Resilienz und Vernunft – Willkommen in der Vielfachkrise | Stefanie Graefe

ÜberflutungFoto: Jonathan Ford | Unsplash

 

Resilienz und Vernunft

Willkommen in der Vielfachkrise

Text: Stefanie Graefe

Wir sollen alle resilient werden, so eine Aufforderung angesichts zunehmender Krisen und Katastrophen. Wir sollen also „krisenfest“ werden, Krisen sogar als Chancen entdecken. Doch das Konzept der Resilienz kann zum Aufruf an die Einzelnen verkümmern, einen kritikwürdigen gesellschaftlichen Zustand individuell aufzufangen – und damit zu verfestigen. Ist das vernünftig?

Während ich über diesen Text nachdenke, höre ich im Radio, in Südafrika sei eine neue, gefährliche Coronavirusvariante aufgetaucht. Sodann erfahre ich, dass vor Calais 27 Menschen ertrunken sind, und höre zu, wie sich die Europäische Union in eskalierender Markigkeit zur brutalen Abschottung der polnischen Außengrenze bekennt. Danach bemüht sich ein prominenter grüner Politiker, das in Sachen Klimaschutz äußerst armselige Ergebnis der Koalitionsverhandlungen schön zu reden. Und wieder einmal wünsche ich mir, dass keine dieser Nachrichten mir zu nahe kommt. Und darf davon ausgehen, dass mir das auch gelingen wird. An die täglichen Krisen- und Katastrophenmeldungen habe ich mich, wie die meisten Bewohner*innen der – alles in allem ja immer noch recht komfortablen – Wohlstandsgesellschaften des globalen Nordens längst gewöhnt. Das Radio lässt sich abschalten, deprimierende Gedanken können durch erfreuliche ersetzt werden, und im Zweifel hilft ein gutes Buch, ein Spaziergang oder ein Gespräch weiter. Mit anderen Worten: Ich bin, was unsere offenkundig im Dauerkrisenmodus verfangene Weltlage betrifft, resilient.

Aufklärung, Vernunft, Kritik

Aber ist das auch vernünftig? Oder gerade nicht? Sind vielleicht Resilienz und Vernunft in unseren Zeiten nurmehr unterschiedliche Bezeichnungen für das, was wir alle sein und woran wir uns orientieren sollten? Oder verhält es sich gerade umgekehrt, ist es vielleicht die Vernunft selbst, die erst die Notwendigkeit von Resilienz hervorruft? Das wäre ein interessanter, wenn auch nicht ganz neuer Gedanke. Immanuel Kants Diktum, man solle kraft Gebrauch des eigenen Verstandes den Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit finden, steht schon lange unter schwerem Verdacht. Die aufklärerische Vernunft, so ein Kerngedanke der Kritischen Theorie, ist nicht nur mit der Idee der Freiheit, sondern auch und vor allem mit der Illusion einer rational-technologischen Weltbeherrschung verschwistert, der wir neben vielem anderen auch die gegenwärtige Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen verdanken.

Neu ist dieser Gedanke, wie gesagt, nicht. Neu aber ist, dass er nicht nur in mehr oder minder exklusiven akademischen Diskursen zirkuliert, sondern Alltagswahrnehmung geworden ist. Das Vertrauen in die Rationalität der aufgeklärten Moderne befindet sich auf einem historischen Tiefpunkt, und dafür gibt es, wie nicht nur Radiohörer*innen wissen, viele gute Gründe. Kein Wunder also, dass Alternativangebote gesucht und gefunden werden. Etwa das Konzept der Resilienz. Gemeint ist damit generell die Fähigkeit, im Angesicht von Krisen, Schocks und Katastrophen geschmeidig „zurückzufedern“, also rasch wieder in einen unbeschädigten Zustand zurückzukehren. Das Konzept stammt bereits aus dem 19. Jahrhundert, wird aber erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts in größerem Stil bedeutsam, und zwar in zwei parallelen und sehr unterschiedlichen Zuschnitten: einerseits als psychologisches Konzept, das erklären will, warum manche Menschen besser mit schwierigen Lebensumständen klarkommen als andere, und andererseits als neues Paradigma der Ökosystemtheorie, dem zufolge Schocks und Störungen dazu beitragen können, Wachstum und letztlich auch Stabilität von Ökosystemen zu fördern. Die gemeinsame Schnittmenge beider Perspektiven liegt im Begriff der Adaption: Resilient ist, wer oder was in der Lage ist, sich konstruktiv auf unvorhergesehene, belastende oder sogar existenzbedrohende Umstände einzustellen. Im Alltag prominent ist Resilienz dabei vor allem in ihrer psychologischen Dimension. Egal, ob Coronapandemie, Arbeitsstress oder Zukunftsangst: Alles lässt sich, so jedenfalls das Versprechen, mit Resilienz besser bewältigen.

KRITISCHE THEORIE
im engeren Sinne ist die Bezeichnung für die sogenannte Frankfurter Schule, also das Projekt einer interdisziplinären, philosophisch geleiteten, kritischen Gesellschaftstheorie, wie es am 1923 gegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung betrieben worden ist. „Kritisch“ ist diese von Marx, Hegel, Freud und Max Weber inspirierte Theorie, insofern sie der von ihr so bezeichneten traditionellen Theorie vorwirft, eine geschichtslose, angeblich wertfreie Wissenschaft zu betreiben und – vor allem anderen – einen instrumentellen, nur auf die Lösung bestimmter Zwecke reduzierten Vernunftbegriff zu verabsolutieren. Zu den bekanntesten Vertretern der frühen Kritischen Theorie gehören Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Walter Benjamin und Erich Fromm.

Systemerhalt durch Adaption

Glaubt man der einschlägigen Ratgeberliteratur, dann heben sich resiliente Menschen durch ihre emotionale Flexibilität in Stresssituationen von ihren weniger resilienten Mitmenschen ab; sie können emotionale Zustände situativ passgenau justieren und akzeptieren die Welt, wie sie ist. Belastung, Stress und Traumata sind dieser Perspektive zufolge letztlich unvermeidlich, aber die Grenzen der Belastbarkeit sollen mithilfe psychologischen Trainings individuell erweiterbar sein. Wo von Resilienz die Rede ist, wird den Einzelnen also eine erstaunliche Macht zugeschrieben – nämlich die Fähigkeit, ihr Leben auch in einer radikal unsicheren oder sogar katastrophalen Welt immer noch optimal zu gestalten. In den Hintergrund tritt dabei regelmäßig die Frage nach den Ursachen und der Verantwortung für Krisen und Katastrophen – durch den menschengemachten Klimawandel erzeugte Flut- oder Feuerkatastrophen, aber auch Rassismus, Krieg oder Armut erscheinen als Schicksalsschläge, an denen man zerbrechen oder aber wachsen und stärker werden kann.

Resilienz zielt grundsätzlich nicht auf Systemumbau, sondern auf Systemerhalt. In diesem Sinne ist es trotz der immer wieder betonten Notwendigkeit von Wandel, Transformation und Flexibilität ein konservatives Konzept: Systeme oder Menschen sollen sich so verändern, dass ihre Kernidentität stabil bleibt. Gesellschaftliche Verhältnisse wie Machtbeziehungen, Interessengegensätze, Ausbeutung und Ungleichheit erscheinen im Resilienzdiskurs andererseits als Umweltbedingungen, die sich ebenso wenig willentlich ändern lassen wie der Ablauf der Jahreszeiten. Ändern oder verbessern lässt sich aber der Umgang mit und in diesen Verhältnissen.

Alles in allem ist Resilienz ein Krisenkonzept, das Handlungsfähigkeit in der sich zuspitzenden ökologisch-politisch-sozial-ökonomischen Vielfachkrise verspricht – und damit zugleich ein Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts, so der Soziologe Ulrich Bröckling. Man könnte auch sagen: Resilienz ist so etwas wie ein normativer Haltegriff im neoliberalen Krisenkapitalismus der Gegenwart. Als resilient erweist sich dabei allerdings vor allem der Kapitalismus selbst. Auch das neoliberale Mantra, wonach Krisen vor allem Chancen darstellen – jedenfalls für diejenigen, die es schaffen, ihr mindset konsequent auf Erfolg zu trimmen – ist für die Denkfigur der Resilienz grundlegend. Entsprechend wird Betroffenen von Flutkatastrophen im Namen von Resilienz beispielsweise dazu geraten, doch einmal die Blickrichtung zu ändern: Wer weiß, vielleicht findet sich ja in den Trümmern des eigenen Hauses der Ausgangspunkt für ein neues und erfolgreicheres Leben. Während sich also auf der einen Seite abzeichnet, dass ökologisch, pandemisch oder ökonomisch bedingte Ausnahmezustände immer mehr zur Regel werden, werden wir im Namen der Resilienz auf der anderen Seite dazu aufgefordert, psychologisch robuster zu werden und uns flexibel den wechselnden Krisenlagen anzupassen.

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Jenseits der Moderne?

Resilienz zu kritisieren, heißt nun nicht, die Notwendigkeit von Krisenprävention und Anpassungsmaßnahmen, etwa an den Klimawandel, abzustreiten. Es ist sicherlich sinnvoll zu überlegen, ob Baugenehmigungen in Flusslagen weiterhin erteilt werden sollten. Auch die Frage nach psychologischer Resilienz ist nicht grundsätzlich falsch. Niemand wünscht sich, schlecht durch eine Krise zu kommen oder gar traumatisiert zu werden. Wird Resilienz jedoch zu einem allgemeinen Leitbild und Handlungsideal, dann werden Krisen und Katastrophen immer mehr zum unvermeidlichen Normalzustand erklärt, an den es sich vor allem und in erster Linie besser anzupassen gilt. Und das heißt auch: Wo von Resilienz die Rede ist, treten normative Grundsätze wie Demokratie, Gleichheit oder (Klima-)Gerechtigkeit gegenüber der Maxime einer kurzfristigen Verhinderung von (noch) Schlimmerem tendenziell in den Hintergrund.

Und wie steht es nun mit der Vernunft? Klügere Konzepte von Resilienz zielen tatsächlich auf einen Abschied von der Hybris der Moderne, dem pathologischen Wachstumsstreben und der Ideologie der endlosen, mithilfe von Technologie und Wirtschaftswachstum zu erreichenden Naturbeherrschung. Jedoch bleiben auch diese Ansätze, solange sie Resilienz als Zielhorizont propagieren, zwangsläufig in einem Widerspruch verfangen: Ein Konzept, das konstitutiv auf Systemerhalt zielt, eignet sich kaum dazu, einen radikalen Systemwandel voranzutreiben.

Obwohl also solche Vernunftkritik berechtigt ist, darf man aber die andere Seite der Aufklärung nicht aus dem Blick verlieren. Denn der rücksichtslose technokratische Rationalismus der bürgerlichen Industriegesellschaft ist ja nicht die ganze Geschichte der Moderne oder der Vernunft. Zu dieser Geschichte gehört auch das Volk von Paris, das die Bastille stürmte, oder die Frauen, die für die Gleichheit aller Menschen jenseits ihres angeblichen biologischen Schicksals fochten, oder die Versklavten in den Kolonien, die im Kampf um das grundlegende Recht, sich selbst zu gehören, ihr Leben riskierten. Mit dem dystopischen Realismus, der der zeitgenössische Denkfigur der Resilienz zugrunde liegt, hatten diese tatsächlich aufklärerischen Bewegungen und Menschen allesamt nichts am Hut. Ihnen ging es um eine bessere, eine radikal andere Welt, und sie waren trotz ihrer jeweils objektiv vollkommen aussichtslosen Lage zutiefst davon überzeugt, dass diese möglich ist und möglich bleiben muss.

Kritische Vernunft

Freilich: Im Angesicht von Pandemie und Klimakatastrophe liegt der Gedanke an Kampf und Revolution fern – oder er wird gefährlicherweise sogar von Leuten befeuert, deren Vernunftfähigkeit dringend bezweifelt werden muss. Die Lösung für das Dilemma der (un-)vernünftigen Moderne, das wusste schon die Kritische Theorie, kann aber weder Irrationalität noch die pragmatische Beschränkung auf das Notwendige sein. Sie liegt in der Verbindung aus kritischer Vernunft und Verantwortung. Und dabei geht es um mehr als bloß um das Training der selbstverantwortlichen Krisenfestigkeit. Es ist völlig okay und manchmal notwendig, das Radio auszuschalten. Eine generalisierte Handlungsorientierung lässt sich daraus aber nicht ableiten. Resilienz und kritische Vernunft sind nicht dasselbe. Wir sollten ihre Differenz deshalb nicht kleinreden, sondern im Blick behalten.

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 1/2022 AUFKLÄRUNG in der Rubrik TERRAIN erschienen.
Stefanie Graefe forscht und lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Feld der Politischen Soziologie. Besonders interessiert sie sich dafür, wie die aktuelle gesellschaftliche Umbruchsituation unsere Vorstellungen vom guten Leben und von uns selbst verändert. 2019 erschien ihr Buch Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassung (transcript Verlag).
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