„Hier kommt dann die Theorie ins Spiel“ | Interview mit Sally Haslanger

Aktivismus gegen RassismusFoto: Gayatri Malhotra | unsplash

 

„Hier kommt dann die Theorie ins Spiel“

Rahel Jaeggi & Robin Celikates im Interivew mit Sally Haslanger | online veröffentlicht am 12.05.2023

Die Philosophin und feministische Theoretikerin Sally Haslanger ist 2023 zu Gast am Centre for Social Critique in Berlin. Rahel Jaeggi und Robin Celikates haben sich mit ihr über das Verhältnis von Philosophie und Aktivismus unterhalten.

 

Rahel Jaeggi & Robin Celikates: Du betonst immer wieder Deinen Glauben an soziale Bewegungen und dass Du für Demonstrationen einen gepackten durchsichtigen Rucksack bereitstehen hast. Wie kam es dazu? Welche sozialen Bewegungen waren am wichtigsten und prägendsten in Deiner politischen Sozialisation?

Sally Haslanger: Als ich aufs College ging, hatte ich wirklich keine Ahnung von Feminismus. In meiner Selbstwahrnehmung war ich einfach frei, selbstbestimmt und zu allem fähig. Aber mein Bruder sagte immer wieder: „Warte nur ab!“ Und dann geschah einiges. Ich wurde überfallen. Und plötzlich traf mich die Wirklichkeit wie ein Blitz ins Mark. Ich verstand auf einmal warum er das immer sagte.

Ich veränderte mich ziemlich rasch und engagierte mich für verschiedene Spielarten des Feminismus. Einen persönlichen Höhepunkt erlebte ich, als ich mich dafür einsetzte, dass an der University of California in Berkeley der Schutz vor sexuellen Belästigungen verbessert wurde. Das war in den späten Siebzigern als sexuelle Belästigung noch ein ziemlich neues Konzept war. Wir waren nur ein Haufen bunt zusammengewürfelter Student:innen, die demonstrierten und zu dem Thema eine Weile gearbeitet hatten. Die Anwält:innen der Universität wollten mit dem Kern der Gruppe reden, aber wir wussten nicht viel über Gesetze. Eine Freundin sagte: „Ich glaube Catharine MacKinnon ist dieses Jahr in Stanford. Vielleicht sollten wir sie anrufen und fragen, ob sie mitkommt.“ (Catharine MacKinnon ist eine feministische Aktivistin, Anwältin und Rechtswissenschaftlerin, Anm. d. Red.) Wir alle sagten: „Echt? Denkst du, sie würde das machen?“ Wir riefen an und sie traf sich tatsächlich mit uns und den Anwält:innen der Universität, um über sexuelle Belästigung zu reden und darüber, was aus den Gesetzen gegen sexuelle Belästigung folgt. Für mich hieß das: „Ja, das war ein Sieg!“

Ich war damals auch an der frühen Phase der Anti-Pornographie-Bewegung beteiligt. Deren Slogan war: „Pornographie verbreitet Lügen über Frauen.“ Ein paar meiner engen Freund:innen waren ebenfalls Aktivist:innen. Wir organisierten Demonstrationen und dergleichen.

Zur selben Zeit habe ich mich an der Uni hauptsächlich mit analytischer Metaphysik herumgeschlagen. Sozial- oder politische Philosophie habe ich überhaupt nicht gemacht. Philosophie und mein Aktivismus waren zwei säuberlich voneinander getrennte Teile meines Lebens, denn es gab damals gar keine Seminare zu feministischer Philosophie oder feministischer Theorie oder überhaupt etwas in dieser Richtung. Wir organisierten also Lesegruppen und Demonstrationen.

 

Wie kamen diese getrennten Teile Deines Lebens dann doch wieder zusammen?

Bei meinem ersten Job in Irvine wurde ich unter anderem angestellt, um Frauenstudien (Women’s Studies) zu unterrichten. Das Studienfach wurde damals gerade etabliert. Aber ich hatte nie ein Seminar zu Frauenstudien besucht. Ich wusste nur, was ich mir selbst beigebracht hatte und was mir meine aktivistischen Freund:innen beigebracht hatten. Als ich auf dem Campus ankam, traf ich mich mit der Direktorin des Studienfachs und sie sagte: „Weißt du, wir sind wirklich froh, dich hier zu haben. Dein Seminarplan ist toll. Aber eine Frage habe ich noch: Warum bist du am Institut für  Philosophie?“ Und ich sagte: „Naja, ich habe einen Doktortitel in Philosophie. Das ist es, was ich mache.“ Sie konnte es aber trotzdem nicht verstehen. Was Frauen anging, war die Geschichte der analytischen Philosophie wirklich schlimm und irgendeinen nennenswerten Feminismus gab es da auch nicht.

Also arbeitete ich zum Feminismus weiterhin vorrangig im aktivistischen Teil meines Lebens, aber nicht in meiner Forschung. Dann wurde ich jedoch gebeten etwas für ein Buch über feministische Philosophie zu schreiben, das von Louise Anthony und Charlotte Witte herausgegeben wurde. Und ich sagte: „Nun, ich mache keine feministische Philosophie.“ Und die beiden darauf: „Nun, du weißt eine Menge über feministische Theorie und du weißt wie man philosophiert, also mach einfach.“ Und so schrieb ich einen Aufsatz über Catharine MacKinnons Arbeiten mit dem Titel „Über das Objektiv-Sein und das Objektiviert-Werden“. Das war mein erster Aufsatz zur feministischen Philosophie und von da an gab es kein Zurück.

Antirassismus war ebenfalls ein wichtiges Thema für mich. Im Zusammenhang damit musste ich in meinem Leben wichtige Entscheidungen treffen. Wie kann ich für die black community eintreten und sie unterstützen, obwohl ich ihr selbst nicht angehöre? Wie macht man so etwas? Was ist das für ein Engagement und wann bin ich erwünscht, wann unerwünscht? Mein ernsthafter Versuch, eine gute Verbündete der black community zu sein und mit ihr zusammenzuarbeiten ohne die Grenzen dieser Bestrebungen zu überschreiten, hat wirklich eine lange, die letzten Jahrzehnte umfassende Geschichte. Ich glaube, das war eine wirklich tiefgehende Erfahrung des Lernens für mich: Wie man Bündnisse schließt, sowohl in der Philosophie und der Theorie als auch im Aktivismus. Ich habe versucht, Bündnisse zwischen Gruppen zu schließen, die für Rechte von Frauen, für LGBTQ-Rechte und die Befreiung von rassistischer Benachteiligung eintraten. Das war nicht einfach, aber es ist etwas, an das ich ganz fest glaube und wozu ich auch meine Kinder erzogen habe. Das ist also wirklich sinnstiftend für mich gewesen.

 

Kannst Du noch ein wenig mehr zum Verhältnis Deines akademischen Lebens zum Aktivismus mit Gruppen außerhalb der Universität sagen? Welche Spannungen birgt das?

Nun, nachdem ich meinen Doktorgrad erlangt hatte, dachte ich einige Male daran, meinen Job als akademische Philosophin aufzugeben und Aktivistin zu werden. Aber eine der Herausforderungen war für mich, dass ich in diesen Gruppen immer viel zurückhaltender war als andere, wenn es darum ging zu handeln, ohne schon eine Analyse der Situation zu haben. Die Leute sagten: „Das machen wir jetzt!“ Und ich erwiderte: „Ich glaube wir brauchen erst einmal einen Lesekreis zu dem Thema.“ Und dann lachten sie mich aus. Selbst in Zusammenhängen, wo niemand meinen akademischen Hintergrund kannte, hatte ich bald den Ruf, vorsichtig und unsicher zu sein, was die Schritte betraf, die man als Aktivist:in gehen müsse. Dadurch kam ich zu der Einsicht, dass ich in aktivistischen Kreisen nicht gerade eine gute Führungsfigur abgab.

Wenn man Menschen für etwas organisiert, dann bedarf es im Aktivismus einer Art schöpferischer Vorstellungskraft. Und ich fühlte, dass mir persönlich genau das fehlte. Ich hatte nie das Gefühl: „Oh das könnten wir machen, und es würde funktionieren.“ Deshalb bestand mein Engagement für Bewegungen und auch mein Engagement für die black community mehr im Gefühl des Sich-Verpflichtens und der Bereitschaft, die anfallenden Routinetätigkeiten zu erledigen. Die Bereitschaft, den Boden zu fegen, das Geschirr zu waschen, Schilder zu malen und dergleichen. Und von jenen zu lernen, die diese schöpferische Sensibilität für die Augenblicke haben, in denen etwas vorangeht.

Ich bin gut darin, verlässlich dabei zu sein. Ich bin gut darin, mich zu verpflichten. Ich bin gut darin, Netzwerke und Verbindungen zu schaffen, aber ich bin nicht gut darin zu entscheiden, was zu tun ist, und zu planen, wie es getan wird.

 

Und diese Vorsicht zusammen mit dem dringenden Bedürfnis nach Analysen hat Dich dann wieder zur Philosophie getrieben?

Ja, genauso war es. Ich hatte immer Fragen und Bedenken und wollte immer eine Analyse. Und damit beschäftige ich mich jetzt: Ich verbringe eine Menge Zeit mit diagnostischen Arbeiten, in denen ich versuche herauszufinden, worum es genau geht, wo die Ansatzpunkte sind, weil das immer etwas war, das ich in den aktivistischen Kontexten, in denen ich mich bewegte, sehr schwierig fand.

 

Inwiefern denkst Du kann Theorie die politische Praxis verändern? Denn so wie ich es verstehe, soll die Arbeit, die Du jetzt machst, die politische Praxis genauso informieren, wie sie von ihr informiert ist.

Für mich ist meine Arbeit weniger durch die Arbeit vor Ort informiert, als dass sie sich mit ihr im Austausch befindet. Nimm das Beispiel der sexuellen Belästigung. Es gab Zeiten, in denen die Strategie verfolgt wurde, Gesetzesreformen zu erreichen. Aber die Erfahrung hat gelehrt, dass es mehr braucht. Denk nur an die #MeToo-Bewegung. Die fand Jahrzehnte nachdem die Gesetze gegen sexuelle Belästigung verabschiedet wurden statt. Was wir brauchten waren daher Bemühungen, die Kultur zu verändern und ein Bewusstsein zu schaffen. Aber wie macht man das?

Mich beunruhigte mit der Zeit, dass viele der üblichen Taktiken gar nicht die breite Wirkung entfalteten, die nötig wäre, um dem Zum-Sexobjekt-Machen ein Ende zu setzen. Ein Teil meiner Arbeit war daher darüber nachzudenken, wie sich die Relevanz des Gesetzes, die Relevanz der Ökonomie, die Relevanz der Kultur, wie sich die Relevanz all dieser unterschiedlichen Elemente von Gesellschaft zusammenbringen lässt, sodass wir über gesellschaftlichen Wandel ganzheitlicher nachdenken können.

In den letzten Jahren habe ich am MIT in einem Programm gearbeitet, dass versucht, mit den Methoden des Co-Designs etwas gegen die globale Armut auszurichten. Gerade interessiere ich mich für das, was „Periodenarmut“ (period poverty) genannt wird: junge Frauen, die sich keine Menstruationsprodukte leisten können. Das belastet sie ungeheuer. Denn weltweit ist die Menstruation schambesetzt. Fast nirgendwo sprechen die Leute gern über ihren monatlichen Zyklus. Es gibt hier im Großraum Boston ein paar Programme dazu und auch eine Gruppe in Kenia. Wir knüpfen ein Netzwerk von Menschen und die jungen Frauen entwickeln Apps. Wir geben ihnen die Ressourcen, um beispielsweise darüber nachzudenken, wie sich Teenagerschwangerschaften verhindern lassen. Das geht durch so simple Sachen, wie ein Armband, mit dessen Perlen, sie ihren Zyklus im Blick haben. Sie sehen an den Perlen ihre fruchtbarsten Tage, aber es ist eben ein Armband. Niemand weiß, wozu es dient, und nur du weißt, wie es benutzt wird.

Für mich ist die Idee ausschlaggebend, dass sich Beziehungen ändern, wenn man beginnt die Praktiken zu verändern. Wenn man in einer Gruppe von Frauen und Männern zusammensitzt und versucht, sie dazu zu bringen, die Lösung für ein Problem zu entwerfen, dann haben die Frauen richtig gute Ideen und auch die nötigen Fertigkeiten. Die Männer sagen dann: „Boah, das ist fantastisch. So etwas kannst du.“ Und sie antworten: „Ja, klar kann ich das.“ Dann verändert sich die Beziehung zwischen ihnen. Es geht darum, die Praktiken zu verändern und durch die Veränderung der Praktiken, verändert man die Beziehungen der Individuen zueinander.

Das ist etwas, in dem ich bei der Arbeit vor Ort gerade ziemlich tief drinstecke. Natürlich bringt das den globalen Kapitalismus nicht zu Fall.

 

Danach wollte ich gerade fragen. Wie verhält sich denn Deiner Ansicht nach dieser Ansatz der lokalen Veränderung von Praktiken zur Veränderung gesellschaftlicher Strukturen?

Das führt uns zurück zum Thema der Gesetzesreformen und warum die Veränderung von Gesetzen in der Regel die Dinge nicht in Ordnung bringt. Manchmal schon, aber nicht, wenn nicht eine ganzheitlichere Fähigkeit dazukommt, Praktiken auf emanzipatorische Weise zu verändern. Man kann ein Gesetz erlassen und bei den Praktiken ändert sich nichts oder die Veränderung der Praktiken schlägt ins Gegenteil um. Wenn man also über Strukturen auf dieser breiten, abstrakteren Ebene nachdenkt, muss man damit anfangen in den Lebensformen einen Raum zu öffnen, die schöpferische Vorstellungskraft zu entwickeln und andere Beziehungen miteinander einzugehen. Und dann kann es einen tieferen und weitergehenden gesellschaftlichen Wandel geben.

Wenn die Menschen anfangen zu sehen, dass sie nicht in einer bestimmten Lebensform feststecken, wächst ihre Fähigkeit, Kritik zu üben, und sie können damit beginnen, die Verbindungen zwischen der Situation zu sehen, in der sie waren, und den Verbesserungen in ihrem Leben und der Situation anderer Menschen. Dann gibt es Mitgefühl und Identifikation und einen Einsatz dafür, dass sich solche Veränderungen auch in der Breite vollziehen. So bekommt man auch breitere Bewegungen für gesellschaftliche Veränderungen, für die demokratische Kontrolle unterschiedlicher Bereiche. Wenn du nämlich erst einmal erlebst, wie sich das in deinem unmittelbaren Umfeld vollzieht und du siehst, wie sich dein eigenes Leben verändert, dann eröffnet das Möglichkeiten, sich eine bessere, eine großartige Zukunft vorzustellen.

Das mag nicht unmittelbar radikal sein, aber ich glaube, dass es ein nachhaltigeres radikales Potenzial hat.

 

Und es legt nahe, dass Theorie eine ziemlich wichtige Rolle spielt, denn ob man Leute organisiert, damit sie in der Lage sind, ein bestimmtes Problem auf die eine oder die andere Weise zu lösen, hängt von der Analyse ab, die man hat.

Genau. Es gibt viele Fälle im Zusammenhang mit Periodenarmut, in denen Leute einfach riesige Spenden von amerikanischen Firmen bekommen, dann im Grunde die Produkte einfach abladen und sagen: „Hier hast Du, was Du brauchst.“ Das reicht dann für sechs Monate und danach ist es vorbei. Das Ergebnis ist, dass die Mädchen sechs Monate lang regelmäßig zur Schule gehen, dann ohne die Produkte dastehen und nicht mehr zur Schule gehen können – es gibt keinerlei Veränderung in den Beziehungen. Einer der Effekte davon, eine Theorie zu haben, ist, dass sie mir – meiner Meinung nach – sagt, Praktiken sind die Grundlage gesellschaftlicher Beziehungen, die wiederum die Grundlage der Struktur sind. Und dann ist die Struktur dynamisch und erzeugt das System. Wenn man also Strukturen und Systeme verändern will, dann ist es wirklich wichtig, bei den Praktiken anzufangen. Denn wenn die sich ändern, ändern sich die Beziehungen und dann muss sich die Struktur ändern, weil diese neuen Beziehungen gegen die Art und Weise eingegangen wurden, in der das System in der Vergangenheit funktioniert hat. Versucht man Veränderungen von oben nach unten durchzusetzen, aber die Praktiken bleiben wie sie waren, dann wird die Veränderung nicht nachhaltig sein. Sie ist nicht dauerhaft, weil die Leute in die Praktiken zurückfallen, in denen sie vorher schon befangen waren.

Indem wir uns auf eine solche Weise organisieren, befördern wir einen Prozess, in dem wir alle feststellen können: Für mich gibt es nicht nur den Moment, in dem ich plötzlich alles anders sehe, sondern in dem ich auch die Gelegenheit habe, mich anders in der Welt zu verhalten, mich in Beziehungen anders zu verhalten. Denn das Ein und Alles der Bewegungsarbeit ist es, neue Weisen zu finden, miteinander in Beziehung zu treten, und das dann in etwas sehr umfassendes und kollektives zu verwandeln. Dann kann man gemeinsam Druck nach vorn aufbauen. Daher komme ich.

 

In deinen Benjamin Lectures wirst Du von dem Gedanken ausgehen, dass die Gesellschaft von uns gemacht wird, aber gleichzeitig auch ein Eigenleben hat. Wie können Veränderungen trotzdem wirksam sein, wenn Strukturen und systemische Dynamiken durch unsere Veränderungsversuche gar nicht so leicht beeinflussbar sind? Wie hilft es der Arbeit vor Ort, die Verbindung zu strukturellen Dynamiken herauszuarbeiten?

Das ist eine schwierige Frage und offenkundig eine äußerst wichtige. Ich glaube, eine sehr einfache Art über Strukturen nachzudenken, ist sich die Vielfalt der unterschiedlichen Beschränkungen für unser Handeln klarzumachen: Geographie, mein eigener Körper, Biologie – all dies schränkt meine Handlungsfähigkeit ein. Aber es gibt auch noch andere Arten von Einschränkungen meiner Handlungsfähigkeit, die Teil der gebauten Umwelt sind, nicht nur Häuser, sondern auch Institutionen und derartiges. Gesellschaftliche Strukturen nenne ich die Art Einschränkungen, die gesellschaftlich erzeugt wurden. Der erste Schritt ist also zu verstehen, welche die gesellschaftlichen und welche die natürlichen Einschränkungen sind, oder welche wir potenziell überwinden können, indem wir verändern, wie wir miteinander umgehen, und welche wir nicht verändern können. Das nächste, was meiner Meinung nach ausgesprochen schwierig ist – und ich erfasse es bisher auch kaum –, ist die Frage, was passiert, wenn man anfängt etwas im System zu justieren. Wie wirkt sich das in den weiteren Verzweigungen des Systems aus? Was in einer lokalen Umgebung wie eine gute Justierung wirkt, kann in den weiteren Verzweigungen Rückschläge erzeugen und mit anderen Dingen auf eine Weise in Wechselwirkung treten, die wirklich niemand möchte. Und dann geht es um das Ausmaß, in dem die ökonomischen Dynamiken dominant und dafür verantwortlich sind, wie das System funktioniert. Oder gibt es andere Dynamiken, die beteiligt sind? Welche anderen Vektoren sind sozusagen im System entscheidend? Natürlich sind die ökonomischen Dynamiken ausgesprochen wichtig, aber ich glaube es gibt noch weitere. Manche sind materielle, wie das Klima und der Klimawandel, aber es gibt auch kulturelle Dynamiken, politische, historische.

Der Versuch, ein Gefühl für diese vielfältigen Dynamiken zu bekommen, ist meiner Überzeugung nach ausgesprochen wichtig, wenn man über gesellschaftlichen Wandel nachdenkt, denn meiner Ansicht nach sind Bewegungen oft Ein-Punkt-Bewegungen gewesen: die feministische Bewegung, die antirassistische Bewegung, die antikapitalistische Bewegung oder die post-kolonialen Bewegungen. Aber man muss verstehen, dass man nicht eins nach dem anderen machen kann. Der Versuch eine Sache zu verändern, setzt sich auf unvorhersehbare Weise kaskadenartig fort, wenn man sich nicht um die vielfältigen Faktoren kümmert, die relevant sind. Und hier kommt dann die Theorie ins Spiel. ■

Benjamin Lectures mit Sally Haslanger
Der Text erschien zuerst auf criticaltheoryinberlin.de. Wir danken dem Center for Social Critique für die freundliche Genehmigung, das Interview auf unserer Webseite veröffentlichen zu dürfen.
Übersetzung aus dem Englischen von Christian Schmidt.
Sally Haslanger ist Ford-Professorin für Philosophie sowie Women’s and Gender Studies am Massachusetts Institute of Technology und gilt als eine führende feministische Philosophin. Sie hat 2023 den Benjamin Chair am Centre for Social Critique inne und wird vom 14. bis zum 16. Juni 2023 die Walter-Benjamin-Lectures zum Thema Agents of Possibility: The Complexity of Social Change halten.

 

Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort zudem seit Februar 2018 das Centre for Social Critique.
Robin Celikates ist Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie sowie Stellvertretender Direktor des Center for Humanities and Social Change

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