Hobbes als Chef? Oder: Freiheit auf Betriebsebene | Rupay Dahm

FreiheitsstatueFoto: Brandon Mowinkel | unsplash

 

Hobbes als Chef? Oder: Freiheit auf Betriebsebene

Text: Rupay Dahm | online veröffentlicht am 28.07.2024

Wer über Freiheit nachdenkt, denkt oft über das Verhältnis des Individuums zum Staat nach, über Regeln und Möglichkeitsräume der Individuen in der Gesellschaft. Zu selten richtet sich der Blick auf die Verhältnisse in den Betrieben. Es sind aber gerade diese Verhältnisse, die für unsere Lebensgestaltung entscheidend sind.

Was ist Freiheit, was ist Gerechtigkeit, was ist die ideale Staatsform? Wie wirken sich Geschlechterrollen aus? Wie sollen die Rechte von Minderheiten geschützt werden? Ich habe es geliebt, politische Philosophie zu studieren und die Gedankenspiele von Hobbes, Locke, Rousseau, John Stuart Mill oder Marx mit meinen Kommiliton*innen zu diskutieren und das Für und Wider liberaler, konservativer oder feministischer Theorien oder von Kommunitarismus und Anarchismus zu debattieren. Dabei ging es aber meistens um die staatliche Ebene oder um „die Gesellschaft“, nie um Betriebe oder Unternehmen. Mit solch niederen Dingen, die sich auf der betrieblichen Ebene abspielen, haben wir uns nicht beschäftigt. So haben wir übersehen, dass sich die spannendsten Fragen auf dieser Ebene stellen.

Im Betrieb oder auf der Arbeit verbringen wir große Teile unserer Lebenszeit. Politische Entscheidungen auf staatlicher Ebene sind wichtig, keine Frage, aber betriebliche Entscheidungen betreffen uns stärker und direkter als viele Parlamentsbeschlüsse. Wird mein Betrieb geschlossen und in ein Billiglohnland verlegt? Erarbeiten wir ein sinnvolles Produkt oder ziehen wir unsere Kund*innen über den Tisch? Wie ist die Lohnverteilung im Betrieb und haben wir dabei ein Mitbestimmungsrecht? Wenn meine Chef*in entscheidet, dass ich in Nacht- und Wochenendschichten arbeiten muss, hat dies direkte Auswirkungen auf meine Lebensqualität – nicht nur auf meine Arbeitsbedingungen, sondern auch auf mein Familienleben, meine Freundschaften, Hobbys und so weiter.

Der moderne Kommunitarismus (von lateinisch communitas, „Gemeinschaft“) ging aus der Auseinandersetzung mehrerer Philosophen mit der liberalen Gerechtigkeitstheorie von John Rawls hervor, darunter Michael Sandel, Charles Taylor und Alasdair MacIntyre, die sich selbst und ihre Positionen nicht unbedingt als kommunitaristisch begreifen. Gegen die (Über-)Betonung des Individuums hebt der aus den angesprochenen Debatten abgeleitete Kommunitarismus die Bedeutung von Gemeinschaften (beziehungsweise gemeinschaftlicher Regeln, Traditionen, Werte) für die Entwicklung des Individuums hervor. Menschen werden demnach als zutiefst soziale Wesen begriffen, die nicht nur ihrem individuellen Wohlergehen, sondern auch dem der Gemeinschaft verpflichtet sind.

Der Betrieb als Leviathan

Unter dem Brennglas des Betriebs konzentrieren sich die vielfältigsten philosophischen Fragen: Braucht man nach Hobbes einen Souverän im Betrieb, einen absolutistischen Herrscher, der für Ruhe und Ordnung sorgt? Bricht sonst das Chaos aus, der „Krieg aller gegen alle“? Sollten daher alle Mitglieder mittels eines Gesellschaftsvertrags ihre Macht auf einen Souverän übertragen, der sagt, wo es lang geht? Tatsächlich gibt es in den meisten Betrieben einen quasi-monarchistischen Souverän: den CEO oder die Geschäftsführerin. Und es gibt meist auch einen Gesellschaftsvertrag, die Satzung. Allerdings haben die Mitarbeiter*innen keine natürlichen Rechte, die sie, wie bei Hobbes, auf einen Souverän übertragen könnten. Sie sind gar nicht Partei des Gesellschaftsvertrages. Der CEO einer Aktiengesellschaft wird beispielsweise nicht vom gemeinen Volk der Arbeiter*innen ermächtigt, sondern vom Shareholder-Adel.

Die Philosophin Lea Ypi beschreibt in ihrem Buch Frei, wie ihr Vater in Albanien kurz nach Ende des Kommunismus Direktor einer privatisierten Werft wird. Weil die Shareholder verlangen, dass er Personal abbaut, entlässt er schweren Herzens die ärmsten der Werftarbeiter*innen, die ungelernten, die keinerlei Aussicht auf einen anderen Job haben und daraufhin tagelang flehend sein Haus belagern. Nach welchen Kriterien ist solch eine Entscheidung legitim? Nach dem Ende der stalinistischen Diktatur werden weder der Werftdirektor noch die Anteilseigner noch die entlassenen Werftarbeiter*innen mehr zu etwas gezwungen. Sind sie also frei? „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie“, schrieb Jean-Jacques Rousseau 1769 in Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Und der CDU-Politiker Heiner Geißler kritisierte 2012, die Politik beuge sich dem „Absolutismus der Märkte“.

Betriebliche Demokratien

Wenn man die Monarchie nicht mehr als beste Regierungsform ansieht und stattdessen echte Demokratie bevorzugt, landet man bei Kooperativen im Besitz der Arbeiter*innen. In Produktionsgenossenschaften sind Arbeiter*innen nicht mehr unmündige Untertan*innen, sondern mündige Betriebsbürger*innen und der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit löst sich (ein Stück weit) auf. Marx sah die entscheidenden Stellschrauben der Gesellschaft weniger bei Ideen und (Gesellschafts-)Verträgen, sondern bei der ökonomischen Praxis und dem Eigentum an Produktionsmitteln: Gehört das Unternehmen, für das ich arbeite, einem Inhaber als Alleinherrscher, den Shareholdern einer Aktiengesellschaft oder mir und meinen Kolleg*innen als Genossenschaft?

Der genossenschaftlich organisierte Betrieb scheint so zugleich demokratische wie sozialistische Ideale zu erfüllen. So einfach ist es aber nicht. Denn auch im selbstverwalteten Betrieb entstehen Interessengegensätze. Rousseau unterscheidet bekanntlich zwischen dem Willen aller (volonté de tous) und dem Gemeinwillen (volonté générale). Eine ähnliche Unterscheidung findet sich in der Theorie der Commons, etwa bei der sogenannten Tragik der Allmende: Die Gemeinschaft der Fischer*innen hat ein Interesse daran, dass der See nicht überfischt wird. Alle einzelnen Fischer*innen wollen aber möglichst viel Fisch fangen und verkaufen. Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat festgestellt, dass im Vergleich zur Privatisierung oder Verstaatlichung solcher Gemeinressourcen, eine gemeinsame, selbstverwaltete Bewirtschaftung am besten funktioniert. Voraussetzung ist, dass, ähnlich wie bei Locke oder Rousseau, gemeinsame Regeln (Gesellschaftsvertrag) mit Zustimmung aller beschlossen werden, die die Interessen der Gemeinschaft (volonté générale) mit den Einzelinteressen austariert. Diese Regeln müssen notfalls auch mit Sanktionen durchgesetzt werden. Das stößt nach Ostrom nur dann auf langfristige Akzeptanz, wenn alle den Regeln zugestimmt haben. Auch nach Rousseau würden Bürger*innen, die sich ihre Gesetze selbst geben, alles daran setzen, sie zu befolgen. Denn das sei Freiheit: die selbst bestimmten Gesetze zu befolgen.

Rousseau wird oft dafür kritisiert, dass der Vorrang der volonté générale ein diktatorisches Potenzial habe, weil die Rechte der Einzelnen dem Kollektiv untergeordnet würden mit dem Argument, der Gemeinwille sei im Interesse aller. Einzelpersonen oder Minderheiten hätten sich damit der Mehrheit zu beugen. Der Staat müsse durch Zwang dafür sorgen, dass niemand den Gesellschaftsvertrag, also den Willen der Gemeinschaft, verletzt. Dadurch würden alle frei. War Rousseau damit Wegbereiter für die Allmende à la Ostrom oder eher für eine Kommandowirtschaft à la Stalin? Rousseau lehnte die repräsentative Demokratie ab und plädierte für eine Basisdemokratie, denn „wo ein Volk sich Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei“. Für viele Kollektivbetriebe ist es ähnlich: Sie lehnen repräsentative Organe und die damit verbundene Hierarchie ab und entscheiden gemeinsam im Plenum. Allerdings bekommt das Plenum dadurch sehr viel Macht: Die Mitglieder haben sich dem Willen des Plenums unterzuordnen, welches dann den kollektiven Willen definiert. Das Plenum droht zum zentralistischen Machtzentrum zu werden.

John Stuart Mill hatte stets die Rechte von Minderheiten (und Frauen) im Blick und eine Diktatur der Mehrheit gefürchtet. Die Praxis vieler Kollektivbetriebe, dass jede Person ein Vetorecht hat, hätte Mill vielleicht gefallen. Allerdings kann damit eine Minderheit (oder gar Einzelperson) ihren Willen am Erhalt des Status quo wiederum der Mehrheit aufdrücken. Zwar ist in belegschaftseigenen Betrieben die Trennung zwischen Arbeit und Kapital aufgehoben, aber dadurch verschwinden die Interessengegensätze nicht: Das Kollektiv will, dass der Laden bis 20 Uhr geöffnet ist, aber einzelne Mitglieder möchten früher Feierabend machen. Wie löst man diesen Konflikt? Habe ich ein Vetorecht gegen den Plenumsbeschluss, bis 20 Uhr arbeiten zu müssen? Oder haben die anderen ein Vetorecht gegen meine Entscheidung, um 16 Uhr zu gehen? Vielleicht brauche ich also doch einen Betriebsrat im Kollektiv, der mich gegenüber der Vollversammlung in Schutz nimmt?

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Informelle Tyrannei?

Mill hatte nicht nur formale Herrschaft im Blick, sondern auch den informellen, subtilen Zwang der ungeschriebenen Regeln und Erwartungen. Was hilft mir ein Vetorecht, wenn ich Angst habe, mich durch dessen Gebrauch in der Gruppe unbeliebt zu machen und meine Gruppenzugehörigkeit aufs Spiel zu setzen?

In ihrem Artikel Die Tyrannei der Strukturlosigkeit von 1972 beschrieb die Feministin Jo Freeman, wie in den 1960er-Jahren feministische Gruppen jede Form von Hierarchie oder Führung ablehnten, um eine Wiederholung patriarchaler Herrschaft zu vermeiden. Es gab keinerlei gewählter Leitung, aber es entstand eine informelle Hierarchie mit inoffiziellen Führungspersonen, die niemandem rechenschaftspflichtig waren. Diese informelle Machtstruktur war weder transparent, noch konnte man sie ändern oder abwählen, denn es gab sie ja offiziell nicht. Um die Tyrannei der strukturlosen Gruppen zu vermeiden, plädierte Freeman für gewählte Führungen.

Der anarchistischen Feministin Cathy Levine war das jedoch zu rückschrittlich. Eine formale, hierarchische Führung sei wieder das alte patriarchale Muster. In ihrer Gegenschrift The Tyranny of Tyranny forderte sie stattdessen eine Dezentralisierung der Verantwortungsbereiche, ähnlich wie es manch fortschrittliche Start-ups heutzutage in Kreisorganisationen wie „Holocracy“ (von altgriechisch holos, „ganz“ und kratia, „Herrschaft“) versuchen: Thematische Kreise (beispielsweise für Buchhaltung, Marketing, Produktion) regeln dabei ihren Bereich alleinverantwortlich und wählen eine Kreissprecher*in. Während es im Holocracy-Ansatz eine sehr hierarchische Über- und Unterordnung von Kreisen gibt, können Kreise auch heterarchisch, also gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Der Schleier des betrieblichen Nichtwissens

Wenn man, dem Gedankenexperiment des Philosophen John Rawls folgend, den Schleier des Nichtwissens auf den Betrieb anwenden würde, also nicht wüsste, in welcher Position man im Unternehmen landet – als Reinigungskraft, Abteilungsleiter*in oder Chef*in –, welche Lohnverteilung würde man dann als gerecht erachten? Welche Umgangsweisen und Entscheidungsstrukturen würde man etablieren wollen? Ist die Arbeit einer Geschäftsführer*in wirklich 300 Mal so viel wert wie die der Arbeiter*innen in der untersten Lohngruppe? Ist nicht die Lebenszeit eines jeden Menschen gleich viel wert? Oder sollte der Lohn im Sinne einer Meritokratie an Leistung gebunden werden? Wie messe ich die Leistung einer Pflegekraft oder Erzieherin? Daran, wie schnell sie ein Kind erzogen oder einen alten Menschen gefüttert hat? Wie vergleiche ich die Leistung einer Krankenschwester mit der einer Chefärztin?

Manche Kollektivbetriebe und einige Start-ups gehen so weit, dass alle entscheiden können, wie viel Geld sie brauchen und verdienen wollen (Bedarfslohnprinzip), fast schon nach dem marxschen Credo: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“

Damit wird diese Frage jedoch entpolitisiert und auf das Individuum verlagert. In einer bekannten NGO führte das Bedarfslohnprinzip dazu, dass die Männer höhere Bedarfe anmeldeten und die Frauen niedrigere. Der Gender Pay Gap wurde schlichtweg reproduziert.

Freiheit unterm Brennglas

In Betrieben werden alle möglichen gesellschaftlichen Machtstrukturen und politischen Konflikte sichtbar wie unter einem Brennglas. Betriebliche Diskriminierung ist beispielsweise eine Dauerbaustelle: Arbeiten die Schwarzen Kolleg*innen in der Führungsetage oder der Reinigung? Wie viele Führungskräfte kommen aus nichtakademischen Haushalten? Wie viele sind Frauen? So ging es der #metoo-Bewegung auch um innerbetrieblichen Machtmissbrauch, um krasse Ungleichheit und fehlende Mitbestimmung. Auch die Ursache ökonomischer Ungleichheit liegt innerhalb von Unternehmen. Wenn im Betrieb alle gleich viel verdienen würden, bräuchte man keine nachträgliche Umverteilung durch Steuern und Sozialleistungen.

Also, liebe politische Philosoph*innen: Bitte schaut euch Betriebe mal etwas genauer an.

Dieser Beitrag ist in agora42 1/2024 zum Thema FREIHEIT in der Rubrik TERRAIN erschienen.
Rupay Dahm
Rupay Dahm hat Politik und Jura studiert. Er forscht und schreibt über Wirtschaftsdemokratie, berät Kollektivbetriebe und Genossenschaften im Gründungsprozess, bei der Rechtsformgestaltung und Organisationsentwicklung und vertritt Arbeitnehmer*innen und Betriebsräte als Fachanwalt für Arbeitsrecht.
Neues Buchprojekt zum Thema: Selbstbestimmt arbeiten, Betriebe demokratisieren (oekom crowd) – „Dieses Handbuch zeigt praktische Wege auf, wie demokratisch selbstorganisierte Unternehmen funktionieren, Fallstricke umgangen und eine zukunftstaugliche Wirtschaft verwirklicht werden können. Es verknüpft die Praxis von Kollektivbetrieben mit aktuellen Debatten um Degrowth und Klimaschutz, Purpose, New Work und Vergesellschaftung.“
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