Es könnte alles auch anders sein | Interview mit Verantwortlichen der Thales-Akademie

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Es könnte immer auch anders sein

Interview mit den Verantwortlichen der Thales-Akademie

Die Erfahrungen mit der „Corona-Pandemie, der Klimakrise, einer Krise der Demokratie sowie überkommenen Formen der Unternehmensführung“ verdeutlichen die Notwendigkeit vertiefter Reflexion und einer Neuausrichtung unseres Handelns, so steht es im aktuellen Programm der Thales-Akademie. Die Thales-Akademie bietet daher Praktiker*innen mit ihren Weiterbildungsprogrammen in Wirtschafts-, Digital- und Medizinethik die Möglichkeit, die philosophischen und ethischen Herausforderungen ihres beruflichen Handelns zu reflektieren. Wir haben bei den Verantwortlichen nachgefragt, was es mit diesen Krisen auf sich hat und wie wir ihnen beikommen können.

Herr Ottilinger, Sie leiten die Weiterbildung zur Wirtschaftsethik, in der sich unter anderem das Seminar mit dem vielversprechenden Titel „Wie anderes Wirtschaften möglich wird“ findet: Wie wird es möglich? Können Sie uns eine kleine Vorschau geben?

Lorenz Ottilinger: Damit anderes Wirtschaften möglich wird, muss uns zunächst bewusst werden, welche Vorstellungen von Wirtschaft und vom guten Leben sich in den vergangenen Jahrzehnten durchgesetzt und zum sogenannten Mainstream entwickelt haben. Denn mit unserer heutigen Art zu wirtschaften konzentrieren wir uns sehr auf materiellen Wohlstand und individuelle Bedürfnisbefriedigung. Das ist nicht selbstverständlich. Es wäre für die meisten unserer Vorfahren sogar zutiefst irritierend gewesen. Daher beleuchten wir in der Weiterbildung Wirtschaftsethik zunächst die derzeit dominierenden Vorstellungen von Wachstum, Wohlstand, Eigentum, Wettbewerb und Konsum, aber auch unser Verhältnis zur Natur und zum lieben Geld. Sobald man unser Wirtschaftshandeln auf diese Weise als Ergebnis konkreter historischer Entwicklungen und damit als eine bestimmte kulturelle Praxis versteht, die immer auch anders sein könnte, öffnet sich der Blick für mögliche Alternativen: etwa für neue Dimensionen von Verantwortung, die wir gegenüber anderen Menschen und der Natur tragen. Aber auch für ein neues Verständnis von Wohlstand und alltäglichem Sinnerleben. Damit möchten wir sowohl den philosophischen Scharfsinn als auch die Vorstellungskraft und Kreativität unserer Teilnehmenden stärken. Zugleich schlagen wir von hier aus Brücken zur alltäglichen beruflichen Praxis, indem wir beispielsweise erprobte sozialökologische Organisationen vorstellen, ein tieferes Verständnis von Organisationskultur und Unternehmensverantwortung erarbeiten und gezielt den Erfahrungsaustausch zwischen den Teilnehmenden fördern.

 

Herr Dries, die Weiterbildung zur Digitalethik enthält ein Seminar zu „Digitaler Demokratie“ – was erwartet die Teilnehmenden? Was hat die Digitalisierung mit Demokratie zu tun?

Christian Dries: Sehr viel. Der richtige Umgang mit den Risiken der Digitalisierung wird für die Demokratie in den kommenden Jahrzehnten vermutlich zur Überlebensfrage – denken Sie nur an die immense Marktmacht der Digitalkonzerne, die Bedrohung ganzer Länder und ihrer Infrastrukturen durch Cyberattacken oder den neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit, also die Bildung radikalisierter Filterblasen im und durch das Netz (Twitter, Telegram und Co.), was zuletzt besonders drastisch in den USA zu beobachten war. Auch das chinesische Modell des Social Scoring, des dauerüberwachten gläsernen Bürgers, ist ein solches Schreckensszenario. Und es ist ja nicht so, dass diese Technologien – mit den entsprechenden Sicherheitslücken – nur undemokratischen Gesellschaften zur Verfügung stünden. Im Bereich der Polizeiarbeit kommen sie auch bei uns zum Einsatz (Stichwort Biometrie).

Allerdings eröffnen sich durch Digitalisierung auch neue Chancen für die Teilhabe am öffentlichen Diskurs und eine Art Medienkontrolle ,von unten‘, für politische Partizipation weit über die Mitgliederbefragungen von Parteien hinaus. Mündige Gesellschaftsmitglieder sind heute zudem besser und breiter informiert denn je, wenn sie es denn wollen. Aber, ja, der Nachholbedarf an digitaler Mündigkeit, am technik- und medienkritischen, verantwortungsvollen Umgang mit Digitalisierung in der Demokratie ist eindeutig immens. Hierfür wollen wir in unseren Seminaren sensibilisieren, aber auch für die ethischen Herausforderungen im Umgang mit digitalisierter Arbeit, digitalen Geschäftsmodellen und echter digitaler Nachhaltigkeit.

 

Herr Merz, im Gesundheitswesen sind die Folgen der zunehmenden Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche besonders dramatisch, da sie ganz direkt auf das Befinden der Patient*innen durchschlagen. Dem Medizinethiker Giovanni Maio zufolge werden Ärzt*innen durch die ökonomische Logik geradezu „umprogrammiert“. Wie kommt man da raus?

Philippe Merz: Wir schlagen vor, zunächst genau hinzuschauen, bevor wir kritisieren. Die von Ihnen genannte Ausrichtung des Gesundheitswesens und insbesondere des klinischen Alltags an Effizienzkriterien ist beispielsweise ein erhebliches Problem – aber die viel gescholtene Abrechnung über das Fallpauschalensystem, also die „DRGs“, ist nicht die Ursache dieses Problems, sondern eher ein Instrument, in dem sich bestimmte Denkmuster und Normen unserer Zeit offenbaren. Viel reizvoller ist es daher, diese Denkmuster und Normen zu beleuchten und kritisch zu hinterfragen: Was verstehen wir eigentlich unter „Gesundheit“ und „Krankheit“, unter einem „guten Leben“ oder einem „selbstbestimmten Lebensende“? Wem sollte das pflegerische und ärztliche Handeln dienen? Welche konkreten Konflikte entstehen im Spannungsfeld zwischen dem beruflichen Ethos von Verantwortungsträger*innen im Gesundheitswesen, der Digitalisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens sowie den Interessen von Patient*innen? Und wie genau lasen sich diese Konflikte im Alltag bewältigen? Mit diesen Fragen möchten wir insbesondere Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegekräften und Hebammen einen berufsübergreifenden und hierarchiefreien Raum für neue Erkenntnisse und persönlichen Austausch bieten. Damit entsteht ein neuer Blick auf den eigenen Berufsalltag, und zugleich können neue Kommunikations- und Verhaltensweisen miteinander diskutiert und erprobt werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Weiterbildungsprogramme der Thales-Akademie in Wirtschaftsethik, Digitalethik und Medizinethik schließen jeweils mit einem international anerkannten „Certificate of Advanced Studies“ (CAS) der Universität Freiburg und der Thales-Akademie ab. Die neuen Jahrgänge starten Anfang 2022, weitere Informationen erhalten Sie hier.

Lorenz Ottilinger studierte Soziologie und Kulturanthropologie (B.A.) sowie Ökonomie (M.A.). Bei der Thales-Akademie leitet er die Weiterbildung Wirtschaftsethik.
Christian Dries studierte Philosophie, Soziologie, Psychologie sowie Geschichte und promovierte anschließend über Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas. Bei der Thales-Akademie leitet er die Weiterbildung Digitalethik.
Philippe Merz studierte Philosophie und Germanistik und promovierte zur phänomenologischen Ethik Edmund Husserls. Anschließend gründete er die Thales-Akademie, für die er als Geschäftsführer und Seminarleiter wirkt.

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