STOPP Reichtumsstreben | Christian Neuhäuser

SchließfächerFoto: Jason Pofahl | unsplash

 

STOPP Reichtumsstreben

Text: Christian Neuhäuser

Reichtum ist es etwas Gutes. So scheint es zumindest. Wer will denn nicht reich sein? Reich an Glück beispielsweise. Reich an Freunden, an Liebe, an Gesundheit und natürlich auch an Geld. Geld ist zwar nicht so wichtig wie die anderen Dinge, aber es eröffnet doch Tür und Tor zu wirtschaftlichen Aktivitäten, einem angenehmen Leben und allen möglichen Abenteuern. Warum also sollte man Reichtum mit einem Stoppzeichen versehen?

Reichtum zu stoppen, das klingt zunächst seltsam, wenn nicht sogar ziemlich verschroben. Etwas anders ist es allerdings, wenn man das Stoppschild vor das Reichtumsstreben ganzer Gesellschaften bzw. die Gier nach mehr hält. Da klingt es plötzlich gar nicht mehr so absurd, dem Einhalt gebieten zu wollen.

Tatsächlich wäre also Reichtum per se nicht das Problem – wenn Reichtum nicht mit dem zusammenhängen würde, was ihn erst entstehen lässt: ein sonderbares Reichtumsstreben ganzer Gesellschaften, das schon längst über das Ziel hinausgeschossen ist. Vor 250 Jahren war es eine gute Idee, das Geld als Kapital zum Treibstoff des Wirtschaftsmotors zu machen, um so gewaltige Produktivkräfte freizusetzen. Das hat zumindest einem Teil der Welt erheblichen Wohlstand gebracht, wenn auch immer wieder auf sehr ungleich verteilte Weise und auf Kosten benachteiligter Gruppen. In den reichen Ländern mussten die Arbeiter*innen lange unter unwürdigen Bedingungen den Wirtschaftsmotor am Laufen halten. Frauen wurden unter höchst unfairen Bedingungen dazu genötigt, die gesamte Reproduktionsarbeit zu verrichten. Kolonialismus und unfairer Welthandel haben zu diesen unwürdigen Wirtschaftsformen beigetragen und halten sie bis in die Gegenwart aufrecht.

Überwunden ist das alles also noch nicht und wiedergutgemacht schon gar nicht. Aber unabhängig davon könnte man meinen, es wäre im Prinzip möglich, das Streben unserer Gesellschaften nach immer mehr Reichtum auf faire Weise zu gestalten. Warum sollte man es dann stoppen? Man könnte doch einfach zwischen Reichtumsgier und Reichtumsstreben unterscheiden. Reichtumsgier wäre dann verwerflich, weil hier keine Rücksicht auf Verluste genommen wird. Ein ausgewogenes Reichtumsstreben orientiert sich jedoch an den Bedingungen der Fairness. Solch ein faires Streben nach Reichtum wäre demnach unproblematisch und sogar zu begrüßen.

Fünf Gründe gegen Reichtumsstreben

Ich glaube aber nicht, dass das funktioniert. Denn das Problem mit dem Reichtum geht tiefer. Es gibt mindestens fünf Gründe, warum wir ernsthaft darüber nachdenken sollten, Reichtum ganz grundsätzlich kritisch zu betrachten. Vielleicht ist ja eine Idee, die vor 250 Jahren einmal gut erschien, inzwischen überholt. Denn – erstens – ist das Reichtumsstreben der ohnehin schon ziemlich reichen Länder des globalen Nordens alles andere als nachhaltig. Das gilt auch für Länder wie Deutschland, Österreich und die Schweiz. Zwar gibt es immer noch Technikenthusiasten, die darauf beharren, Klimawende und Umweltschutz seien allein durch technische Erneuerungen erreichbar. Aber sie vernachlässigen, dass sie dabei derselben den Reichtum maximierenden Logik folgen, die die Menschheit überhaupt erst an den Rand des Zusammenbruchs geführt hat. Wenn wir zukünftigen Generationen eine lebenswerte Welt erhalten und den bereits schon eintretenden Klimawandel insbesondere für die ärmsten Menschen auf ein erträgliches Maß reduzieren wollen, dann müssen wir endlich wegkommen von einer Wirtschaft, deren Sinn in der Produktion nur der Reichtumsmehrung und in der Konsumption nur der Zurschaustellung von Reichtum liegt. Stattdessen sind Bescheidenheit und Verzicht gefordert, um wirklich die notwendigen Ressourcen für eine echte grüne Wende versammeln und einsetzen zu können. Der ewige Verteilungskampf unserer Reichtumsgesellschaft macht das unmöglich. Der gute Wille vergeht im politischen Geschachere.

 

Das Reichtumsstreben unterläuft – zweitens – die Demokratie. Es führt dazu, Wirtschaft wie einen sportlichen Wettbewerb zu denken, bei dem es nur wenige Sieger*innen und viele Verlierer*innen gibt. Allerdings ist das ein sehr unfairer Wettbewerb. Denn die wenigen Sieger*innen können riesige Gewinne einfahren, die ihnen für den nächsten Wettkampf einen fast uneinholbaren Vorsprung verschaffen. Auf diese Weise kommt es zu einer enormen Reichtumskonzentration, wie wir ihn in der Digitalwirtschaft im Zeitraffer miterleben können. Die kleine Gruppe der wenigen Superreichen hat natürlich ein großes Interesse an einem politischen System, das ihnen in die Hände spielt, und sie nutzen ihren Reichtum entsprechend, um auf Politik direkt Einfluss zu nehmen.

Wahlkampfspenden sind dabei fast unerheblich; viel effektivere Mittel sind Verbände, Think Tanks und vor allem der Drehtüren-Lobbyismus. Mit den USA geht in dieser Sache die älteste Demokratie der Welt leider mit schlechtem Beispiel voran. Im Capitol sitzen Versammlungen von einigen Hundert Reichen, die allzu oft den Eindruck erwecken, die Handlanger von Superreichen zu sein. Wenn Europa hier nicht dem amerikanischen Weg folgen will, dann muss es den auch hier immer sichtbarer werdenden Einfluss des Reichtums auf die Politik stoppen. Der einzig sichere Weg dazu besteht darin, Superreichtum zu verhindern.

 

Das dritte Argument mag auf den ersten Blick überraschen. Es ist nämlich wirtschaftsbasiert. Reichtumsstreben in einer ungezügelten Konkurrenzwirtschaft führt zu einer Reichtumskonzentration, die die freie Marktwirtschaft unterläuft. Eine freie Marktwirtschaft ist nicht bereits dann frei, wenn es keine willkürlichen staatlichen Eingriffe gibt. Sie muss auch frei sein von mächtigen und ultrareichen Wirtschaftsakteuren, die alle anderen dominieren können. Deren Marktmacht führt zu massiven Verwerfungen an den Finanzmärkten und zum Innovationsstau in anderen Bereichen, weil Marktzugänge systematisch versperrt werden. Es ist pure Ideologie, dies zu leugnen. Das wäre gerade so, als würde man in Regionen schwacher Staatlichkeit aus Angst vor dem Staat die Augen vor mafiöser Bandenkriminalität verschließen.

Auf der einen Seite muss die staatliche Regulierung so ausfallen, dass sie das freie Wirtschaftsgeschehen nicht unterläuft. Auf der anderen Seite muss sie aber für stabile Finanzmärkte sorgen und die Marktzugänge offenhalten, damit möglichst viele Menschen sich unternehmerisch betätigen können. Das würde den Mut und wirtschaftlichen Geist dieser Menschen wecken. Es wäre also ein Programm zugleich für Innovation, Aufschwung und mehr wirtschaftliche Teilhabe. Das beste Mittel dazu ist wieder ein Reichtumsstopp, um die konzentrierte Macht einiger ultrareicher Wirtschaftsakteure zu brechen, die die freie Marktwirtschaft unterlaufen.

 

Viertens ist Reichtum generell mit dem moralischen Anspruch, sich gegenseitig als gleichwertige Individuen zu achten, nicht vereinbar. Reiche Gesellschaften mit sehr großer Ungleichheit zeichnen sich durch Statushierarchien aus, die dazu führen, dass Gruppen, die sich für höherrangig halten, den als untergeordnet wahrgenommenen Gruppen mit Missachtung oder sogar Verachtung begegnen. Das muss nicht notwendigerweise so sein. Man kann sich durchaus eine Gesellschaft vorstellen, in der Menschen über ein ganz unterschiedliches Vermögen oder Einkommen verfügen, sich aber trotzdem wechselseitig als gleichrangige Gesellschaftsmitglieder achten. Aber so ist es in Gesellschaften mit Reichtumsstreben nicht. Denn dort müssen Menschen dazu motiviert werden, immer mehr Dinge zu kaufen, die sie eigentlich nicht brauchen. Nur dann bleibt die Produktions- und Wachstumsmaschinerie in Gang. Das beste Mittel dafür sind an Geld gekoppelte Statushierarchien und entsprechende Statuskämpfe.

Manchmal wird argumentiert, dass wir diese Art von Statuskämpfen hinter uns gelassen hätten. Wer will denn noch teure Autos oder Designerklamotten kaufen, wird dann gefragt. Doch dieser Einwand unterschätzt, wie viele Menschen das immer noch tun. Außerdem unterschätzt er, dass viele Statuskämpfe subtiler sind und beispielsweise auf den Wohnungs-, Lebensmittel- oder bald wieder Reisemärkten stattfinden. Dort ist durchaus eine weiterhin große und sogar zunehmende Ausdifferenzierung des Statuskonsums zu beobachten. Nur ein Stopp des Reichtumsstrebens kann diese für liberale Gesellschaften fatale Erosion der gleichen Achtung erreichen. Nur so ist eine Entkoppelung von Geld, Status, Hierarchien und Verachtung möglich. Und das brauchen wir dringend, denn ansonsten droht ein Voranschreiten des bereits begonnenen Zerfalls in sich feindlich gegenüberstehende soziale Gruppen und das Ende des friedlichen Zusammenlebens.

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Es ist fünftens so, dass Reichtumsstreben wohl mit den meisten Vorstellungen von einem gelingenden Leben unvereinbar ist. Ich zögere bei diesem Argument ein wenig, weil man ja alle Menschen nach ihrer eigenen Vorstellung glücklich werden lassen sollte. Dieses Argument hat also eher den Charakter eines Ratschlages. Es ist nämlich sehr unwahrscheinlich, dass Reichtumsstreben zu einem gelingenden Leben führt. Die literarischen Beispiele dafür sind Legion. Dort streben Menschen danach, reich und immer reicher zu werden. Sie vergessen darüber alle anderen wichtige Dinge im Leben, seien es geliebte Menschen, Gelassenheit und Ruhe, wertvolle Freizeitbeschäftigung, die schönen Künste und der Lebensgenuss, der Einsatz für Moral und Gerechtigkeit oder sei es der Wunsch, etwas von dauerhaftem Wert zu schaffen. All das zählt nichts oder nur insofern es in einem Zusammenhang zu Reichtum steht. Irgendwann merken sie dann, dass sie verfehlt haben, um was es im Leben wirklich geht: gut mit anderen Menschen zusammenzuleben.

Dagegen ließe sich einwenden, dass Reichtum ja nicht unbedingt diesen Verdrängungseffekt haben muss. Es gibt doch auch sehr reiche Menschen, die trotzdem nette Leute sind und beeindruckende Dinge tun. Das stimmt sicherlich. Aber diese Menschen sind dann gewissermaßen immun gegenüber den Verführungen des Reichtums. Sie haben ihn oft auf zufällige Weise erlangt, aber er bedeutet ihnen nicht wirklich etwas. Beim gesellschaftlich organisierten Reichtumsstreben ist das anders. Hier entsteht eine Kultur des Immermehrhabenwollens, der viele Menschen verfallen. Bei allen Gelegenheiten bekommen sie vermittelt, dass diese oder jene Produkte und überhaupt nur ein sehr exquisiter Lebensstil ein wahrlich gutes Leben ermöglichen. Das produziert eine soziale Motivationsstruktur, in der immer mehr Menschen nach immer mehr Reichtum streben. So entsteht eine kollektive Gierkultur, die dem guten Zusammenleben nicht sonderlich zuträglich ist.

Ungebremst in die Sackgasse?

Wenn das alles stimmt, wenn die fünf genannten Gründe wirklich so sehr gegen Reichtum und vor allem gegen ein gesellschaftliches Reichtumsstreben sprechen, dann gibt es reichlich Grund, diesen gesellschaftlich schädlichen Reichtum mit einem Stoppschild zu versehen. Leider wäre das aber wohl ein Stoppschild, das von den allermeisten Menschen missachtet werden würde. Zu tief ist uns das Streben nach immer mehr in unsere gesellschaftliche Existenz eingeschrieben. Einzig die in der Klimabewegung aktiven – insbesondere jungen – Leute machen Mut, dass sie es ernst damit meinen, sich diese Ketten abstreifen zu wollen.

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 2/2021 STOPP! NEUSTART in der Rubrik TERRAIN erschienen. Darin werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
Christian Neuhäuser
Christian Neuhäuser ist Professor für Philosophie und geschäftsführender Direktor des Instituts für Philosophie und Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund. Zum Thema von ihm erschienen: Reichtum als moralisches Problem (Suhrkamp Verlag, 2018).
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