheinlich ist. Doch selbst wenn eine Dekarbonisierung der Wirtschaft schnell voranschreiten würde, müssten wir in den kommenden Jahrzehnten mit den Folgen der globalen Erwärmung fertig werden, die gar nicht mehr abwendbar sind. Die Klimakrise kann nicht einfach „überwunden“ werden.

Und das alles vor dem Hintergrund schwacher sozialer Bindungen, die man für eine große sozial-ökologische Transformation eigentlich benötigen würde. Schon in Zeiten gesellschaftlicher „Normalität“ können soziale Ungleichheiten (beispielsweise im Bereich von Einkommen und Vermögen) soziale Probleme wie Gewalt, gesundheitliche Schwierigkeiten, physische wie psychische, und vieles andere verschlimmern. Eine auf Konkurrenz ausgerichtete, antiegalitäre Haltung steigert Statusängste, und eine ungleiche Gesellschaft wird mit Katastrophen schlechter umgehen können, weil ihr die sozialen Solidaritätsressourcen für eine kooperative Problemlösung fehlen.

Eine neue Kunst des Zusammenlebens

Kann man mit der Katastrophe leben und dennoch positive Zukunftsvorstellungen entwickeln? Lebensmittelknappheit, Wassermangel und Dürren, aber auch Hochwasser – all dies erleben wir derzeit nicht allein in Ländern des Globalen Südens, sondern auch in Europa. Nur resiliente Strukturen, die sich unabhängig von der Wachstumslogik der Moderne machen, werden in der Lage sein, die drohenden Zusammenbrüche gut zu überstehen. Deswegen können die gegenwärtigen Krisen für Bewegungen, die beispielsweise auf die Abkehr vom Wachstumszwang abzielen, auch zu Möglichkeitsfenstern werden. Krisen können fest etablierte Vorstellungswelten infrage stellen und so alternative Handlungshorizonte eröffnen. Resilienz gegenüber externen wirtschaftlichen Schocks wird sich sicherlich nur über Umverteilung, eine egalitäre Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie durch ein Zurückdrängen von Prozessen der Verwandlung aller Dinge in Waren erreichen lassen.

Eine solche Reorientierung wirtschaftlicher Leitideen und Praktiken allein wird jedoch nicht ausreichen. Es bedarf ganz neuer gesellschaftspolitischer Entwürfe, Ideale und Visionen. Neue Formen der Konvivialität (von lat. convivere: zusammenleben) müssten aus meiner Sicht gefunden und eingefordert werden. Convivialité, Convivialiad, Conviviality – in vielen europäischen Sprachen ist der Begriff durchaus gebräuchlich, auf Deutsch lässt er sich am ehesten mit Gastlichkeit oder Geselligkeit übersetzen. Ausgehend von dem Buch Tools for Conviviality (1973) des Philosophen und Theologen Ivan Illich, einem Klassiker der Technik- und Sozialkritik, hat der Begriff Eingang in den französischen Konvivialismus gefunden. Der Konvivialismus geht auf zwei zunächst in Frankreich publizierte Manifeste (2013 und 2020) zurück. Es handelt sich dabei um die Theorie einer transformatorischen „Kunst des Zusammenlebens“ sowie ein politisches Programm, das die großen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts überwinden will. Ziel ist eine demokratische und egalitäre Gesellschaft jenseits der Wachstumslogik. In dieser sollen die Verbindungen von Individuen, Gruppen, Gemeinwesen und der Natur auf neue Art und Weise sichtbar gemacht werden. Daher auch der französische Untertitel in Abgrenzung zur amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung: Declaration d‘interdependence. Es geht dem Konvivialismus darum, dass Menschen einander in ihrer Unterschiedlichkeit achten, ihre wechselseitigen Abhängigkeiten anerkennen und dabei zum Wohl aller – unter konstruktiver Austragung von Konflikten – kooperieren.

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Der Konvivialismus plädiert für ein neues Menschenbild, das eine Absage an die Vorstellung des homo oeconomicus als nutzenmaximierendem Wesen darstellt. Demnach ist der Mensch anthropologisch weniger durch sein Verlangen, Dinge egoistisch zu nehmen, sondern durch seine Fähigkeit und sein Bedürfnis charakterisiert, anderen etwas zu geben und sich mit ihnen zu verbinden. Die neue konviviale Ordnung soll durch sechs normative Prinzipien bestimmt sein: Das Prinzip einer gemeinsamen Menschheit betont die Achtung der Menschenwürde. Das Prinzip der gemeinsamen Sozialität besagt, dass der größte menschliche Schatz in der Qualität sozialer Beziehungen liegt. Das Prinzip der Individuation betont, dass wir uns alle voneinander unterscheiden und Menschen in ihrer Individualität anerkannt und geachtet werden wollen. Konflikte sollen einerseits zugelassen, andererseits aber so eingehegt werden, dass sie nicht eskalieren. Das fünfte Prinzip ist das der gemeinsamen Natürlichkeit: Menschen leben nicht in einem Verhältnis der Äußerlichkeit zur Natur, sondern sind Teil von ihr und stehen in einer wechselseitigen Abhängigkeit zu ihr. Das sechste Prinzip formuliert einen allgemeinen Imperativ: die Maxime, die Hybris zu beherrschen. Überheblichkeit, Maßlosigkeit und Allmachtstreben sind nicht länger hinnehmbar, gefordert ist vielmehr eine Politik des Maßhaltens und der (vor allem ökologischen) Selbstbegrenzung.

Weltweit streben schon viele zivilgesellschaftliche Initiativen solche konvivialen Transformationen an. In zivilgesellschaftlicher Kooperation werden Potenziale kreativen Problemlösens freigesetzt, im Austausch unter Gleichen neue Welten imaginiert und als potenzielle Zukünfte schon in der Gegenwart verwirklicht. Dieser Experimentalismus ist dringend geboten, da unsere bisherigen Rezepte nicht zur Lösung der sozialen und ökologischen Fragen beitragen.

Geben und Nehmen

Gefordert ist auch ein neues Bild unseres Verhältnisses zur Natur. Im Westen ist eine anthropozentrische Ontologie fest etabliert, die klar zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Natur unterscheidet. Verbindungen, Gemeinsamkeiten und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Lebensformen, aber auch Objekten werden weitgehend negiert. Durch diese Trennung von Menschen und nichtmenschlicher Natur wurde die Natur als ein Raum bestimmt, der als technisches Versuchsfeld und unerschöpfliche Lagerstätte von Ressourcen behandelt werden kann. Doch angesichts der zunehmenden Krisen und Katastrophen wächst der Druck, unsere Abhängigkeit von ihr anzuerkennen.

Zentral für den Konvivialismus ist eine Theorie der Gabe, die ihren grundlegenden Charakter hervorhebt. Ohne Geben, Nehmen und Erwidern ist keine menschliche Gesellschaft möglich. Bislang haben alle Kulturen – außer der der Moderne – auch ihr Verhältnis zur nichtmenschlichen Natur als Gabenbeziehung verstanden: Von den Meeren, Seen, Wäldern, Äckern, Nutz- und Wildtieren nimmt man, und ihnen gibt man auch etwas zurück. Kann man ein solches Gabenverhältnis unter modernen Bedingungen wiederherstellen? Allzu schnell handelt man sich den Vorwurf ein, romantisch und antimodern zu sein. Doch die neuere biologische Forschung betont die Bedeutung von Symbiosen und Ko-Evolution: Auf ökosystemischer Ebene hängt alles miteinander zusammen und entwickelt sich gemeinsam. Wenn man nur nimmt, ohne etwas zurückzugeben, geht die Balance verloren. Eine solche „Wiederverzauberung“ der Natur folgt einem allgemeinen Prinzip der Wechselseitigkeit: Alle, die zum Gedeihen einer Gesellschaft beitragen, sollten nicht leer ausgehen. Die Arbeit der Pflanzen und Tiere ist Teil des gesellschaftlichen Kooperationszusammenhangs, Teil der Wirtschaft – und sollte als solche anerkannt werden.

Es reicht, die nichtmenschlichen Wesen methodologisch als Quasi-Subjekte anzusehen und anzuerkennen: Wir behandeln die anderen Lebewesen so, als ob sie über Subjektivität verfügen würden – unabhängig davon, ob man diese wirklich wissenschaftlich „beweisen“ kann. Dies führt dazu, sich partnerschaftlich mit ihnen verbinden zu können. Es werden Gabenbeziehungen – Beziehungen des Gebens und Nehmens – zwischen Subjekten und Quasi-Subjekten aufgebaut, das heißt, es werden Allianzen über Speziesgrenzen hinweg gebildet.

Aber auch das Gabenverhältnis zur Natur ist niemals nur rein harmonisch. Auch die Natur kann sich verweigern, unerbittlich nehmen oder Schlechtes geben. Doch im Gabenverhältnis wird die Natur als Partnerin prinzipiell anerkannt und nicht länger zur passiven Ressourcenquelle reduziert.

Rechte der Natur

Dies könnte sich auch in einer transformierten Rechtsordnung widerspiegeln. Noch ist unser Rechtsverständnis davon weit entfernt, doch es gibt auch hier einen langsamen Paradigmenwechsel. So sind beispielsweise neue Kombinationen westlichen und indigenen Denkens in den letzten Jahren in Lateinamerika oder auch in Neuseeland entstanden und wurden in Gesetze gegossen. So wird der Natur in Artikel 71 der Verfassung Ecuadors aus dem Jahr 2008 das Recht auf Existenz, Bewahrung und Pflege ihrer vitalen Zyklen, ihrer Struktur, ihrer Funktionen und evolutionären Prozesse zugesprochen.

An diese juristischen Neuerungen wird aktuell auch im Globalen Norden angeknüpft. So sind einige Juristinnen und Juristen der Auffassung, dass Eigenrechte der Natur auch in das deutsche Rechtssystem integrierbar wären. Tieren oder Ökosystemen den Status als juristische beziehungsweise ökologische Person einzuräumen, hat das Ziel, ihnen die rechtlichen Mittel zur Verfügung zu stellen, um sich aus der Asymmetrie gegenüber der menschlichen Gesellschaft zu befreien. Dies käme einem Bruch mit den anthropozentrischen Grundlagen westlicher Gesellschaftsordnungen gleich: Natürliche Entitäten würden in das Recht inkludiert und damit konstitutiver Teil einer neu gedachten Gesellschaft werden.

Wächst das Rettende auch?

Diese Prozesse der Neuausrichtung von Wirtschaft, Gesellschaft und Recht beginnen gerade erst und es wäre ein falscher Optimismus, nähme man an, dass solche Praktiken der Transformation das Potenzial hätten, in den kommenden Jahren eine tiefe Dekarbonisierung der Ökonomie einzuleiten. Wahrscheinlicher ist, dass sich die Krisen, Konflikte und Zusammenbrüche weltweit zunächst verschärfen und häufen. Zu hoffen ist, dass aus diesen Zusammenbrüchen und Krisen das Potenzial erwächst, bestehende und kommende soziale Alternativen zu stärken und zu verbreiten, die auf neue Formen des sozio-ökologischen Zusammenlebens abzielen. ■

Dieser Text ist zuerst in agora42 4/2023 LEBEN IN DER KLIMAKRISE erschienen.
Frank Adloff ist Professor für Soziologie, insbesondere Dynamiken und Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft, an der Universität Hamburg und Co-Leiter der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit“. Zum Thema von ihm erschienen: Politik der Gabe. Für ein anderes Zusammenleben (Edition Nautilus, 2018).
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