One solution: Revolution! | Nisha Toussaint-Teachout

ProtestaufrufeFoto: Markus Spiske | unsplash

 

One solution: Revolution!

Text: Nisha Toussaint-Teachout

Wie es um die Klimabewegung steht, was eigentlich mit der Revolution ist und ob es noch Hoffnung gibt, darum geht es im Folgenden.

Ich scrolle auf Instagram und mir springt ein Bild von Extinction Rebellion Deutschland entgegen: „Wir sind am Arsch“, steht da in Großbuchstaben geschrieben und darüber das Ergebnis einer neuen Studie: „1,5-Grad-Schwelle könnte bis 2026 überschritten werden.“ Ich scrolle weiter, lese einen Demoaufruf, in dem steht, wir hätten nur noch sieben Jahre Zeit und die letzten Jahre des Protests hätten nichts bewirkt.

Es stimmt, die Klimakrise eskaliert weiter und die Aussichten sind alles andere als rosig. Trotzdem ist diese Ausdrucksweise meiner Meinung nach weder wahr noch hilfreich.

Schluss mit Climate Doomism

In der Klimadebatte geht es oft um Grenzen. Dazu gehören die 1,5-Grad-Grenze, das entsprechende CO2-Budget, das in Deutschland wahrscheinlich in sieben Jahren aufgebraucht sein wird, oder das Ziel, Klimaneutralität bis 2035 zu erreichen. Es geht auch um Grenzen, von denen wir nicht genau wissen, wo sie verlaufen, wie zum Beispiel die Kipppunkte im Klimasystem. Diese Grenzen – insbesondere die klimapolitisch ausgerufenen – täuschen vor, dass es zu spät sein wird, sobald eine von ihnen erreicht oder nicht eingehalten wird. Climate Doomism heißt das Phänomen, das aktuell vermehrt auftritt – bezeichnenderweise erst seit tragische Klimaereignisse auch vermehrt Länder des Globalen Nordens und weiße Menschen treffen. Es sei sowieso zu spät und es werde sich sowieso nichts ändern. Auch in der Klimabewegung ist Climate Doomism zu finden und äußert sich dort in Frust, Zynismus oder offensiven Weltuntergangsszenarien. Auch die öffentliche Klimakommunikation trägt dazu bei, wenn sie impliziert, es gäbe einen Tag X der Klimakatastrophe. Teilweise kommen solche Szenarien von Klimaaktivist*innen (siehe oben) und von Wissenschaftler*innen selbst, teilweise werden sie von Medien entworfen.

Dabei verschleiert diese Sichtweise, dass es diesen einen Moment des Zu-spät nicht gibt und nicht geben wird. Es wird (höchstwahrscheinlich) keinen bestimmten Zeitpunkt geben, an dem die gesamte Menschheit auf einmal aussterben wird. Und es wird auch keinen Zeitpunkt geben, an dem es sich nicht mehr lohnt zu kämpfen, nicht mehr lohnt, sich weiter an Klimakrisenfolgen anzupassen, nicht mehr lohnt, nachhaltige(re) Lebens-, Gesellschafts- und Wirtschaftsweisen aufzubauen. Eine Welt, in der sich der Krisenmodus weiter verstärkt, fordert gerade von emanzipatorischen Bewegungen, dass sie weiter um jedes Ökosystem, jedes Menschen- und Tierleben kämpfen, das erhalten und regeneriert werden kann. Auch wenn die 1,5-Grad-Grenze überschritten werden sollte und in den kommenden sieben Jahren klimapolitisch nicht genug passiert, besteht genau darin die Aufgabe von Klimagerechtigkeitsbewegungen.

Revolution, schrittweise

Genau wie es diesen einen Zeitpunkt des Kollapses der Ökosysteme nicht gibt, so gibt es auch keinen vereinzelten Zeitpunkt der Revolution. Die Revolution, also die radikale Veränderung der Umstände, passiert schrittweise. Radikal bedeutet in diesem Fall „an die Wurzel gehend, grundlegend“ und nicht, wie häufig verwendet, „extrem“. Die radikale Veränderung unserer Lebensweisen, also die Veränderung von Systemen, in denen wir unsere Leben organisieren, braucht Vorbereitung, individuelle und kollektive Auseinandersetzung und andauernde Umsetzung. Sie liegt in der Praxis des stückweisen Verschiebens und Veränderns der Verhältnisse und in dem Prozess, der die Welt in relativ kurzer Zeit zu einer anderen macht.

Ich stimme nicht zu, wenn gesagt wird, dass die letzten Jahre des Protests nichts gebracht hätten. Ja, es ist offensichtlich noch nicht genug passiert, wir haben noch keinen Zustand der Klimagerechtigkeit erreicht. Das ist aber auch ein unfassbar großes Unterfangen. Was jedoch die letzten Jahre gesellschaftlich und politisch bewegt wurde, ist riesig. Soziale Bewegungen wachsen: ob feministische Organisierung wie Ni Una Menos in Lateinamerika, unzählige Klimagruppen weltweit oder Black Lives Matter. Es hat sich nicht erst in den letzten Jahre etwas getan – schon seit Jahrzehnten kämpfen Communities, besonders Indigene und People of Color, an den vordersten Linien der Betroffenheit. Teilweise zeigen sich nur schmerzhaft langsam Effekte im politischen Geschehen, teilweise wurden und werden öffentliche Diskurse verschoben und wichtige Fragen aufgeworfen. Junge Aktivist*innen wie ich realisieren über die Jahre mehr und mehr, dass die Klimakrise nicht mit der Einhaltung des Pariser Abkommens gelöst sein wird, sondern, dass die Ursachen der Klimaungerechtigkeit unheimlich tief liegen – im kapitalistischen Wirtschaften, in patriarchalen Strukturen und weißer Vorherrschaft.

Aktivismus bedeutet auch, dass wir diese Welt, die wir erkämpfen wollen, schon jetzt in die Gegenwart holen. Dies können wir tun, indem wir Care-Kultur und solidarische Netzwerke aufbauen, Beziehungen so führen, dass sie befreiend und sicher zugleich sind, indem wir Freude, Erfüllung und Vielfalt in unseren politischen Kämpfen und unseren Leben finden, obwohl die herrschenden Normen versuchen, uns klein zu machen, gleich zu machen, uns zu schwächen. Revolutionär ist, wenn wir uns einander zuwenden und das nicht geschehen lassen.

Das agora42-Probeabo

Testen Sie agora42 mit unserem Probeabo!

Sie erhalten zwei Ausgaben für 22€ – sowie unser Heft DAS GUTE LEBEN gratis dazu!

Politische Praxis auf verschiedenen Ebenen

Die politische Praxis der radikalen Veränderung findet auf mehreren Ebenen statt. Beispielsweise hat der US-amerikanische Soziologe Erik Olin Wright ein Konzept geprägt, dass Transformation in drei verschiedenen Bereichen verortet. So können realpolitische Veränderungen Schritte in Richtung größerer Systemveränderungen sein. Revolutionäre Realpolitik hat Rosa Luxemburg solche Schritte genannt und darunter Reformen verstanden, die im etablierten politischen System umgesetzt werden, dabei aber grundlegende Dinge verändern oder notwendige Schritte dazu sind. Die politische Entscheidung, das Dorf Lützerath zu erhalten oder Subventionen für fossile Energien zu beenden, wären solche Reformschritte. Zweitens: Protest, Widerstand und Aktion. Die vielen Waldbesetzungen, aber auch Hausbesetzungen, Demonstrationen und Aktionen Zivilen Ungehorsams gehören zu diesem Bereich der Transformation. Zuletzt ist der Aufbau von alternativen Strukturen zentral, von „Realutopien“ wie Wright sie nennt. Denn, wenn wir bestimmte zerstörerische politische und wirtschaftliche Strukturen abbauen wollen, dann brauchen wir andere Strukturen, auf die wir aufbauen können. Revolution ist – im besten Fall – kein plötzlicher Umbruch, der ein Vakuum zurücklässt, sondern ein Prozess der Verschiebung.

Wenn wir über die Klimakrise sprechen, brauchen wir inzwischen eben nicht nur Anstrengungen zur Eindämmung (Mitigation), sondern vor allem auch zur Anpassung an die Effekte der Klimaerhitzung (Adaption). Die Klimakrise ist Gegenwart, sie ist ungerecht und sie wird sich noch verschärfen, selbst wenn wir jetzt aufhören würden, Treibhausgase zu produzieren. Ein kollektiver, kluger und solidarischer Umgang mit Klimafolgen wird immer wichtiger – dazu gehört die Vorbereitung auf wahrscheinlicher werdende Extremwetterereignisse und eine Willkommenskultur für diejenigen Menschen, die vor diesen flüchten müssen. Gerade in diesem Bereich können und sollten wir von Communities lernen, die seit Jahrzehnten und sogar Jahrhunderten an den Frontlines, den vordersten Linien der Kämpfe, gegen sich überlagernde Ungerechtigkeiten stehen – wie zum Beispiel Frauen of Color, die als Frauen und als People of Color betroffen sind, leben und kämpfen.

Perspektiven, die hilfreich sind

Perspektivisch müssen wir uns mit zwei Arten von Fragen beschäftigen: Erstens, was verstehen wir unter Revolution und wohin soll sie führen? In der Klimabewegung sind wir sehr gut darin, uns über das Problem auszutauschen und es in den Fokus unserer Kommunikation und Aktionen zu stellen. Es fehlt aber ein ebenso ausgeprägter Diskurs zu Lösungen und Visionen. Klimagerechtigkeit – klar, aber was heißt das konkret? Können wir uns diese klimagerechte Welt, auf die wir hinarbeiten, vorstellen und konkrete Schritte dahin identifizieren? In der Arbeit an Lösungen und konkreten größeren Zielen hat die Klimabewegung noch viel zu gewinnen.

Und zweitens, was ist hilfreich? Natürlich können wir uns Studien und Prognosen zur Klimakrise anschauen und die Nachrichten aus aller Welt, die zeigen, dass die Klimakrise jetzt in Form von Extremwetter und der Verschärfung existierender Ungerechtigkeiten immer schlimmer wird. Wir können auch die Gründe für die Untätigkeit der Politik und die verhältnismäßig geringe Empörung in der Mainstream-Öffentlichkeit analysieren, um dann zur Einsicht zu kommen, dass „die Revolution“ nicht morgen stattfinden wird. Das sollten, können, tun wir auch. Aber: Können wir eine Perspektive stärken, die die schlechten Zustände anerkennt und dennoch handlungsfähig macht? Ich wünsche mir hilfreiche Perspektiven, die Menschen aktivieren und ihnen dabei helfen, sich darauf zu fokussieren, was wir tun können, anstatt auf das, was verloren oder außer Reichweite geraten ist. Wir brauchen Perspektiven, die es den Menschen ermöglichen, in und mit ihren politischen Kämpfen gut leben zu können, damit sie nicht schon nach kurzer Zeit ausbrennen.

Die eskalierende Klimakrise und sich verschlimmernde Wetterphänomene werden die Menschen mehr und mehr konfrontieren. Sie werden Fragen aufwerfen und ihnen schließlich keine andere Wahl lassen, als sich damit zu befassen und im besten Fall sich zu organisieren, spätestens wenn es um Klimaanpassung geht. Außerdem, und dies ist wohl die hoffnungsvollere Perspektive, wird mit einem zunehmenden Verständnis für die Ursachen und Zusammenhänge rund um die Klimakrise und andere soziale Probleme auch der Wille zu handeln, Veränderungen einzufordern und diese anzugehen größer werden. Hier braucht es Bildung und Aufklärung, einen öffentlichen Diskurs, der die verschiedenen Krisen unserer Zeit in einen Kontext bringt und aufzeigt: Auch du bist betroffen, auch du trägst Verantwortung und auch du kannst Teil dieser gerechteren Welt sein, die wir zusammen möglich machen.

Organizing ist das Wort der Stunde

Nicht durch die Individualisierung der Klimakrise, durch Bambuszahnbürste und Jutebeutel dämmen wir die Klimakrise ein, sondern durch weitreichende Organisierung und systemische Veränderungen. Nichts gegen Bambuszahnbürste und Jutebeutel, go for it, aber Allianzen und Bündnisse sind genau das, was wir brauchen. Gerade Zeiten, in denen wir als Menschen, aber auch als verschiedene progressive Bewegungen voneinander getrennt werden, erfordern Zusammenschlüsse, die auf den ersten Blick vielleicht überraschend oder unüblich scheinen – wie die gemeinsame Aktion von ver.di und Fridays for Future für bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV und eine klimagerechte Verkehrswende oder schon in den 1980er-Jahren die Gruppe „Lesbians and Gays Support the Miners“, die in Großbritannien den Bergarbeiterstreik unterstützt hat. So werden wir der Komplexität der Krisen gerechter, können voneinander lernen und größere gesellschaftliche Handlungsmacht aufbauen. Die Klimakrise ist zunehmend ein Thema für alle emanzipatorischen Kräfte. Das heißt aber auch, dass die Verknüpfung von Klimathemen ausschließlich mit einer grünen Öko-Bubble aufgelöst werden muss. Dafür müssen aber die privilegierten, weißen und akademisch gebildeten Menschen, die dieses Thema in den letzten Jahren geprägt haben, Platz machen – für Menschen, denen bislang kaum zugehört wurde, und für Themen, die zu wenig zur Sprache kamen. Was hat das Klima mit Gesundheit zu tun und was mit Sicherheit? Wie funktioniert eine feministische und anti-ableistische Verkehrswende? Durch solche Fragen wird die Verwobenheit der multiplen Krisen in die Verwobenheit der Lösungen und der Solidarität übersetzt.

Ich bin überzeugt, dass es wichtig ist, Hoffnung im Handeln zu finden. Wir sind nicht am Arsch, wir kämpfen. Und dass da viele sind, die kämpfen, darauf können wir vertrauen. Die großen Veränderungen kommen, denn wir arbeiten revolutionär auf verschiedensten Ebenen weiter – an der solidarischen Anpassung an Klimakrisenfolgen, daran, Schlimmeres zu verhindern und diese gerechtere Welt mehr und mehr zum Leben zu erwecken, trotz aller Widerstände. ■

Ableismus bezeichnet die Benachteiligung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Krankheiten.
Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 3/2022 REVOLUTION erschienen.
Nisha Toussaint-Teachout
Nisha Toussaint-Teachout hat 2018 Fridays for Future in Stuttgart mitgegründet und ist seitdem Aktivistin in der Klimagerechtigkeitsbewegung. Sie versteht die Gerechtigkeitskämpfe unserer Zeit als miteinander verbundene Herausforderungen und setzt sich besonders auch für Tierrechte und Bildung ein. Sie studiert Philosophie und Gesellschaftsgestaltung.
Von Nisha Toussaint-Teachout empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Adrienne Maree Brown: Pleasure Activism: The Politics of Feeling Good (AK Press, 2019)
ROMAN
Mithu Sanyal: Identitti (Carl Hanser Verlag, 2021)
FILM
Pride von Matthew Warchus (2014)

Diese Ausgaben von agora42 könnten Sie interessieren: