Stoppt das Arten- und Höfesterben! | Jutta Sundermann und Leonie Steinherr

AckerschlepperFoto: James Baltz | Unsplash

 

Stoppt das Arten- und Höfesterben!

Text: Jutta Sundermann & Leonie Steinherr

Es sterben nicht nur die Arten aus, sondern auch die Höfe, auf denen eine nachhaltige Landwirtschaft betrieben werden kann. Nachhaltiger Konsum ist das eine. Darüber hinaus muss den Bäuer*innen die angemessene Wertschätzung entgegengebracht werden und die Verbraucher*innen müssen sie dabei unterstützen, den notwendigen landwirtschaftspolitischen Rahmen durchzusetzen.

Biolog*innen schlagen Alarm: In ihren Fangbehältern findet sich nur noch ein Bruchteil der früher üblichen Masse an Insekten. Studien zeigen, dass auch die Zahl der nachweisbaren Insektenarten massiv zurückgeht. Gleichzeitig steigen im ganzen Land Tausende Landwirt*innen auf ihre Traktoren und fahren in die Hauptstadt, um vor Ministerien zu protestieren oder die Zentrallager der großen Supermärkte zu blockieren. Die deutschen Bäuer*innen sind wütend und verzweifelt: Sie zahlen oft auf ihre Produkte drauf und finden keine Nachfolge für ihre Betriebe. Jeden Tag werden allein in Deutschland zehn Bauernhöfe aufgeben. Beide Probleme, das Arten- und das Höfesterben, sind Teil derselben Entwicklung und müssen zusammen bekämpft werden. 

Das Artensterben und die Landwirtschaft

Der Biodiversitätsrat der Vereinten Nationen spricht vom sechsten Massensterben der Erdgeschichte und warnt davor, dass wir ohne zügiges und konsequentes Gegensteuern bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten für immer verlieren werden. Das ist eine katastrophale Aussicht, denn das Verschwinden einer einzigen Art wirkt sich negativ auf die Überlebenschancen aller anderen Arten aus. Wir stecken in einem Teufelskreis: Auf der einen Seite führt die zunehmende Erderhitzung mit all ihren Folgeerscheinungen – für Menschen zunehmend unbewohnbare Lebensräume, sich häufende Wetterextreme wie Trockenheit, Überschwemmungen oder starke Temperaturschwankungen – zu einem Verlust der Artenvielfalt. Auf der anderen Seite sind wir mehr denn je auf die Artenvielfalt angewiesen, weil nur ein breiter Genpool die Pflanzen und Lebewesen hervorbringt, die den klimabedingten Extrembedingungen einigermaßen standhalten können.

Das Bundesumweltministerium nennt neben dem Klimawandel vier weitere Hauptgründe für das Artensterben: die Beschneidung und Zerstörung natürlicher Lebensräume von Wildtieren, die Übernutzung und die Verschmutzung von Land sowie die Verdrängung einheimischer durch eingeschleppte, durchsetzungsfähigere Arten.

Die Landwirtschaft spielt hierbei nicht die einzige, aber eine zentrale Rolle. Seit Jahren wächst die Größe der Felder für den Ackerbau derart, dass sie für immer mehr Pflanzen- und Tierarten (beispielsweise Wildbienen) zu unüberwindbaren Barrieren werden. Die intensive, von Monokulturen geprägte Nutzung der Böden entzieht den Kleinstlebewesen ihren Lebensraum; für die Rinderhaltung und den Anbau von Soja, der dann als Tierfutter nach Deutschland und Europa exportiert wird, werden die extrem artenreichen Urwälder in Südamerika und anderswo gerodet; die Zusammenballung der tierhaltenden Betriebe, wie sie hierzulande vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen vorkommt, sorgt für steigende Mengen von Gülle, die die ökologischen Systeme überfordern und nicht nur das Grundwasser gefährden, sondern auch stehende und fließende Gewässer bis hin zu den Meeren.

Neben der Gülle kommen auch zu viele und an Nebenwirkungen reiche Pestizide zum Einsatz. Die Gifte wandern durch die Nahrungskette und sind nicht nur bei vielen Wildtieren, sondern auch beim Menschen im Blut und/oder Urin nachweisbar. Einige von ihnen wirken in geringer Dosierung hormonartig, andere verursachen Krebs. Manche Wirkstoffe rauben Insekten ihr Orientierungsvermögen.

Das Höfesterben geht uns alle an

Doch wir verlieren derzeit nicht nur ein Vielzahl von Insekten-, Vögel- und Wildpflanzenarten, sondern jedes Jahr auch Tausende Bauernhöfe. Die Arbeit auf dem Land ist hart, auch wenn immer aufwendigere Maschinen sie etwas erleichtern. Tierhalter*innen haben eine Sieben-Tage-Woche, Urlaub ist nur möglich, wenn eine Stellvertretung auf dem Hof organisiert werden kann, was nur selten der Fall ist. Zudem schwindet die gesellschaftliche Akzeptanz für die konventionelle Landwirtschaft und nicht selten werden die Bäuer*innen für die Missstände verantwortlich gemacht. Diese Rahmenbedingungen machen die Berufswahl zunehmend unattraktiv. Junge Menschen verzichten auf die Übernahme des elterlichen Betriebes, Quereinsteiger*innen haben es schwer. EU-weit werden nur noch sechs Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe von Menschen unter 35 Jahren betrieben.

Mit den Höfen verschwindet aber viel mehr, als eine Statistik ausdrücken kann: Es endet ein oft über viele Generationen weitergegebener Familienbetrieb, mit entsprechenden Auswirkungen auf das Leben auf dem Land, die dortige Infrastruktur und Dorfkultur. Wo der oder die letzte Betriebsleiter*in den Hof aufgibt, übernehmen fast immer größere Betriebe das Land, stocken auf ihrem Hof die Tierzahl auf und bauen häufig größere Ställe außerhalb der Dörfer. Dadurch geraten die Tiere wortwörtlich immer mehr aus dem Blick der Menschen.

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Schlecht beraten

Über Jahre hinweg wiederholten der Bauernverband und die Landberatung gebetsmühlenartig, dass die Zukunftsfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe hohe Investitionen in Spezialisierung und Rationalisierung erfordere – sowohl im Ackerbau als auch bei der Tierhaltung. Die so beratenen Betriebe nahmen zunehmend den Export in den Blick, in der Hoffnung, durch einen breiteren Absatzmarkt größere Einnahmen zu erzielen.

Diese Strategie ist in mehrfacher Hinsicht fatal: Die Trockenlegung von Mooren zum Zweck der landwirtschaftlichen Nutzung setzt eine große Menge von klimaschädlichem Methan und Lachgas frei; gleiches gilt für die Haltung von Millionen von Tieren und die energieintensive Herstellung von Kunstdünger. All dies heizt den Klimawandel an. Überdies wirft die hochindustrialisierte Tierhaltung ethische Fragen auf, da sie Tieren erhebliches Leid zufügt. Schon die Züchtung stellt die Tiergesundheit hintan, Enge, Langeweile und schlechte Luft machen Aufzucht und Haltung für viele Tiere zur Qual, die sich in stunden- oder tagelangen Tiertransporten und bei der Schlachtung noch fortsetzt.

Wer nicht mitmachen wollte oder konnte beim Wachsen und Investieren, hat in den meisten Fällen früher oder später die Hoftüren für immer schließen und sein Land verkaufen müssen. Sehr viele andere brachte die kapitalintensive „Modernisierung“ in Abhängigkeit von Banken und Investor*innen. Sie nahmen Kredite mit Laufzeiten von bis zu 50 Jahren auf und so lasten heute Schulden auf ihnen, die nicht in einer Generation abzuarbeiten sind.

Derweil gingen die Verheißungen und Business-Pläne nicht auf. Die Preise für Fleisch- oder Milchprodukte liegen nach wie vor häufig unter den Kosten für ihre Erzeugung und auch die Ackerfrüchte bringen in manchen Jahren zu geringe Einnahmen, um den Betrieb auf Dauer tragfähig zu halten.

Nach Jahrzehnten der Billigpreispolitik erfahren die traditionellen bäuerlichen Tätigkeiten keine Wertschätzung mehr. Ausgeklügelte Fruchtfolgen, extensive Bewirtschaftung, Bodenaufbau, Kreislaufwirtschaft, technisches Improvisationsgeschick oder tiergerechtere Haltungssysteme sind zeitaufwendig und kurzfristig oft nicht lukrativ. Wonach der Lebensmittelhandel und die verarbeitende Industrie fragen, sind Niedrigstpreise und industrielle Verwertbarkeit.

Dieser Logik können sich auch Biobetriebe nicht ganz entziehen. Zwar erzielen sie bei vielen Produkten deutlich höhere Preise als konventionelle Betriebe, doch auch sie sehen sich zunehmend einer harten Konkurrenz von billigeren Importprodukten gegenüber. Auch im Biosegment nehmen Größe und Gleichförmigkeit der Biofelder seit Jahren stetig zu und die Mega-Gewächshäuser, etwa im Süden Spaniens, erfüllen nur noch das Minimum der Biokriterien, was wiederum zulasten der Artenvielfalt, aber auch der Arbeitsbedingungen geht. So haben für manches Produkt mit billigem Bio-Label aus dem Supermarkt oder der Drogerie rechtlose Migrant*innen geschuftet.

Verantwortung übernehmen

Die Umstellung von Höfen auf Biobetrieb und die Entscheidung von Konsument*innen für den Kauf ökologischer Lebensmittel werden allein nicht ausreichen, um das Überleben von landwirtschaftlichen Betrieben und die Artenvielfalt nachhaltig zu sichern. Wir müssen an der Billiglogik rütteln, die Agrar- und Handelspolitik neu denken und soziale wie ökologische Leistungen von Betrieben endlich angemessen wertschätzen. Dafür müssen Bäuer*innen und Verbraucher*innen zusammen kommen, denn nur gemeinsam können sie Parlamente und Ministerien dazu bringen, ihre Agrarpolitik nicht länger allein an den Vorstellungen der agrarindustriellen Lobby auszurichten.

2021 könnte entscheidend sein für die Zukunft der Landwirtschaft: Im Laufe des Jahres sind wichtige Entscheidungen zu erwarten, wie etwa jene zur europäischen Agrarförderung oder zu Perspektiven der Tierhaltung samt Einführung einer Tierwohlabgabe, wie es eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission vorschlägt; die sogenannte „Zukunftskommission Landwirtschaft“ will im Sommer ihre Ergebnisse vorlegen. Auch um das Insektenschutzprogramm der Regierung wird heftig gerungen. Und im Herbst wird eine neue Bundesregierung gewählt.

Eines sollte uns dabei klar sein: Das Arten- und Höfesterben kann nur gestoppt werden, wenn wir beides zusammendenken.

Dieser Beitrag ist in Ausgabe 2/2021 STOPP! NEUSTART erschienen.
Jutta Sundermann
Jutta Sundermann gründete 2000 das globalisierungskritische Netzwerk Attac in Deutschland mit und 2014 den Verein Aktion Agrar. Sie organisiert Kampagnen für Artenvielfalt, Klimaschutz sowie bäuerliche Landwirtschaft und lebt als freie Publizistin und Imkerin in einer Hofgemeinschaft in Niedersachsen.
Leonie Steinherr
Leonie Steinherr setzt sich politisch bei Aktion Agrar, wissenschaftlich an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde und praktisch als Obst- und Gemüsegärtnerin für eine zukunftsfähige, faire und ökologische Landwirtschaft ein.
Empfehlungen der Autorinnen:
SACH-/FACHBUCH
Agrarbündnis (Hg.): Der Kritische Agrarbericht 2021 (ABL Verlag, 2021)
Dave Goulson: Und sie fliegt doch: Eine kurze Geschichte der Hummel (List Verlag, 2014)
Felix zu Löwenstein: FOOD CRASH: Wir werden uns ökologisch ernähren oder gar nicht mehr (Pattloch Verlag, 2011)
ROMAN:
Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen (btb Verlag, 2017)
FILM:
10 Milliarden – wie werden wir alle satt von Valentin Thurn (2015)
Unsere große kleine Farm von John Chester (2018)

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